Streiter für eine andere politische Kultur
Zum 100. Geburtstag von José Carlos Mariátegu
Mariátegui, der in Anlehnung an den Titel einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift “Amauta” genannt wurde, was in der Indianersprache Quechua soviel wie “Weiser” oder “Gelehrter” bedeutet, war weder das eine noch das andere im klassischen Sinne. Die Elfenbeinturmmentalität vieler Intellektueller war ihm verhaßt, das künstlerische und akademische Establishment griff er an, wo immer er konnte. Seine kurze Lebensspanne (1894-1930) war auch nicht dazu angetan, aus ihm einen “Weisen” jenseits der politischen Auseinandersetzungen zu machen. Bereits als Kind war er von einer schweren Krankheit gezeichnet, wegen der er sich mehreren Operationen unterziehen mußte, die ihn nach der Amputation eines Beines an den Rollstuhl fesselte und schließlich das Leben kostete. Vielleicht hat diese Krankheit dazu beigetragen, daß er rastlos und fieberhaft alles Neue in sich aufsog, daß seine Schriften in vielem fragmentarisch blieben und seine Aktionen polemisch. Nein, ein “Weiser” war er nicht, sondern vielmehr ein in den gesellschaftlichen Kämpfen engagierter Intellektueller im besten Sinne des Wortes.
Mariátegui war Zeitzeuge der großen ökonomisch-politischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen am Beginn des 20. Jahrhunderts: Die mexikanische und die russische Revolution sowie den Bruch der historischen Avantgardebewegungen (Dada, Futurismus, Surrealismus) mit der Geschichte der europäischen Kunst begrüßte er enthusiastisch und begleitete sie kritisch. Alles Rückwärtsgewandte verabscheute er, den pasadismo (die Vergangenheitsliebe) der peruanischen Eliten sah er als Dekadenzerscheinung an, als Blindheit gegenüber dem Geist einer neuen Zeit.
Diesen esprit nouveau sah er in der modernen Kunst und in Sergeij Tretjakovs Ideal einer in die gesellschaftlichen Kämpfe eingreifenden Produktionskunst ebenso angedeutet, wie in der Philosophie Albert Einsteins und den politischen Theorien von Antonio Gramsci, Benedetto Croce oder George Sorel. Der Kampf für die Durchsetzung, für die Hegemonie dieser neuen Ideen war in Mariáteguis Denken untrennbar mit denjenigen für die sozialistische Revolution verbunden. Beide, kulturelle Hegemonie und Revolution, sollten aber in seinen Vorstellungen spezifisch peruanische Züge annehmen (daher der programmatische Titel einer seiner Kolumnen: Peruanisieren wir Peru). Nicht die rückwärtsgewandte Utopie der Restauration des Inkareiches Tawantinsuyo, wie sie von einigen Indigenisten vertreten wurde, war sein Ideal. Seine Utopie war eine sozialistische Gesellschaft, die den kulturellen Dualismus von indianischer und westlich-abendländischer Welt in Peru versöhnen und in einer peruanischen Nationalkultur aufheben sollte. Nation und Nationalkultur waren deshalb für Mariátegui utopische und – das muß besonders betont werden – antinationalistische Begriffe.
Zwischen Indigenismo und Gramsci
Bereits mit vierzehn Jahren schreibt Mariátegui seine ersten Artikel für die Tageszeitung La Prensa. Anfangs ist er hauptsächlich von christlichem Ideengut begeistert; daneben finden sich auch die zeittypischen Einflüsse von Positivismus und Dekadenz der Boheme des Fin de siècle wieder. Gleichzeitig hält er Kontakt zu den verschiedenen Gruppierungen der Indigenisten, die den Rassismus der Weißen gegenüber der indianischen Bevölkerung Perus anprangern und sich entweder für eine (allerdings paternalistisch verstandene) Integration der Quechua und Aymara in die peruanische oder für die Wiederherstellung der inkaischen Gesellschaft einsetzen. Später wird Mariátegui mit den Ideen seiner Jugendzeit hart ins Gericht gehen und sie als seine “Steinzeit” bezeichnen, auch wenn er sich von seinen religiösen und indigenistischen Ideen nie völlig lossagt.
Wegen seiner Kritik am Regime Augusto Leguías wird Mariátegui 1919 vor die Alternative gestellt, entweder ins Gefängnis zu gehen oder mit Hilfe eines Stipendiums für einen längeren Aufenthalt in Europa außer Landes “gelobt” zu werden. Er entscheidet sich für die zweite Möglichkeit und verbringt fast vier Jahre in Frankreich, Italien und Deutschland. Diese Zeit markiert den entscheidenden Bruch in seinem Leben und seinen Auffassungen. Er trifft bedeutende Denker jener Zeit wie Henri Barbusse, Benedetto Croce und Antonio Gramsci, deren Ideen großen Einfluß auf ihn ausüben. Die Bekanntschaft mit einer Reihe von avantgardistischen Künstlern verändert radikal seine Vorstellungen von der gesellschaftlichen Funktion der Kunst.
Nach seiner Rückkehr aus Europa arbeitet Mariátegui zuerst als Dozent in der neugegründeten Volksuniversität, die von Raúl Haya de la Torre, dem Begründer der APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana), organisiert wird. Daneben schreibt er für verschiedene Zeitungen und gründet selbst 1926 die Zeitschrift “Amauta” und 1928 “Labor”. Während “Amauta” für viele Themen und Autoren offen ist, sofern sie im weitesten Sinne sozialistisch, avantgardistisch oder indigenistisch sind, widmet sich “Labor” in erster Linie den Fragen der Arbeiterbewegung.
Außer seiner publizistischen Tätigkeit engagiert sich Mariátegui auch weiterhin politisch. Er gründet die sozialistische Partei Perus und setzt sich in einer harschen Polemik mit Haya de la Torre auseinander. Während letzterer aus der APRA eine nach leninistischem Muster organisierte Kaderpartei formt und zugleich populistische Ideen vertritt, verwirft Mariátegui ein solches Konzept für die sozialistische Partei zugunsten einer demokratischeren, offeneren Struktur. Die revolutionäre Masse stellt für ihn nicht eine einheitliche, uniforme, sondern eine vielfältige Bewegung dar. Auch mit der Komintern, die 1929 in Buenos Aires tagt, liegt er im Streit. Innerhalb der Internationalen wird zu dieser Zeit die Ansicht vertreten, daß man den Indianern Lateinamerikas ein Recht auf nationale Selbstbestimmung zugestehen und folglich die Gründung indianischer Republiken fördern sollte. Mariátegui dagegen sieht Peru als eine im Werden begriffene Nation an, in die die Quechua und Aymara integriert werden sollten. Für ihn ist das sogenannte “Indioproblem” letztlich kein ethnisches, sondern ein Problem des Bodens, der Landverteilung. Diese letzte Auseinandersetzung seines Lebens hat er allerdings schon nicht mehr mit aller Kraft führen können. Was Alberto Flores Galindo “die Agonie Mariáteguis” genannt hat, findet seinen Höhepunkt darin, daß er den Vorsitz der sozialistischen Partei Perus kurz vor seinem Tod niederlegt. Am 30. April 1930 stirbt José Carlos Mariátegui, ohne daß er für die Zukunft der Partei oder für die Auseinandersetzung mit der Komintern eine klare Richtung vorgegeben hätte. Erst jetzt benennt sich die sozialistische in kommunistische Partei um und folgt weitgehend den Direktiven der Komintern.
Die peruanische Wirklichkeit interpretieren
Zu Lebzeiten Mariáteguis erscheinen lediglich zwei seiner Essaysammlungen als Bücher: 1925 “La escena contemporánea” (Die zeitgenössische Szenerie) und 1928 “Siete ensayos de interpretación de la realidad peruana” (Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen). Alle übrigen werden postum aus den unzähligen von ihm veröffentlichten Artikeln zusammengestellt. Die beiden genannten Bücher markieren allerdings bereits die Eckpunkte bzw. Hauptthemen seiner publizistischen Arbeit. In La escena contemporánea behandelt er Themen der internationalen historischen Entwicklung: Der aufkommende Faschismus in Italien, die Krise der sozialistischen Bewegung in Westeuropa, die russische Revolution, die Rolle Asiens und damit der Peripherie innerhalb der revolutionären Umbrüche sowie die Stellung der Intelligenz und der Kunst zu und in diesen Ereignissen bilden die Hauptthemen des Buches.
In den “Sieben Versuchen” konzentriert er sich dagegen auf die ökonomischen und kulturellen Probleme Perus. Im ersten Essay gibt er einen kurzen Abriß der ökonomischen Entwicklung vom Inkareich (das er als Stadium des Urkommunismus sieht) über die feudalistische Kolonialzeit bis zu den Ansätzen einer kapitalistischen Industrialisierung am Beginn des 20. Jahrhunderts unter Beibehaltung kolonialistischer Abhängigkeit. Das sogenannte “Indioproblem” stellt sich ihm in den beiden folgenden Versuchen als Problem des Bodenbesitzes und des Fortbestandes feudalistischer Strukturen sowie des gamonalismo in den Anden dar. Vor diesem Hintergrund behandelt Mariátegui auch die Problematik von Regionalismus und Zentralismus im sechsten Essay. Die Abhängigkeit des Bildungssystems von Europa und die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Universitätsreform sowie der Dualismus von indianischer und katholischer Religion sind die Themen des vierten und fünften Versuchs. Im letzten der “Sieben Versuche” schließlich beabsichtigt Mariátegui, der peruanischen Literatur buchstäblich den Prozeß zu machen. Er teilt die Literaturgeschichte seines Landes in eine koloniale, eine kosmopolitische und eine nationale Phase ein, wobei die letzte ein uneingelöstes Projekt darstellt, das wie die peruanische Nation selbst erst im Werden begriffen ist. Wie wichtig für Mariátegui kulturelle Fragen waren, zeigt sich allein schon darin, daß dieser letzte Essay ein gutes Drittel seines Buches einnimmt. Der Kampf um eine revolutionäre Erneuerung der peruanischen Gesellschaft war in seiner Vorstellung immer zugleich – und nicht erst in zweiter Linie – ein Kampf um die Erneuerung der Kultur.
Und heute?
Was bleibt, jenseits von Vereinnahmung und Vergessen? Welche Denkanstöße können uns heute die Schriften Mariáteguis zu Politik und Kultur geben? Wieviel davon ist für uns noch von Interesse?
Wenn man Mariáteguis Essays und im besonderen die “Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen” liest, fällt eines sofort auf: die Aktualität einer Reihe von Themen, die er vor gut siebzig Jahren angeschnitten hat. Die Frage der Nationalkultur und eines antinationalistischen Verständnisses von Nationenbildung in Lateinamerika gehören ebenso dazu wie seine von einigen Befreiungstheologen aufgenommenen Gedanken zur Religion als kollektivem Mythos. Seine Auseinandersetzungen mit Rassismus und Faschismus sowie mit dem Problem der Verzahnung von ethnischen und Klassenkonflikten gewinnen heute zunehmend an Aktualität und Brisanz. Vieles von dem, was in entwicklungstheoretischen Modellen seit den späten sechziger Jahren ausgeführt wird, hat Mariátegui zumindest angedacht. Das gilt auch für die lateinamerikanische Literatursoziologie, die seine Ideen erst Ende der siebziger Jahre aufgegriffen hat.
Vor allem aber gehört er, wenn man ihn denn überhaupt einordnen will, in eine Linie mit Vertretern eines unorthodoxen Marxismus wie etwa Tretjakov, Gramsci und Benjamin; eine Richtung, die sich schon zu seinen Lebzeiten nicht hat durchsetzen können – und nach seinem Tod noch viel weniger. Gerade in der aktuellen Krise des Marxismus und der Linken überhaupt kann Mariátegui deshalb eine Funktion als Anreger zukommen. Er hat seine Schriften selbst einmal ausdrücklich als “Verteidigung des Marxismus” bezeichnet. Das sind sie bis heute geblieben, auch und gerade weil sie den Marxismus gegen seine eigenen Apologeten verteidigen. Mariátegui war, mit all seinen Widersprüchen, ein engagierter Intellektueller. Was er wollte, war nicht die Konstruktion eines großen Theoriegebäudes, sondern ein ständiges Überdenken und Umformulieren der eigenen Vorstellungen. Die so oft betriebene Vereinnahmung seiner Person und seiner Aussagen für unterschiedlichste politische Zwecke widerspricht deshalb geradezu seinem eigenen Denken. Dagegen könnte er im besten Falle nicht etwa als Vorbild oder als “Amauta” in den heutigen Debatten eine Rolle spielen, sondern als Anreger im Streit um eine andere politische Kultur.
Auf Deutsch liegen vor:
Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen. Berlin: Argument, 1986.
Revolution und peruanische Wirklichkeit. Ausgewählte politische Schriften. (Herausgegeben von Eleonore von Oertzen). Frankfurt/Main: ISP`Verlag, 1986.