Musik | Nummer 402 - Dezember 2007

Unsichtbare Tiger

Relativ unbemerkt hat sich in Südamerika eine neue alternative Musikszene entwickelt

Verschiedene Bands haben in den letzten Jahren bewiesen, dass es in Lateinamerika möglich ist, erfolgreich experimentelle Musik zu machen.

Valentin Kramer

Es geht doch. Den fulminanten Beweis für die Aufstiegsmöglichkeiten unkonventioneller Bands lieferten zuletzt die BrasilianerInnen von CSS (Cansei de Ser Sexy / Keine Lust mehr, sexy zu sein). Bereits 2005 tauchten erste Demos von CSS im Dschungel der brasilianischen My Space-Variante Trama Virtual auf.
Der Electro Punk der fünf Film- bzw. Kunststudentinnen und eines Produzenten aus São Paulo schlug derart ein, dass noch im gleichen Jahr das Debütalbum veröffentlicht wurde. Nur wenig später übernahm die legendäre US-Plattenfirma SubPop den internationalen Vertrieb und brachte die Platte erfolgreich nach Übersee. Dabei hatte das Ganze als Experiment begonnen.
Man traf sich in miefigen Probekellern und spielte einfach drauflos. Dilettantismus als Ideal. Es wurde fortan fleißig dekonstruiert und gegen jede nur denkbare kompositorische Regel verstoßen. Heraus kam ein verschwitzter Bastard aus Disco, Punk und Rock ’n’ Roll. Wozu also noch sexy sein, wenn man als Freak genauso weit kommt?
Ähnliches muss sich auch die Argentinierin Juana Molina gedacht haben, als sie sich rücklings in ihr Elfenkostüm schwang. Bereits seit 1996 beglückt uns die mittlerweile 45-Jährige mit ihrem semi-akustischen Pop. Ein breiteres Publikum erreichte sie damit zuerst nicht. Zu irritierend wirken ihre hypnotischen, mit elektronischen Rissen durchzogenen Lieder, deren verquer-dynamische Strukturen bisweilen an den britischen Großmeister des meditativen Folks, Nick Drake, erinnern.
Ihre Bekanntheit in Lateinamerika verdankt sie allerdings eher ihrer früheren TV-Comedy-Show, Juana y sus hermanas (Juana und ihre Schwestern), die Anfang der Neunziger Jahre Kultstatus erreichte. Für Molina blieb es aber bis zuletzt nicht mehr als eine Verdienstmöglichkeit, um sich Miete und Gitarrenstunden leisten zu können.
Zu den ersten Konzerten kamen vor allem Fans ihrer Fernsehserie, die mit der neuen Ernsthaftigkeit ihres Idols nichts anfangen konnten. Doch mittlerweile muss sie sich über solche Dinge keine Gedanken mehr machen: ihr letztes Album Son stieß auch international auf offene Kritikerohren.
Von solchen Problemen sind die Compiuters aus Santiago de Chile noch weit entfernt. Sie legten von Anfang an Wert auf vollständige Unabhängigkeit von den Plattenfirmen.
Das erste Album wurde in einer Erstauflage von 200 Stück im Eigenverlag und – ähnlich wie bei CSS – im Internet vertrieben. Auch musikalisch schlagen sie in eine ähnliche Kerbe. Mit einfachsten Mitteln werden alte Synthesizer emuliert und mit Hip-Hop oder Punk aktualisiert. Im Fall der Compiuters taten es ein alterndes Notebook und ein geliehenes Mikrofon.
In Heimarbeit bastelten sie so ein minimalistisches Wunder, dessen Stil die Band selbst als Funky Rap Synthetizers bezeichnet. Wünschte man sich lange, die 80er Jahre mögen doch bitte auf ewig auf dem Friedhof der Popmusik verschimmeln, ist man angesichts solcher Reminiszenzen nun doch dankbar für Synthie-Pop und Spandex.
Im Song El tigre wiederholt Sängerin Manuela Baldovino formelartig „El tigre es lo que no ves“ und gibt damit das Motto für die südamerikanische Indie-Szene aus: Auch unsichtbare Tiger haben scharfe Zähne.

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