Tauziehen um die Präsidentschaftswahl
In Venezuela haben Regierung und rechte Opposition eine weitreichende Einigung unterzeichnet
Am 3. Dezember werden die Venezolaner*innen an die Wahlurnen gerufen. Allerdings nicht, um über die Führung des Landes abzustimmen. Vielmehr will sich die Regierung in einem alten territorialen Konflikt mit dem östlichen Nachbarland Guyana den Rückhalt der Bevölkerung sichern. Das sehr dünn besiedelte, etwa 160.000 Quadratkilometer große Esequibo-Gebiet (etwas weniger als die Hälfte der Fläche Deutschlands), wird faktisch von Guyana kontrolliert und macht etwa zwei Drittel von dessen Staatsgebiet aus.
Guyana beruft sich bei seinen Gebietsansprüchen auf einen Schiedsspruch von 1899, als es noch britische Kolonie war. Venezuela hingegen betont die frühere Zugehörigkeit des Gebietes zum Königreich Spanien und pocht auf den „Vertrag von Genf“ aus dem Jahr 1966. Dieser entstand im Zuge der Unabhängigkeit Guyanas und sieht Verhandlungen vor. An Brisanz gewann der Konflikt, als ein Konsortium um den US-Konzern ExxonMobil vor der Küste 2015 große Erdölvorkommen entdeckte. Die geplante Vergabe von Konzessionen facht den Streit nun weiter an.
In dem geplanten Referendum, das Guyana unbedingt unterbinden will, soll die venezolanische Bevölkerung in fünf verschiedenen Fragen die Position der Regierung in Caracas stützen. Gegenwind aus Venezuela selbst ist in diesem Fall nicht zu erwarten. Es gibt wohl kein anderes Thema, bei dem sich praktisch sämtliche politische Richtungen derart einig sind wie bei dem Anspruch auf das Esequibo-Gebiet. Inwieweit der Konflikt weiter eskaliert ist offen.
Das Referendum soll auch den Streit mit der Opposition verdecken
Die Regierung unter Nicolás Maduro nutzt das Thema aber auch, um den grundsätzlichen Streit mit der Opposition zu überdecken. Seit dem offiziellen Beginn der Wahlkampagne am 7. November trommelt sie für eine hohe Beteiligung und spielt dafür die nationalistische Karte. „Hier geht es nicht darum, ob man diesen oder jenen Kandidaten für das Amt des Gouverneurs oder des Bürgermeisters oder diesen oder jenen Kandidaten für das Amt des Präsidenten unterstützt“, erklärte Maduro in seinem eigenen Fernsehprogramm „Con Maduro+“. „Nein, hier lassen wir das alles beiseite.“
Die landesweite Mobilisierung um den Esequibo fällt just in eine Phase, in der Regierung, rechte Opposition und die USA um die Bedingungen für die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr ringen: Am 17. Oktober hatten die Regierung und das Oppositionsbündnis Plataforma Unitaria Democrática in Barbados ein Abkommen über transparente Wahlen unterzeichnet, das als Grundlage für weitere Gespräche dienen soll. In einer zweiten Übereinkunft bekräftigen sie den Schutz der Landesinteressen. Dabei geht es zum einen um den Konflikt mit Guyana und zum anderen um die drohende Zerschlagung des venezolanischen Erdölunternehmens Citgo in den USA. Die Vereinbarungen beruhen auf diskreten Vorverhandlungen zwischen Venezuela und der US-Regierung. Diese lockerte im Gegenzug die Sanktionen gegen das südamerikanische Land.
Laut dem Abkommen soll die gemäß Verfassung für 2024 vorgesehene Präsidentschaftswahl in der zweiten Jahreshälfte stattfinden. Die politischen Lager bestimmen ihre jeweiligen Kandidaturen nach eigenen Regeln und setzen sich beim Nationalen Wahlrat (CNE) gemeinsam für umfassende Garantien ein. Dazu zählen laut der Vereinbarung unter anderem die Aktualisierung des Wählerregisters im In- und Ausland sowie glaubwürdige internationale Wahlbeobachtung. Hinzu kommen ein respektvoller öffentlicher Umgang, Gewaltverzicht, Förderung gleichen Zugangs zu Medien sowie die öffentliche Anerkennung der Abstimmungsergebnisse.
Zwar gibt es an dem Abkommen vereinzelt Kritik. So thematisiert es beispielsweise nicht die zukünftige Besetzung der staatlichen Institutionen oder die juristischen Eingriffe in die interne Führung mehrerer rechter und linker Parteien, darunter der Kommunistischen Partei (PCV). Dennoch gilt es als die weitreichendste Vereinbarung zwischen Regierung und Opposition seit dem Amtsantritt von Nicolás Maduro 2013.
In den vergangenen Jahren waren mehrere Dialogversuche zwischen Caracas und Opposition nicht zuletzt an der Haltung der US-Regierung gescheitert, ohne die aufgrund der Sanktionsfrage kaum ein Fortschritt möglich ist. Zu einer Annäherung kam es seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, da die Vereinigten Staaten wieder Öl aus Venezuela importieren wollen. Im November 2022 lockerte Washington im Zuge einer kurzzeitigen Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Maduro-Regierung und Opposition die Sanktionen im Erdölbereich bereits leicht. Der Energiekonzern Chevron darf über seine vier Joint Ventures mit dem venezolanischen Staatsunternehmen PDVSA seitdem Erdöl in die USA exportieren. Bis vor Kurzem lag der Dialog jedoch wieder auf Eis.
Unmittelbar nach Unterzeichnung des Abkommens von Barbados lockerte die US-Regierung die Sanktionen nun weiter. Der Handel mit und Investitionen in Erdöl, Gas und Gold sind vorerst wieder erlaubt. Die Lockerungen gelten zunächst für sechs Monate und können jederzeit zurückgenommen werden, sollte sich Caracas nicht an die vereinbarten Schritte hin zu transparenten Wahlen halten. Die US-Regierung erhielt außerdem die Erlaubnis, ab sofort Abschiebeflüge nach Venezuela durchzuführen – ein weiteres zentrales Interesse Washingtons, das aufgrund steigender Migrationszahlen aus Venezuela hinzugekommen ist.
Die Aufhebung der Sanktionen stellt aus Sicht der venezolanischen Regierung zweifellos einen Erfolg dar. Dem Staat dürfte die Rückkehr an die Rohstoffmärkte steigende Einnahmen bescheren, die die Regierung im Wahljahr dringend benötigt. Allerdings bräuchte der venezolanische Erdölsektor für eine deutliche Anhebung der Fördermenge milliardenschwere Investitionen, für die eine dauerhafte Aufhebung der Sanktionen nötig wäre.
Das Tauziehen um die Präsidentschaftskandidatur der Opposition droht die weitreichenden Vereinbarungen allerdings bereits zu torpedieren. Nur wenige Tage nach Unterzeichnung des Abkommens von Barbados hielt ein Großteil der Opposition am 22. Oktober interne Vorwahlen über eine gemeinsame Kandidatur ab. Weil mit dem CNE keine Einigung über das Datum erzielt werden konnte, lief die Abstimmung selbstorganisiert, also ohne institutionelle Unterstützung ab. Wie erwartet gewann die Hardlinerin María Corina Machado überaus deutlich. Sie erhielt 92,35 Prozent der Stimmen. Die Beteiligung gab die Vorwahlkommission mit gut 2,5 Millionen an, was die im Vorfeld eher niedrigen Erwartungen übertraf. Machado zählt seit über 20 Jahren zum rechten Rand der Opposition, hat sich in den vergangenen Jahren offen für eine US-Militärintervention in Venezuela ausgesprochen und will vor allem staatliche Unternehmen privatisieren. Seit Maduros Amtsantritt stand sie für den Flügel der Opposition, der (teils gewalttätige) Straßenproteste der Teilnahme an Wahlen vorzog.
Durch die Vorwahl ist Machado nun theoretisch die oppositionelle Präsidentschaftskandidatin. Allerdings ist ihr untersagt, für 15 Jahre öffentliche Ämter zu bekleiden. Derartige Antrittsverbote kann der Rechnungshof in Fällen von Korruption oder der Veruntreuung öffentlicher Gelder ohne Gerichtsbeschluss verhängen. Da es sich um administrative Entscheidungen handelt, die häufig intransparent erfolgen, sind sie sehr umstritten. In der Praxis setzt die Regierung dieses Instrument willkürlich ein. Davon betroffen sind nicht nur Politiker*innen der rechten, sondern auch der linken Opposition. Machado gewann die Vorwahlen auch deshalb so deutlich, weil sich der nach ihr aussichtsreichste Kandidat Henrique Capriles, der eine moderatere Linie vertritt und 2012 und 2013 unterlag, im Vorfeld zurückgezogen hatte. Als Begründung führte er das gegen ihn verhängte Antrittsverbot an.
In dem Abkommen von Barbados heißt es, dass alle Kandidat*innen, die „die rechtlichen Voraussetzungen erfüllen“, an den kommenden Wahlen teilnehmen dürften. Die Regierung machte im Anschluss an die Unterzeichnung des Abkommens aber deutlich, dass die Antrittsverbote nicht zurückgenommen werden könnten.
Die Aufhebung der Sanktionen erlaubt dem Staat die Rückkehr an die Rohstoffmärkte
Machado will dennoch Druck aufbauen, um teilnehmen zu können. Auch die US-Regierung erwartet, dass Caracas bis Ende November nicht nur einen verbindlichen Wahlkalender vorlegt, sondern zudem politische Gefangene freilässt und die Antrittsverbote zurücknimmt.
Die Opposition stellt die Kandidat*innenfrage vor ein Dilemma. Tatsächlich befürchten nicht wenige, dass Machado sich verrennt und die Regierungsgegner*innen am Ende ohne zugelassene Kandidatur dastehen. Ein fragwürdiger Schritt der Regierung führte allerdings dazu, dass vorerst sämtliche Oppositionsströmungen Machado den Rücken stärkten.
Ende Oktober erließ das regierungsnahe Oberste Gericht (TSJ) ein Urteil, mit dem es die komplette Vorwahl wegen „Betrugsvorwürfen“ für ungültig erklärt. Laut Regierung hätten sich an der Abstimmung nicht 2,5 Millionen, sondern lediglich 600.000 Menschen beteiligt. Geklagt hatte ein Vertreter der moderat-rechten Opposition, dem eine gewisse Nähe zur Regierung nachgesagt wird. Im selben Urteil bestätigte das Gericht auch das Antrittsverbot gegen Machado.
Abgesehen davon, dass derlei Schritte gegen eine privat organisierte Abstimmung fragwürdig sind, verstößt das Vorgehen nach Ansicht vieler Beobachter*innen gegen die in Barbados getroffene Vereinbarung. Noch ist unklar, ob das die gerade begonnene Annäherung zwischen Regierung und Opposition einerseits und den USA andererseits grundlegend gefährdet. Die venezolanische Regierung kalkuliert offensichtlich damit, dass die Opposition weiterhin zerstritten auftritt und spielt auf Zeit. In den kommenden Wochen steht nun zunächst das Referendum über die Esequibo-Region im Vordergrund.