Guyana | Nummer 417 - März 2009

Standortverschiebung an das Ende der Welt

Ein Goldgräber aus Guyana stellt seine Lebensphilosphie vor

In weiten Teilen Europas sind viele Lebens‑
bereiche festgefügten, kodifizierten Regeln unterworfen, was notgedrungen einhergeht mit dem Verlust individueller Entscheidungsgewalt und Verantwortung. Gleichzeitig besteht jedoch die Gewissheit, dass der Staat hilft, wenn er gebraucht wird. In Südamerikas sogenannten Rand- und Grenzregionen, zu denen insbesondere Amazonien zählt, werden hingegen Gesetze nicht, nur unzureichend oder zeitweilig (im Rahmen von Kampagnen) durchgesetzt. Im Amazonasanrainer Guyana hatte der Staat von jeher eine schwache Position inne; Mechanismen der Selbsthilfe bilden daher nicht nur einen wesentlichen Bestandteil der nationalen Psyche, sondern wurden seit den späten 1960er Jahren sogar von Regierungsseite propagiert. Im Interior (dem weitgehend infrastrukturlosen Hinterland) und selbst in der Hauptstadt Georgetown erscheint ein Überleben ohne aktive Selbsthilfe kaum durchführbar. In den folgenden, dem neuen Guyana-Buchprojekt Im Banne des Kumaka-Dschungels entnommenen Auszügen stellt der im Interior operierende 50jährige Goldgräber Bosscross seine Sicht der Dinge dar.

Ingolf Bruckner

Bossman Bosscross fasst Solex am Arm und zieht sein Handgelenk zu Sadam herüber, damit er Solex’ Uhr sieht: „Broddahman, schau dir seine Uhr an, er hat sie sich mit einem Draht um den Arm gebunden. Das nenne ich Selbsthilfe, Solex, wahre Selbsthilfe! Beim Schweißen flog ein Funke auf sein Kautschukarmband und verbrannte es, und nun hat er keins. Aber wenn du meinst, Solex käme auf die Idee, den Dschungel hier oben zu verlassen und sich ein neues Armband für die Uhr zu kaufen, dann kennst du den buddy noch nicht richtig. Broddahman, ich sage dir, Solex hat Angst, er hat die Hosen voll bis oben, runter zu fahren an die Küste, hinein in die chaotischen Niederungen menschlicher Begierden und Triebe! Ich muss alles kaufen für ihn, Batterien für seine Uhr, Gläser für seine zerbrochene Lesebrille, sogar seine Unterhosen – er schafft es nicht allein!
Lieber bleibt er hier und versucht, sich selbst zu behelfen mit dem wenigen, was er kann, und was er hat, und wickelt sich Draht um den Arm. Er hat nie gelernt, irgendwas zu verkaufen, zu kaufen, zu handeln, Geschäfte zu treiben und zu durchschauen. Aber im Leben muss man flexibel sein oder nicht?, nur die Besten überleben, die Fittesten, die vieles und möglichst alles, was es gibt, können und wissen und keine Angst haben davor, es auch anzuwenden. Sadam, Solex, Ah taakin to yuh, ich rede mit euch, wir Guyaner, wir alle, lernen doch von früh an, uns selbst zu helfen, wir könnten es uns niemals leisten, nur einen einzigen Beruf auszuüben wie die Leute in Europa oder Amerika oder sonstwo, das ist nicht genug, und das wisst ihr besser als ich. Der Schöpfer hat uns gemacht, damit wir viele viele Aufgaben und Lektionen meistern. Ich bin Gold- und Diamantengräber – und zugleich Geschäftsmann, Händler, Buchhalter, Mechaniker, Schweißer, Elektriker und Maurer. Und nun ein Beispiel: Irgendwann in den 80er-Jahren sitze ich in Georgetown mit meinem Bruder im Auto.
Das Auto gehört Burnhams Partei, dem Nationalen Volkskongress. Es ist ein Regierungsfahrzeug, und mein Bruder der Chauffeur. Aber er hat auch noch einen anderen Beruf: Er ist Schmuggler und belädt das Auto im Hafen mit banned stock: illegalen Gütern, die der Dampfer aus dem Nordwesten [eine Region in Guyana] gebracht hat. Das ist kein Problem: Alle Hafenpolizisten bekommen ihren kleinen Anteil. Mitten in Georgetown aber, auf der North Road, bemerken wir – irgendwas stimmt nicht mit dem Motor! Und gnade uns Gott: Der Kofferraum ist bis oben voll mit Milchpulver aus Venezuela und marmite [Bierhefe-Extrakt, ein beliebter Brotaufstrich] aus Trinidad und allen möglichen verbotenen Produkten, ein kleines Vermögen steckt drin in der Ladung!
Mein Bruder ist zwar Schmuggler und Chauffeur, aber kein Mechaniker. Und Nerven hat er auch keine. Und die Polizisten in Georgetown sind schnell präsent, wenn sie ein zusammengebrochenes Regierungsfahrzeug sichten. Und sind bekannt dafür, nicht zimperlich zu sein; sie alle haben Mäuler zu stopfen, kleine niedliche hungrige Kindermäuler. Doch kein Grund zur Panik: Ich bin ja nicht nur Minenmann, sondern verstehe auch was von Motoren. Also steige ich aus, ich bewahre Ruhe, ich repariere den Schaden im Handumdrehen, doch schon sind vier Polizisten auf Fahrrädern da: ‚Sollen wir helfen? Habt ihr kein Werkzeug im Kofferraum? Macht mal auf, Jungs!’ Ich aber rufe: ‚Vielen Dank, officers, alles schon klar!’, und drehe den Zündschlüssel, und zum Glück springt der Motor sofort an, und weg sind wir, und die Polizisten stehen noch da, etwas verdattert, an der Brücke über den stinkenden Kanal. Das Leben bringt uns alle immer wieder in unvorhergesehene Situationen, und dann heißt es: Überlegen und handeln!
Wir reden hier über Verstand, und wir reden über Selbsthilfe. Ich bin ein Verfechter der Selbsthilfe. Das ist eine große Sache, die wir in Händen halten, und die in unserer Macht steht – die Selbsthilfe. Schade um den, der sich nicht selbst zu helfen weiß. Wenn ich zum Beispiel in tong bin, in der Stadt, oder bei meinem Bruder im Dorf, und ich sehe einen Mann, der Alkohol trinkt und Auto fährt und eine Person umhaut – it is licks, dann kriegt er ein paar gute Hiebe von mir! Die Leute aus der Nachbarschaft sollten nicht zögern und sein Auto umstürzen und in den trench [Entwässerungsgraben] rollen – ein Exempel statuieren, ihr werdet sehen – es wird nie wieder passieren in Zukunft! Don’t mek yuhself an ass – mach dich selber niemals in deinem Leben zum Arsch, Broddahman, niemals, hörst du? Wenn du beispielsweise in eine neue Gegend ziehst, und du hast – wie ich – eine hübsche Lady zur Frau und eine verdammt hübsche junge Tochter – yuh see yuh deh in trouble: schon hast du den Ärger! Gleich zu Beginn, im ersten Monat, da schaffe verdammt noch mal klare Verhältnisse: Markier den bösen Mann, lass den Mann, der deine Lady anmacht, sofort wissen, was für einer du bist! Du wirst sehen – vom nächsten Tag an herrscht Ruhe und Frieden! Und das selbe mit dem T’iefman, dem Dieb oder Einbrecher! Yuh gi’ ’e scont licks, du gibst dem Kerl Hiebe – und Ruhe! Verschwende deine Energie nicht mit der Polizei – er wird sich freikaufen und die selbe Geschichte geht wieder von vorne los! Und Vergewaltiger! Wenn du einem über den Weg läufst – denk immer sofort an deine Mutter, Frau, Tochter – an’ it’s licks foh ’e, und wieder gibt’s Hiebe für ihn! Einmal, drunten in Albouystown, da sah ich einen Vergewaltiger, wie er eine Lady niederkämpfte – an’ Ah dun start fight ’e, und ich begann, auf ihn einzuschlagen – und, broddahman, weißt du, da verstand ich zum erstenmal, was so ein Vergewaltiger eigentlich für einer ist: Broddahman, sein Ding war steif, mitten während wir uns prügelten – und es blieb steif die ganze lange Zeit! Oh rass, ich weiß ja nicht, wie’s bei euch ist, Brüder, aber wenn ich mitten im Akt bin und irgendwas stört mich – me dun, dann ist es aus bei mir! Dieser Mann aber blieb steif. An’ it was licks foh ‘e, und es gab gute Hiebe für ihn.
Solex, Sadam, ich will euch ein Beispiel geben, ein Beispiel dafür, dass man sich in diesem Leben verdammt noch mal nicht und von niemandem zum Arsch machen lassen soll: In den alten Zeiten war’s, ich und meine Jungs wir bauten damals eine Landepiste in Kurupung, am mittleren Mazaruni, das war alles Selbsthilfe, ihr wisst, die Regierung propagierte Selbsthilfe, weil kein Geld da war, um das Hinterland zu entwickeln, der Staat gab uns keinen einzigen abgegriffenen Babb [Vierteldollarstück] dafür, aber wir taten es trotzdem, rodeten Dschungel, planierten eine Fläche für den Landestreifen. Die ausländische Company kam, die an einer Feldstudie für einen möglichen Uranabbau arbeitete, und ihr Company-Flugzeug benutzte unsere Landebahn immerzu. Wir sagten zu der Company: ‚If yuh want a good strip, yuh gut foh do sumpn foh dah, wenn ihr eine gute Bahn wollt, so tut auch was dafür, Leute!’ Und als sie nun völlig leer rausfliegen wollten, legten wir uns alle mitten drauf auf den Airstrip und protestierten – also mussten sie die von uns, die wollten, mitnehmen nach Georgetown. Es kann nicht angehen, dass ein Flugzeug leer rausfliegt, und die buddies sind krank und leiden oder wollen zu ihren Ladies und müssen zurückbleiben in der Mine, so was kann nicht angehen, versteht ihr! Aber was sage ich euch: Das nächste, was die Company tat, war, ihre eigene Flugpiste zu bauen. Und warum? Sie wollte ihr Geheimnis bewahren: dem scont wok dymon an’ gold, sie arbeiteten Diamanten und Gold, statt nach Uran zu suchen! Broddahman, muss jetzt mal urinieren gehen, das ist der verdammte Orangensaft, bis gleich!“
Als Bosscross wieder kommt, fährt er fort mit seiner Predigt: „Selbsthilfe macht nur Sinn, wenn du Zuversicht hast und vor allem ein Ziel vor Augen, ein klares, ein reines Ziel! Draußen wütet der Sturm! Na und? Frieden, wahren Frieden, den kann man überall finden oder nirgends. Ich habe ihn vor langer Zeit gefunden – in mir selbst. Solex, gib mir noch einen Orangensaft. Frieden – das heißt Zuversicht zu haben! Zuversicht – das ist mehr als bloß Hoffnung, broddahman, Zuversicht ist Gott in dir selbst, der dich führt und dir die Richtung weist. Niemand kann sich nur auf seinen Verstand verlassen. Du siehst einen wohlgebildeten reichen Mann da drüben – he gut an’ ogly wife an’ no picknie, er hat eine unansehnliche Frau und keine Kinder; und du siehst einen dummen armen Mann auf der anderen Seite, der als ein Nichts gilt in der Gesellschaft – er hat acht gesunde schöne Kinder; du siehst einen intelligenten Mann hier vorn – er will einen Sohn, aber er kriegt nur Töchter; und was sagt uns das? Da existiert mehr als nur wir selbst, und jeglicher materieller Verdienst und Erfolg – kann weg sein in einem Lidschlag. Das Leben hat mehr Biegungen und Windungen als die schwarzen Flüsse unseres Guyana. Was wirklich wichtig ist: Hier seht ihr es:“ – und damit stellt Bosscross die Orangensaftbüchse weg und breitet seine leeren, aber sehnigen Klauen vor uns aus.
„Schwäche und Stärke unterscheiden sich nicht immer in ihren Reaktionen. Wahre Stärke liegt in der eigenen Hingabe, und manchmal sogar in der Preisgabe von etwas, das einem sehr viel bedeutet. Wenn du schwach bist, dann ist Gott stark. Broddahman, ich hatte vierzig claims in Kanaruk, und sie kämpften mich nieder und beanspruchten die claims für sich, und ich hatte schon eine Million Guyana-Dollars reingesteckt, und eines guten Tages sagte ich zu mir selbst: ‚Bosscross! Le‘ we go ahweh an’ leave dem scont, ich werde einfach die Sache aufgeben und fortgehen!’ Und so ging ich, und ich will euch was sagen: Die Bande investierte eine Menge Geld, und sie bekamen keine einzige Unze Gold raus aus dem Gebiet. Broddahman, du kannst in einem großen Schloss geboren worden sein – und das Leben wirft dich zum Wohnen in eine kleine arme Hütte, aber wenn du Frieden hast in dir selbst – yuh neba lost, yuh neba lonely, bist du niemals verloren, niemals verlassen oder allein. Hier draußen im Busch, fern der Stadt, verirrst du dich niemals, gehst du niemals verloren, one only get displaced, du veränderst lediglich deinen Standort, das ist alles. Wir haben es alle schon erlebt: Yuh go through yuh line, du verfolgst kontinuierlich deinen Pfad, yuh mistek a hontin road foh it, du hälst fälschlicherweise irgendeinen Abzweig, vielleicht einen Jagdpfad, für den richtigen Weg, aber der endet natürlich irgendwo im Dickicht wie alle Jagdpfade, und du kehrst um, aber alles sieht jetzt ganz anders aus, du erkennst nichts mehr wieder im Gestrüpp, na und?, broddahman, der erste Bach, an den du gelangst, wird dich zu einem Flüsschen führen, das Flüsschen zu einem Fluss, der Fluss zu einem Strom, und so, eines Tages – wirst du da sein, wo du hinwolltest, nach einem, zwei, fünf oder zehn Tagen des ‚Displacement’, der Standortverschiebung. Ich verirre mich niemals, und ich fühle mich niemals verlassen, auch nicht im tiefsten Dschungel.
Wohnst du in dem großen Schloss, kannst du da drin verloren gehen, in seinen Innereien und Gewölben und Grüften – wenn du keinen Frieden hast! Wo auch immer du bist, broddahman, und wo auch immer du stehst in deinem Leben, du musst lernen, dich wohl zu fühlen. Im Schloss oder in der Hütte, im Busch, in der Stadt, in Zeiten der Armut und der Drangsale und Schwierigkeiten. Und niemals darfst du dein Ziel aus den Augen lassen. Dein Ziel im Leben, Solex höre mir zu, ist am Anfang vielleicht so wie ein mysteriöser dunkler Tafelberg im Interior: er wirkt so weit weg und sieht so drohend und unerreichbar aus. Du starrst erst mal drauf und siehst kaum was, je länger du aber das Ziel fokussierst, desto klarer erkennst du es. Und du hast Erfolg, wenn du alles von dir für die Erreichung des Zieles einsetzt, deine Seele, deinen Geist, und deine Muskelkraft. Wer, der es nie probiert hat, glaubt schon, dass die meisten Tafelberge in wenigen Stunden erkletterbar sind? Ich, Brüder, kenne sie alle! Die Heilige Schrift drückt sich aus in Bildern der Natur, und die Lieder, die in der Kirche gesungen werden, handeln von Gebirgsgipfeln und Vögeln, und doch, fast alle der coastlanders [Küstenbewohner Guyanas], die diese Lieder zum Sabbat oder am Sonntag in der Messe anstimmen, haben in ihrem ganzen Leben noch nie einen Berg gesehen. Sie wissen nichts von den Zeichen und Wundern in der Natur und preisen stattdessen ihre menschengemachten Konstruktionen, die in einer einzigen Sekunde zerstört werden können – wie wir es zum Beispiel beim Vulkanausbruch auf der Insel Montserrat gesehen haben.
Drunten in den Niederungen der Küste herrscht große Verwirrung. Die Menschen sind krank. Gesundheit, broddahman, Gesundheit, was ist das? Es ist: zu erkennen und sich zu erinnern, dass die Quelle, der Ursprung, rein ist. Die Quellen der creeks, an denen ich Gold gewaschen habe, liegen alle droben in den Bergen, und sie sind klar wie der klarste Diamant; erfrischend kühles Trinkwasser fließt da, hoch über den Wirbeln der Sumpfdünste und des Eitergestankes der menschlichen Niederungen, und doch – viele Menschen scheren sich nicht darum, jemals bis an diese Quelle der Dinge, die Quelle des Seins vorzudringen. Solex, Sadam, wart ihr jemals an der Quelle des Baches, aus dem ihr Diamanten gewonnen habt? Nein, ihr fühlt euch wohl im Schmutz und Filz fleischlicher Lust. Oben ist der Strom rein und frisch, das Leben, die Gedanken dort sind ebenso rein und frisch, und unten, da liegen die Ablagerungen, da liegt, was der Fluss mitgerissen hat unterwegs und was die Menschen an Sünden hineingespuckt haben und nur noch die Reste des göttlichen Ursprungs; zwischen Fäulnis und Krankheit wühlt ihr im Schlamm nach diesen Tränen der Reinheit.“

// Ingolf Bruckner

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