Tote Seelen und politisch Bewusste
Unterschriftensammlung gegen Hugo Chávez vertieft die Spaltung des Landes
Am ersten Tage zeigten wir uns die Zähne, am zweiten gaben wir uns die Hand, am dritten waren wir Arbeitskollegen, wenn auch mit unterschiedlichen Auffassungen.“ So urteilte ein Verantwortlicher der Regierungspartei „Bewegung Fünfte Republik“ über seinen Kontakt zum Beobachter der Opposition. Der nickte zustimmend.
Nicht nur Hugo Chávez’ Präsidentschaft soll per Referendum zur Disposition gestellt werden. Vom 20. bis 24. November wurden an über 2000 Punkten („Tischen“) Unterschriften gegen oppositionelle Abgeordnete gesammelt. Die wartenden WählerInnen wussten, warum sie unterschreiben wollten: Der Parlamentarier Carlos Santafe war im Juli 2000 auf der Liste der Regierungspartei und deren Bündnispartner gewählt worden und später zur Opposition übergelaufen. Andere Abgeordnete waren in den gescheiterten Putsch vom 11. April oder den „Generalstreik“ vom Dezember 2002 verwickelt oder engagierten sich öffentlich gegen die von Präsident Chávez eingeleiteten sozialen Maßnahmen. Zu diesen zählen: medizinische Betreuung und Alphabetisierung in den Armenvierteln, 200.000 Studienplätze, 500.000 Freistellen zum Erwerb des Abiturs für Kinder der Armen sowie die Verteilung von fast zwei Millionen Hektar Land.
Die durch Volksentscheid 1999 beschlossene „Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela“ ermöglicht es, jeden gewählten Mandatsträger – vom Gemeindevertreter bis zum Staatspräsidenten – nach der Hälfte seiner Amtsperiode abzuwählen. Dies ist ein wesentliches Element der in der Verfassung verankerten partizipativen Demokratie. Kommen Unterschriften von mindestens 20 Prozent der Wahlberechtigten zusammen, kann die Abberufung durch geheime Wahl beantragt werden. Votieren dann mehr Wahlberechtigte gegen den Abgeordneten als bei seiner ursprünglichen Wahl für ihn, muss er seinen Sitz zu Gunsten eines Nachrückers räumen und darf auch bei der nächsten Wahl nicht kandidieren.
Regierungspartei bleibt sachlich
Jetzt ging es darum, mit der Abwahl von 38 Abgeordneten das parlamentarische Kräfteverhältnis wieder mit dem ursprünglichen Willen der WählerInnen in Übereinstimmung zu bringen. Durch Übertritte war die Regierungsmehrheit auf zwei Sitze geschrumpft. Die Abberufungsreferenden, auf die sich Regierung und Opposition am 29. April 2003 durch internationale Vermittlung einigten, gelten als Chance, die Opposition auf legale und demokratische Wege der politischen Auseinandersetzung festzulegen.
Doch die Polarisierung in der Bevölkerung ist allerorten spürbar. Selbst einfache Menschen besitzen einen erstaunlich hohen Grad politischen Urteilsvermögens. Man hätte etwas zu verlieren, wenn die Politik wieder von den alten Parteien gemacht würde. Während der von der Regierungsseite getragenen ersten Etappe der Unterschriftenaktion (vom 20. bis 24. November) überwog spürbar der sachliche Dialog. Selbst die übermächtigen privaten Medien gaben sich gemäßigt, nachdem sie erstaunt registriert hatten, dass im einzigen staatlichen TV-Kanal auch prominente Oppositionelle zu Wort kamen und der Präsident sich persönlich – telefonisch zugeschaltet – an der Diskussion mit ihnen beteiligte.
Unterschriften gegen den Präsidenten
In der zweiten Etappe der Unterschriftenaktion (28. November bis 1. Dezember) sammelte die Opposition Stimmen gegen Abgeordnete der Regierungspartei und – Kernstück ihrer Aktion – gegen den Präsidenten. In den Villenvierteln im Osten und auf den Anhöhen im Süden von Caracas, von wo aus kein Blick auf die Elendsquartiere fällt, bildeten sich am frühen Morgen des ersten Tages lange Menschenschlangen – lärmend und triumphierend, oft voller Verachtung und Hass auf den politischen Gegner. Scharfe Töne bestimmten wieder das politische Klima. Die Abfertigung der Wahl verlief stockend. Man leistete nicht nur die Unterschrift, mit notwendigen Personaldaten und Fingerabdruck, sondern erhielt auch ein Kärtchen, auf dem die Personalangaben sowie die Nummer und Zeile der Unterschriftenliste eingetragen wurden, „zur Kontrolle und Erinnerung“, wie es hieß.
Die „Kontrolle“, ob man gegen den Präsidenten unterschrieben hatte, fand in der Folge meist durch den Arbeitgeber statt. Entlassungsdrohungen standen im Raum. Zudem hatte sich neben vielen Tischen eine private Computer-Firma aufgebaut, um durch Einloggen in die zentrale WählerInnenliste zu kontrollieren, ob der Unterschreibende dort richtig registriert war – eine bequeme Methode, eine Datenbank „zuverlässiger“ BürgerInnen zu erstellen. Beide Praktiken wurden vom Nationalen Wahlrat, ein vom obersten Gericht gewähltes und aus Vertretern beider Lager zusammengesetztes Gremium, bald untersagt. Dennoch verteilte die Opposition unablässig Sticker mit der Aufschrift „Ich habe unterschrieben“. In den „besseren“ Quartieren heftete man sie sich ans Revers, in den gemischten Vierteln klebte man sie für alle Fälle auf die Rückseite des Personalausweises, in den Armenvierteln wurden sie gar nicht erst angeboten.
Präsident Chávez zählte auf einer Kundgebung am 1. Dezember weitere Beeinflussungs- und Betrugsmanöver auf: gefälschte Personalausweise, „tote Seelen“ in den Listen, Doppelunterschriften, Druck auf Bewohner von Altersheimen und selbst auf Patienten von Nervenkliniken. Spätestens 30 Tage nach Einreichung der letzten Listen soll nun der Nationale Wahlrat alle Unterschriften geprüft haben und das Ergebnis bekannt geben. Nach ersten inoffiziellen Angaben der Regierungsseite sammelte die Opposition 1,95 Millionen Unterschriften gegen den Präsidenten. Die Gegenseite behauptete schon nach drei Tagen, 4 Millionen Stimmen gesammelt zu haben. Am Ende waren es in der oppositionellen Presse dann noch 3,8 Millionen. Um die Abwahl des Präsidenten zu beantragen, wären 2,4 Millionen Unterschriften erforderlich. Doch selbst wenn die Opposition diese Stimmenanzahl erreicht: Gegen Hugo Chávez müssten im Referendum mehr als jene 3,7 Millionen WählerInnen stimmen, die ihn einst wählten. Und eine geheime Wahl ist dann doch noch etwas anderes als eine Unterschriftensammlung in aufgeheizter Atmosphäre.
Der Autor weilte als Mitglied einer internationalen Beobachtergruppe vom 20.11. bis 2.12. in Venezuela.