Unterirdische Rivalität
Die argentinische Regierung streitet mit der Stadt Buenos Aires über die U-Bahn
Mit der gefühlten Lautstärke eines startenden Flugzeugs setzt sich der Zug träge in Bewegung. Aufgrund des Lärms ist es schwierig, ein Gespräch zu führen. Um die Zeitung oder ein Buch zu lesen, wackelt der Wagen zu stark, einen Sitzplatz zu bekommen ist häufig kaum möglich und die Luft ist nicht nur an heißen Tagen stickig. Und doch ist die Fahrt in der Linie A der subte, der U-Bahn (Subterráneo) von Buenos Aires, immer etwas besonderes gewesen. Das holzvertäfelte Interieur, die Lampenschirme an der Decke und der Panoramablick neben der schmalen Fahrerkabine in den Tunnel hinein, verliehen den alten Wagen der Firma La Brugeoise ein für öffentliche Verkehrsmittel unvergleichliches Flair.
Vor beinahe 100 Jahren, am 1. Dezember 1913, wurde mit der Linie A die subte von Buenos Aires eröffnet. Heute reicht die „A“ von der Plaza de Mayo, wo der Präsidentenpalast Casa Rosada steht, bis ins westlich davon gelegene Mittelschichtsviertel Flores. Die subte war die erste U-Bahn auf der gesamten Südhalbkugel, ein Ausdruck von Fortschritt und Modernität. Nach einer frühen Expansionsphase stagnierte der Ausbau seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Heute verfügt die subte über sechs Linien und ein Streckennetz von knapp 50 Kilometern, was etwa einem Drittel der Streckenlänge der Berliner U-Bahn entspricht.
Die im belgischen Brügge gebauten Brugeoise-Wagen waren von Anfang an dabei. Ende dieses Jahres hätten die ältesten noch immer regulär verwendeten U-Bahn-Züge der Welt ihr 100. Betriebsjubiläum feiern können. Doch nach Ansicht der Stadtregierung von Buenos Aires entsprechen sie sicherheitstechnisch nicht mehr dem neuesten Stand. Ein bei der U-Bahn Barcelona in Auftrag gegebenes Gutachten hatte den Austausch der Wagen empfohlen, wenn auch ohne ein konkretes Datum zu nennen. Ersetzt werden sollen sie nun durch moderne, vollklimatisierte Züge aus China, elektronische Anzeigetafeln und Kameraüberwachung inklusive.
Die Meinungen zum Austausch der Züge sind nicht grundsätzlich ablehnend. „Einerseits finde ich es schade, weil sie für mich einen hohen symbolischen und emotionalen Wert haben“, sagt Ariel Caniza, der die Linie A täglich benutzt, um zur Arbeit bei einer Nichtregierungsorganisation zu fahren. „Andererseits brauchen wir einen besseren Service, den die neuen Wagen vermutlich bieten können.“ Der Kioskbesitzer Enrique Martínez, der in der U-Bahn-Station Congreso Zeitschriften verkauft, sieht das ähnlich: „Die Wagen sind gut für die Touristen, aber für die normalen Reisenden finde ich das nicht in Ordnung.“ Aller Kritiken seitens Nostalgiker_innen, Denkmalschützer_innen und Nutzer_innen zum Trotz, rollten am 12. Januar die letzten Brugeoise-Wagen über die Gleise. Verabschiedet wurden sie von klatschenden Passant_innen und fotografierenden Tourist_innen. Auch der belgische Botschafter kam vorbei und attestierte den in seinem Land erbauten Wagen scherzhaft „100 Jahre Garantie“.
Für hitzigere Diskussionen sorgte dagegen die vorübergehende Schließung der Linie A und die wiederholten Preiserhöhungen für die U-Bahn-Tickets. Unter anderem zur notwendigen Umstellung der elektrischen Spannung macht die komplette Linie A für 56 Tage ihre Pforten dicht, erst am 8. März sollen die chinesischen Wagen erstmals öffentlich fahren. Verfügt wurde die Maßnahme von der neoliberalen Stadtregierung unter Mauricio Macri und seiner Wahlallianz Republikanischer Vorschlag (PRO). Nach einem erbitterten Streit mit der Zentralregierung, der über ein Jahr lang andauerte, ging der Besitz der subte zum 1. Januar dieses Jahres vom Staat auf die Stadt Buenos Aires über. Betrieben und kommerziell genutzt wird die von öffentlicher Hand subventionierte subte seit 1994 in privater Konzession durch das Unternehmen Metrovías. „Ich kann technisch nicht beurteilen, ob die Schließung notwendig ist“, sagt Ariel Caniza, „aber es gibt viele Experten, die zumindest die Dauer als zu lang erachten“. Während sich am Montag nach der Schließung lange Schlangen vor den Bushaltestellen entlang der Linie A bildeten, schwang sich Caniza auf sein Fahrrad. Durchschnittlich wird die Linie Tag für Tag von 164.000 Passagier_innen genutzt, zur sommerlichen Ferienzeit im Januar sind es deutlich weniger.
Der Zeitungsverkäufer Enrique Martínez ist wie alle seine Kolleg_innen beruflich von der Schließung betroffen. Knapp 50 Kioske, die Zeitschriften, Getränke und Süßigkeiten verkaufen, befinden sich unterirdisch entlang der Linie A. „In den 18 Jahren, die ich schon hier arbeite, wurde allerhand erneuert, aber ich habe nicht einen Tag erlebt, an dem die subte deswegen geschlossen war. Sie haben immer nachts gearbeitet“, schüttelt Martínez den Kopf. „Und die Stadtregierung hat nicht einmal mit uns gesprochen“. Ebenso wie die anderen Kioskbetreiber_innen und -angestellte hat er von deren Plänen über die Medien erfahren. Erst zwei Tage vor der temporären Schließung nahm sich die Stadtregierung des Themas an. Eine Entschädigung will sie nicht übernehmen, da die Stellplätze für die Kioske von Metrovías vermietet werden. Metrovías hält sich für nicht zuständig, da die Vermietung an eine Subfirma ausgelagert worden sei. Schließlich erklärte sich die Stadtregierung dazu bereit, den Händler_innen zumindest die bis zum 12. Januar nicht verkaufte Ware abzunehmen. Auch sollen sie nach der Wiedereröffnung ein paar Monatsmieten erstattet bekommen. Bei den derzeit laufenden Verhandlungen über den Konzessionsvertrag will die Macri-Administration das Recht erlangen, zukünftig selbst den Raum auf den Gleisen vermarkten zu dürfen. Regierungsvertreter_innen der linksperonistischen Zentralregierung kritisierten die Schließung scharf. Das sei „Wahnsinn“, sagte der Innen- und Transportminister Florencio Randazzo und warf Macri vor, außer Preiserhöhungen bisher nichts für die U-Bahn getan zu haben. Die neuen Wagen habe zudem noch die Zentralregierung bezahlt.
Der Streit um den Umgang mit der Linie A ist nur eine Episode in dem Dauerkonflikt zwischen Stadt- und Zentralregierung. Bereits Ende 2011 hatte Macri der Übernahme der U-Bahn durch die Stadt zugestimmt, Anfang Januar 2012 wurde eine entsprechende Vereinbarung unterzeichnet. Diese sah unter anderem vor, dass die staatlichen Subventionen, die ursprünglich 1,60 Peso pro Fahrkarte betrugen, für 2012 um die Hälfte gekürzt und 2013 komplett eingestellt werden. Administrative Details sollten allerdings noch ausgehandelt werden. Auf Grundlage der Vereinbarung erhöhte die Stadt als erste Maßnahme die Preise für ein U-Bahnticket um 127 Prozent von 1,10 auf 2,50 Peso (knapp 40 Euro-Cents). Kurz darauf zog sich die Stadt jedoch aus den Verhandlungen zurück und wandte sich gegen die Übernahme der subte. Den ungewöhnlichen Schritt begründete Macri damit, dass die Zentralregierung die Bundespolizei aus den U-Bahn-Stationen zurückgezogen habe. Kurz darauf forderte er mehr Geld. Was folgte war ein chaotisches Jahr 2012, das von gegenseitigen Schuldzuweisungen und U-Bahn-Streiks geprägt war. Wer nun für die subte verantwortlich war, blieb offen. Erst am 20. Dezember ratifizierte das Parlament von Buenos Aires das Übernahmegesetz. Seit dem 1. Januar 2013 gehört die U-Bahn nun wieder offiziell der Stadt, so wie dies bereits teilweise vor 1994 der Fall gewesen war.
Ruhe kehrte dadurch allerdings nicht ein. Im Januar stritten Stadt und Zentralregierung nicht nur über die Schließung der Linie A, sondern vor allem über die Höhe des Fahrpreises munter weiter. Ohne Subventionen müsste der Preis für ein Ticket eigentlich bei über sechs Peso liegen, verkündete Bürgermeister Macri gleich am 1. Januar, um dann knapp zwei Wochen später eine erste Erhöhung auf 3,50 Peso bekannt zu geben, die voraussichtlich ab März gelten soll. Seitdem reißt die Kritik seitens der Regierung nicht ab. „Macri hat ein Problem in seiner Art zu denken, wenn er meint, der öffentliche Verkehr müsse rentabel sein“, sagte Innen- und Transportminister Randazzo. Dieser sei jedoch vor allem „sozial betrachtet rentabel, weil er der Inklusion dient“. Den Bürgermeister lud Randazzo zu einem Treffen, um ihn davon zu überzeugen, die Erhöhung zurückzunehmen. Nachdem Macri dem Treffen fern blieb und nur einen Stellvertreter schickte, der aber an der Erhöhung festhielt, hagelte es Kritik aus dem Regierungslager. Senator Daniel Filmus, der als Kandidat der Regierung zweimal die Bürgermeisterwahl gegen Macri verloren hat, warf diesem vor, stets einen Dialog mit der Zentralregierung zu fordern, die subte jedoch dazu zu benutzen, „die Regierung anzugreifen“, und sich als Oppositionschef zu profilieren. Macri, seit 2007 Bürgermeister der argentinischen Hauptstadt, liebäugelt offen mit einer Präsidentschaftskandidatur 2015. Innerhalb der vergangenen Jahre hat er sich zu einem der bedeutendsten Gegenspieler der linksperonistischen Zentralregierung entwickelt. Die Fahrpreiserhöhung stellt er als alternativlos da, weil die Regierung die Subventionen gestrichen habe. Zwar komme ein Teil der Kosten durch geplante Gebührenerhöhungen und die Vermietung von Geschäften wieder rein, dies reiche jedoch bei weitem nicht aus. Der seit langem beschlossene Ausbau des Streckennetzes sei daher mittelfristig nicht möglich. Die Regierung beharrt hingegen darauf, dass Buenos Aires seinen Haushalt so gestalten soll, dass die Subventionierung der subte weiterhin gewährleistet bleibt. So schieben sich die Kontrahent_innen gegenseitig die Schuld an der Situation der U-Bahn zu und hoffen, dass der jeweils andere vor der öffentlichen Meinung als Schuldiger dasteht. Währenddessen steigen immer mehr Menschen auf andere Fortbewegungsmittel um. Nach der Fahrpreiserhöhung Anfang 2012 sank die Zahl der Fahrgäste bereits um mehr als 20 Prozent.
Noch ist unklar, was mit den insgesamt 95 existierenden Brugeoise-Wagen geschehen soll. 15 sollen restauriert erhalten bleiben, für die meisten gibt es jedoch bisher noch keinen Plan. Tourist_innen und Liebhaber_innen der der alten U-Bahn-Züge können zumindest aufatmen. Wahrscheinlich werden an Wochenenden und Feiertagen zukünftig einige Fahrten in musealem Ambiente angeboten. Der Spaß wird jedoch sicher seinen Preis haben.