Kuba | Nummer 365 - November 2004

Stille Post

TouristInnen bringen kranken KubanerInnen ihre Medikamente

Der Mythos vom guten kubanischen Gesundheitssystem ist angekratzt. Trotz kostenloser medizinischer Versorgung und gut ausgebildeter Ärzte und Ärztinnen sind Medikamente Mangelware. Zumindest für diejenigen, die nicht über harte Devisen verfügen. Bereits seit einigen Jahren schickt die spanische Nichtregierungsorganisation Puente Familiar con Cuba daher Hilfspakete aus dem Ausland.

Oliver Commer

In ihrer engen Wohnung mitten in der Altstadt von Havanna sortiert Carmen Ruiz kleine, in Plastikfolie eingeschweißte Päckchen. Erst am Tag zuvor ist ein Tourist bei ihr gewesen, der gut zwei Dutzend dieser Pakete aus Madrid mitbrachte. Durch die Folie hindurch scheinen viele lose Medikamentenstreifen in allen Größen und Farben, Röllchen mit Vitamintabletten, Verbandsmaterial, aber auch Buntstifte oder Spielzeugautos. Jedes dieser durchsichtigen Pakete ist mit einem Zettel versehen, auf dem in großen Buchstaben ein Name und eine Anschrift stehen. In den Päckchen befinden sich dringend benötigte Medikamente.
Die EmpfängerInnen leben in ganz Kuba verstreut. Es sind PatientInnen, die aufgrund schwerer Krankheiten oder Unglücksfälle auf ganz bestimmte Arzneien angewiesen sind: chronisch Kranke, aber auch Alte und Kinder mit Mangelerscheinungen. Carmen Ruiz ist zwar keine Ärztin und die Medikamente kommen auch nicht regelmäßig zu ihr nach Hause. Sie gelangen im Handgepäck ausländischer TouristInnen nach Havanna, wo sie bei Carmen oder anderen freiwilligen HelferInnen der spanischen Nichtregierungsorganisation Puente Familiar con Cuba (PFC) abgegeben werden.
Freiwillige HelferInnen wie Carmen Ruiz bilden das Rückgrat der Organisation. Mittlerweile gibt es ein Netzwerk von gut 200 Personen, die in sämtlichen Provinzen Kubas aktiv sind. „Die Helfer, Alte und Junge, sind Menschen, denen in irgendeiner Form einmal von uns geholfen wurde und die deswegen auch gern etwas tun möchten. Sie empfangen die Päckchen der Touristen und vermitteln sie an die Bestimmungspersonen weiter, oft auch über Pfarreien oder nachbarschaftliche Erste-Hilfe-Stationen“, erklärt Mabel Fajardo Roig, die Koordinatorin von PFC.

Widerspruch Dollarapotheke

Trotz der von offizieller Seite aus unermüdlich in alle Welt propagierten medizinischen Spitzenleistungen des kubanischen Gesundheitssystems, mangelt es in vielen Apotheken des Landes an grundlegenden Arzneimitteln. Die Widersprüche im solidarischen System zeigen sich hier überdeutlich. Denn die Medikamente gibt es durchaus, allerdings nur in Apotheken in denen ausschließlich mit US-Dollars und zu international üblichen Preisen bezahlt werden kann. Und die sind für das Gros der kubanischen Bevölkerung unerschwinglich. Die meisten KubanerInnen sind vielmehr auf Rezepte ihrer ÄrztInnen angewiesen. Jedoch gelangen die verschriebenen Arzneien nur ein- oder zweimal im Monat in geringen Mengen in die Apotheken, so dass diese oftmals direkt wieder vergeben sind oder zu überhöhten Preisen auf dem Schwarzmarkt landen.
Damit gerade diejenigen Familien mit Medikamenten versorgt werden, die über keinerlei Kontakte ins Ausland verfügen, und somit kaum Zugang zu US-Dollars haben, bemüht sich die in Madrid ansässige Oragnisation um eine direkte, humanitäre Hilfe. Dabei nutzen sie die kubanischen Zollbestimmungen aus, laut denen es einreisenden Personen gestattet ist, bis zu zehn Kilogramm an Medikamenten auf die Insel einzuführen. So werden TouristInnen zu BotInnen von Hilfspaketen, die über die freiwilligen HelferInnen auf Kuba in die Hände der Bedürftigen gelangen und nicht in die der ZollbeamtInnen oder auf den Schwarzmarkt.
Die PFC-MitarbeiterInnen, ExilkubanerInnen und SpanierInnen, verfügen über ein dichtes Netz an Verbindungen zu ÄrztInnen, Krankenhäusern, Apotheken und pharmazeutischen Betrieben in Spanien, die sie mit Medikamenten versorgen. Damit könne aber nur ein Bruchteil des enormen Bedarfs gedeckt werden, erklärt Mabel Fajardo Roig: „Uns erreichen durchschnittlich 70 bis 80 Briefe am Tag, denen ärztliche Bescheinigungen mit konkreten Diagnosen beigefügt sind. Aber obwohl wir ständig Pakete auf die ganze Insel senden, reicht diese Hilfe niemals aus. Die Nachfrage ist einfach viel größer als unsere Kapazitäten.“ Sehr oft hat Puente Familiar con Cuba bestimmte Medikamente auch nicht vorrätig. Und diese in Form einer Spende zu erhalten, ist für die Hilfsorganisation eine sehr große Herausforderung, nicht zuletzt weil diese speziellen Arzneien oft sehr teuer sind. “Dabei kann kostbare Zeit verstreichen“, sagt die Koordinatorin.
Ein anderes Zeitproblem ist die unverhältnismäßig lange Dauer von gut einem Monat, die die vielen Briefe aus Kuba bis nach Spanien unterwegs sind. Allerdings ist es fast ausschließlich durch diese Schreiben möglich, von konkreten Bedarfsfällen zu erfahren. Nur so kann PFC auch gezielt Hilfe in die Wege leiten.

Hilferuf per Brief

Eigentlich ist Wochenende und Carmen Ruiz hat frei. Doch heute bemühen sie und ihr Mann Gregorio sich darum, dass die Medikamente möglichst schnell verschickt werden. Die Arzneien befinden sich nun zwar in Kuba, doch ist es oft noch sehr kompliziert und zeitaufwendig, sie auch an ihren Bestimmungsort zu schaffen. Viele der EmpfängerInnen haben kein eigenes Telefon und so müssen erst NachbarInnen kontaktiert werden, um die Ankunft der Medikamente mitzuteilen.
Am schwierigsten gestaltet sich die eigentliche Übergabe der Päckchen. „Entweder kommt jemand aus einer Provinz nach Havanna und holt sich die Medikamente ab, um sie in seiner Heimatregion wiederum weiterzuverteilen. Oder wir vereinbaren einen Treffpunkt zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Bushaltestelle an der Fernstraße und ich übergebe die Pakete dort persönlich“, beschreibt Carmen Ruiz das umständliche Prozedere. Und manchmal sind es auch TouristInnen, die auf ihren Erkundungsfahrten ins Landesinnere die Arzneien bei einer Kontaktperson abliefern. Dort gibt es weniger freiwillige HelferInnen als in den großen Städten Havanna oder Santiago.
In Santa Clara, dem Verwaltungssitz der Provinz Villa Clara, wohnt María Reyes Galindo und koordiniert zusammen mit ihrer Mutter die Medikamenten-Verteilung in den Provinzen Villa Clara, Cienfuegos und Sancti Spiritu. Sie wohnt in einer Siedlung von heruntergekommenen, mehrgeschossigen Betonbauten. Die Wände ihrer Wohnung sind nackt und haben schon lange keine frische Farbe mehr gesehen, die Einrichtung ihres Wohnzimmers besteht aus zwei wackligen Eisenstühlen und einem dazugehörigen Tisch, gegenüber auf einem kleinen Regal steht ein alter Schwarzweißfernseher.
Aufgeregt kommt die zehnjährige Betty, die ältere von Marías beiden Töchtern in die Wohnung gelaufen. Sie ist ein schmales, kleines Mädchen, aufgeweckt und lebhaft, und wenn sie von der Schule erzählt sprudeln ihr die Worte nur so heraus. Seit ihrer Geburt lebt Betty mit nur einer halben Niere. Wegen dieser enormen Beeinträchtigung der Nierenfunktionen wurde sie bereits mehrmals in Havanna operiert, die Dialyse ließ sich bisher noch vermeiden. Eine gewisse Linderung ihrer Insuffizienz verschafft ihr das Medikament Ditropan, das sie seit ihren ersten Lebensjahren in unregelmäßigen Abständen durch die Vermittlung von PFC erhält.
Betty sei eines von vielen kubanischen Kindern, die dank der Hilfe aus dem Ausland mit lebensrettenden Arzneien versorgt würden, erzählt María Reyes Galindo: „Es gibt bereits mehr als 1.000 Kinder, die in das Hilfsprogramm der Puente Familiar con Cuba integriert sind. Unter ihnen sind andere Kinder wie meine Tochter, mit ihrer Niereninsuffizienz, die so ein Medikament erhalten, das es in Kuba überhaupt nicht gibt.“

Kritische Unterversorgung

Der Mangel an lebenswichtigen aber auch gängigen Medikamenten für Kinder wie Betty, erscheint nicht nur wegen der Existenz der Dollarapotheken paradox. Er ist es auch deswegen, weil die kubanische Regierung mit gespendeten Rohstoffen selbst Arzneien herstellt und diese teilweise für harte Währung ins Ausland verkauft.
Die Medikamenten-Versorgung in Havanna sieht PFC-Koordinatorin Mabel Fajardo Roig kritisch. In Apotheken im Landesinneren ist die Lage aber noch schlimmer. Dort ist es fast unmöglich, auch nur ein einfaches Schmerzmittel zu erhalten. Puente Familiar con Cuba macht den Staat für diese widersprüchliche und kritische Unterversorgung verantwortlich. „Wir wissen nicht konkret, warum es diesen Mangel an Medikamenten gibt. Die Regierung wird aber niemals öffentlich zu diesen Vorwürfen Stellung nehmen“, sagt Fajardo Roig. Jeder, der auch nur etwas Ahnung von Kuba habe, wisse aber, dass dieses organisatorische Problem von Medikamenten direkt mit der Organisation des Gesundheitsministeriums und dessen Entscheidungen zusammenhänge.
Für die Medikamenten-Knappheit auf Kuba ist weder das Ausbleiben subventionierter Rohstoffe durch den Zusammenbruch der Sowjetunion, noch das durch die USA aufrecht erhaltene Handelsembargo allein verantwortlich. Schuld trägt auch die kubanische Regierung, die die Bevölkerung förmlich dazu zwingt, sich irgendwie US-Dollars zu beschaffen, um lebensnotwendige Arzneien auf der Insel zu kaufen. Offiziell heißt es hingegen aus Havanna, für jeden Bürger seien Medikamente in ausreichender Menge und vor allem umsonst vorhanden.

Mund-zu-Mund-Propaganda

In einem medizinischen System, das zwar in der Lage ist, Diagnosen zu stellen, aber im Gegenzug immer weniger befähigt oder willens ist, die diagnostizierten Krankheiten auch bei jedem Patienten zu heilen, bleibt den Kranken ohne finanzielle Mittel nur die Hoffnung auf Hilfe von außen. Gerade auf Kuba ist aber der Handlungsraum für ausländische Nichtregierungsorganisationen wegen der vielen staatlichen Restriktionen und allgegenwärtigen Kontrolle stark eingeschränkt.
Zwar werden weder freiwillige kubanische HelferInnen noch TouristInnen mit ihren Medikamentenpaketen an ihrer uneigennützigen Hilfe gehindert. Aber Organisationen wie Puente Familiar con Cuba werden auch nicht staatlich unterstützt. Ihre Arbeit läuft weitestgehend im Stillen ab. Sie verbreitet sich sozusagen von Mund zu Mund.
Allgegenwärtige Knappheit und mangelhafte Organisationsstrukturen seien die Grundprobleme der kubanischen Gesellschaft, sagt Mabel Fajardo Roig. Was für Medikamente gelte, treffe ebenso auf den Erwerb von Grundnahrungsmitteln zu. In Kuba erhalte man Milch nur auf dem Schwarzmarkt oder in staatlichen Geschäften. Es gibt also Milch in Kuba, aber der Staat selber verkauft sie in US-Dollar. Die PFC-Koordinatorin ist verärgert: „Jeder hier muss sich also fragen, warum gibt es keine Medikamente und warum gibt es keine Milch für Kubaner, die kubanische Pesos verdienen? Das ist schließlich die Mehrheit der Bevölkerung.“

Weitere Informationen zur Hilfsorganisation Puente Familiar con Cuba gibt es im Internet unter www.arrakis.es/~puefamcuba

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