Straßenkinder und Kellerratten
Mit Punk gegen die Aussichtslosigkeit
Das Stadtzentrum gleicht einem Ameisenhaufen. Aus allen Richtungen strömen Menschen durch die Innenstadt von Porto Alegre. Eine nahezu endlose Reihe von Omnibussen schluckt die von der Arbeit nach Hause fahrenden Menschen. Es ist einer der zentralen Plätze der Stadt, wo die große Ausfallstraße Avenida Borges de Medeiros auf die Fußgängerzone der Rua das Andradas trifft, und sich am frühen Abend Männer und Frauen versammeln, um alle Arten von Gebrauchsgütern und Kleidungsstücken vom großen Wandspiegel bis zur Haarspange anzubieten.
Inmitten der Menschenmenge sitzt Max. Er hat es sich zusammen mit seiner Freundin auf einem Betonsockel gemütlich gemacht, wo sonst Folkloregruppen auftreten und Sektenprediger ihre religiösen Botschaften vermitteln. Obwohl schon Herbst, ist es noch sehr warm, so daß Max seine mit Nieten und zahllosen Parolen versehene Lederjacke auszieht und sich darauf setzt. Er hat trotz seiner zwanzig Jahre einen fast kindlichen Gesichtsausdruck. Ein Freund mit dem Namen Flavio hilft ihm, mit einer Bürste und einer Mischung aus Klebstoff und Haargel die blondgefärbten Haare zu einem Irokesenkamm aufzustellen. In Brasilien nennen die Punks ihre Frisur „Mohicano“. Bis auf den kleinen vokabularischen Unterschied gleichen sie ihren Gleichgesinnten aus Übersee, die seit Beginn der achtziger Jahre zum Erscheinungsbild europäischer Großstädte gehören.
„In Brasilien hat Punk vier oder fünf Jahre später als in Europa und den USA eingesetzt. Dies lag vor allem an der Militärdiktatur und gilt auch für die anderen südamerikanischen Länder“, erzählt Max, der sich wie seine Freunde gut auskennt in der Geschichte der relativ heterogenen Punkbewegung, die für ihre Mitglieder mehr als nur ein Modephänomen ist, sondern ein Lebensgefühl, das unter anderem auch sozialen Halt bietet. Max gibt sich gesprächsbereit und fragt seinerseits nach seinen Gleichgesinnten in Deutschland.
Bunt und punkig erst nach der Militärdiktatur
Die schillernden Paradiesvögel sind vor allem in den südamerikanischen Ländern mit zumeist europäischen Einwanderern anzutreffen, obwohl man in Brasilien auf Punks jeder Hautfarbe trifft. Deren Musik ist in den siebziger Jahren in England entstanden und damals schnell zum Symbol von „No Future“ geworden. Sie hat in den letzten Jahren nach einer langen Durststrecke weltweit eine Renaissance erlebt. Dies mag zum einen am kommerziellen Erfolg amerikanischer Bands wie Green Day oder Offspring und der damit verbundenen Wiederentdeckung des Punk durch die Musikindustrie liegen, aber auch an der sozialen Krise in den Industrieländern, die immer mehr von Arbeitslosigkeit betroffene Jugendliche ausgrenzt und auf die Straße treibt. Straßenkinder sind bekanntlich nicht mehr allein ein lateinamerikanisches Phänomen, sondern auch in Deutschland zur traurigen Realität geworden. Punk ist für viele eine Ausdrucksform ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit und gleichzeitig die Gelegenheit, in einer Gruppe so etwas wie Solidarität zu erleben. Dies gilt in zunehmendem Maße auch für die Jugendlichen in Lateinamerika, die sich erst nach dem Ende der Militärdiktaturen auf eine solch auffallende Art und Weise in der Öffentlichkeit zeigen konnten. Unter den Militärs wäre die Anwesenheit eines Bunthaarigen mit Nietenarmband und Lederjacke in der Fußgängerzone einer südamerikanischen Stadt undenkbar gewesen. So sind es zum Beispiel in Brasilien bis vor kurzem noch verschwindend wenige Jugendliche gewesen, die Punkrock hörten und sich dementsprechend kleideten.
Politische Songs und Fanzines
Baffo, ein dunkelhäutiger Punk, hält ein Fanzine in den Händen. Es ist eine selbst angefertigte Zeitschrift mit Songtexten, politischen Statements, Kurzartikeln und Veranstaltungshinweisen. Die Texte befassen sich zumeist mit der Situation der Punks oder mit der allgemeinen sozialen Lage in Brasilien, haben also primär politischen Charakter. Sie prangern die soziale Ungleichheit, die Aussichtslosigkeit für die Jugendlichen und die juristische Ungerechtigkeit an. Sie erzählen von gewalttätigen Fußballfans und rechtsradikalen Todesschwadronen, die Jagd auf Straßenkinder machen. Kaum ein Thema wird ausgelassen. In ihren Refrains werfen die Punks den politischen Parteien aller Couleur Verrat vor und treten für die Indígenas ein, mit denen sie sich verbunden fühlen und deren Ohnmacht ihnen nur allzu bekannt ist. In Karikaturen machen sie sich über die Regierungspolitiker lustig. Unpolitische Texte, wie man sie vor allem bei sogenannten „FunPunk“-Gruppen aus Nordamerika und Europa findet, gibt es fast nicht. Sogar ein banales Liebeslied verweist auf die Armut und den Minderheitenstatus als gemeinsamen Nenner. Auf den ersten Blick sind die Punks bekennende Anarchisten. Sogar der Partido dos Trabalhadores (PT) stehen sie skeptisch gegenüber. Sie unterstützen am ehesten die Landlosenbewegung der Movemento sem Terra (MST) oder lose Organisationen wie Schwulen- und Lesbengruppen. In Argentinien und Chile spielen die pazifistischen und antimilitaristischen Punks in ihren Liedern stärker als in Brasilien auf die grausame Rolle des Militärs in den beiden Staaten an. Dort stehen Gruppen wie Fiskales ad hok aus Santiago in enger Beziehung zu Autonomen.
Ein Mädchen mit blaugefärbten Haaren bringt einen ganzen Stapel der selbstgemachten Hefte und verteilt sie an Passanten. Die meisten ignorieren sie und werfen nicht einmal einen Blick auf die Fanzines, die für einen freiwilligen Unkostenbeitrag zu haben sind. „Wir verbringen unsere Zeit mit der Herstellung von Fanzines, mit Musikmachen oder wir treffen in der Stadt unsere Leute“, erklärte Baffo. „Ein Freund hat eine Schreibmaschine, auf der wir die Texte schreiben. Die Zeichnungen malen wir selbst. Anschließend kleben wir alles auf einen Bogen Papier, vervielfältigen das Ganze im Kopierladen und fertig ist das Fanzine.“
Kritik an sprachloser Samba
An diesem Tag sind ungefähr dreißig Punks auf dem Platz. Am Wochenende zuvor hat ein Festival mit Bands aus ganz Südbrasilien stattgefunden, so daß Konzertbesucher sowohl aus den Nachbarprovinzen Paraná und Santa Catarina als auch aus Uruguay angereist sind. So zum Beispiel „China“, der mit seinen 28 Jahren auffällt unter seinen zumeist 16- bis 20jährigen Freunden. „Ich bin schon seit über zehn Jahren dabei und habe zu Hause in Curitiba schon mit vielen Bands gespielt.“ Er holt eine Kassette mit Aufnahmen seiner Bands, den Ratos Nerviosos („Nervöse Ratten“), hervor. Für ein oder zwei Reais verkauft er sie mit spärlichem Erfolg auf der Straße: „Nichts gegen Samba. Das ist die Musik des Volkes. Aber sie ist dem Kommerz unterworfen und vor allem: sie ist sprachlos. Die Reichen haben die Samba vereinnahmt und lassen sie den Armen als Zuckerbrot. Wir dagegen spüren nur allzu oft die Peitsche.“
Die Punks sind wie in Europa mittellos, doch fällt auf, daß keiner von ihnen vor Ohnmacht tatenlos auf der Straße sitzt, sondern sein Geld entweder mit der Herstellung von Fanzines oder mit Straßenmusik verdient. Staatliche Unterstützung für arbeitslose Jugendliche gibt es nicht und Jobs sind in aussichtsloser Ferne. „Die Leute hier, die ihre Waren verkaufen, sind entweder arbeitslos oder haben drei bis vier Jobs, um überhaupt überleben zu können. Ein Punk hat erst gar keine Chance, eine Arbeit zu bekommen“, so China. Die Frage, weshalb er überhaupt Punk sei, hätte sich eigentlich erübrigt: „Das ist Ehrensache. Die anderen haben nur Fußball im Kopf oder verblöden vor der Glotze. Wir sind aktiv. Wir machen Musik oder organisieren Treffen, um Erfahrungen auszutauschen und zusammenzuhalten.“ In seiner Heimatstadt wohnt er zusammen mit seinen drei Brüdern in einer zehn Quadratmeter großen Hütte ohne fließendes Wasser. Stolz weist er darauf hin, daß Punk für ihn eine Möglichkeit ist, den Kopf aus der Enge der von Kriminalität und Analphabetismus geprägten Favelas herauszustrecken.
Musik statt Klebstoff
„Wir werden nie reich, so wie die berühmten Gruppen um Ratos de Porâo (Kellerratten), die inzwischen sogar in Europa touren und durch MTV zur Edelpunkband für Großbürgerkids geworden sind“, sagt Max. Er lacht verächtlich: „Die Kellerratten. Daß ich nicht lache. Diese Wohlstandssöhnchen haben bestimmt noch nie eine Ratte gesehen. Wir dagegen kommen wirklich von der Straße“, fügt er hinzu und zeigt uns stolz eine weiße Ratte, die aus dem Ärmel seiner Freundin krabbelt. Früher habe er Klebstoff geschnüffelt. Aber er habe Angst bekommen, dadurch abzustumpfen und nicht mehr texten und Gitarre spielen zu können. „Das Beste an Punk ist die einfache Aussage, daß jeder etwas machen kann. Du mußt nur Mut haben und eine Gitarre.“ Inzwischen haben er und seine Freunde nicht nur landesweit Briefkontakte, sondern erhalten auch Post von finnischen oder australischen Bands. Kontakte knüpfen sei ihm besonders wichtig. Im nächsten Sommer will man sich treffen, um gemeinsam nach Montevideo zum ersten südamerikanischen Treffen von Gleichgesinnten zu fahren, wo auch politische Gruppen wie die argentinischen Quebrachos erwartet werden. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei sind schon vorprogrammiert. China deutet lächelnd auf sein T-Shirt mit der Aufschrift „Polícia, foda-se!“ – „Bullen, verpißt Euch!“, ein wenig dezenter Hinweis an die Polizei, daß sie nicht gern gesehen wird.
Konfrontation mit
Polizei und Skins
Punk ist für ehemalige Straßenkinder nicht nur eine Möglichkeit zur Flucht aus einem von Hoffnungslosigkeit geprägten Alltag und vielleicht die einzige Chance, eine Spur gemeinschaftlicher Solidarität zu finden. Die Gruppe bietet auch Schutz, denn das Leben auf den brasilianischen Straßen ist aus den bekannten Gründen gefährlich. China hat schon Bekanntschaft mit der brutalen Vorgehensweise der Polizei gemacht. Eine Revolverkugel hat eine Narbe am Oberarm hinterlassen, als er zusammen mit Freunden vor der Polizei fliehen mußte: „Es war nur ein Streifschuß. Halb so schlimm.“ Einen seiner Freunde hat es dabei erwischt. Er hat ihn nie mehr wiedergesehen. Dabei waren sie nur in eine Kontrolle geraten und konnten sich nicht ausweisen. Außerdem gibt es gelegentlich gewalttätige Auseinandersetzungen mit Skinheads. Er zeigt auf die Spuren von Messerstichen. „Ihr Europäer meint immer, hier gebe es keinen Rassismus. Aber mich hätten sie fast totgeschlagen“, erzählt Baffo, „Das Leben hier ist gefährlich. Und die Polizei um einiges brutaler als eure.“
Baffo, Max und die anderen Mitglieder der Band Estomagos vacios („Leere Mägen“) haben einen Monat zuvor nach europäischem Vorbild ein Haus besetzt. „Die Besetzung war kein Problem, denn die Polizei kümmert sich nicht darum, wenn das Haus ein wenig außerhalb liegt“, so Flavio, der nebenbei in einer Straßentheatertruppe mitmacht. Er setzt sich sein rotes Barrett zurecht, das ihn wie einen kleinen Che Guevara aussehen läßt: „Von dort aus organisieren wir die Konzerte.“ Er weist stolz daraufhin, daß seine Freunde und er sogar einen kleinen Garten haben. „Ich glaube, die Punks sind schon aufgrund ihrer sozialen Herkunft politischer“, erklärt er: „Viele behaupten, sie kämen aus den Favelas. Aber der Anteil an abenteuersüchtigen Mittelstandskids ist nicht gering.“
Kunst und Punk vereint
Diego stammt aus einer Künstlerfamilie und malt schon seit Jahren Aquarelle. Der Neunzehnjährige fühlt sich inspiriert von den Punks, weil es die einzige Gruppe sei, „die sich nicht vom kapitalistischen System korrumpieren läßt.“ Er wohnt zusammen mit seinem Vater Bez Batti, einem der bekanntesten Bildhauer von Rio Grande do Sul, in einem Vorort von Porto Alegre. Als Motive dienen ihm vor allem seine Freundin und die geistig behinderten Patienten eines nahegelegenen Armensanatoriums. Nach ästhetischen Gesichtspunkten hätte ihn der deutsche Expressionismus, nach politischen dagegen das anarchistische Ideal der Punks am meisten beeinflußt. Er findet, daß für ihn als jungen Maler die Eindrücke von deren vielfältigen Aktivitäten besonders wichtig seien: „Das, was die hier machen, ist mehr als nur dadaistisches Geschrei. Es ist einfach der gemeinsame Fluchtversuch aus einer individuellen Perspektivlosigkeit, auch mit künstlerischen Mitteln.“ Einige seiner Bilder wurden schon ausgestellt und im Stadtmagazin von Porto Alegre veröffentlicht. „Ich hole nicht nur meine Inspirationen vom Punk und von den Leute auf der Straße, sondern lebe, esse und trinke mit ihnen, wenn ich nicht gerade im Atelier bin.“ Sein Traum ist es, einmal mit seinem Vater, der vor Jahren schon eine Europareise unternommen hat, nach Deutschland oder Frankreich zu gehen und dort eine Kunstakademie zu besuchen. „Aber es fehlt nicht nur das Geld. Wer kann mir diese Freunde hier ersetzen?“, fragt der Neunzehnjährige traurig, während er zu den anderen hinüberschaut, die entweder weiterhin geschäftig ihre Fanzines verteilen oder den Gitarrenklängen von Moska, dem zahnlosen Mitglied der „Leeren Mägen“, lauschen.