Urteilsverkündung in zehn Jahren
Ein Jahr nach dem Massaker an den Landlosen stocken die Mühlen der Justiz
Die brasilianische Verfassung von 1988 sieht vor, daß unproduktives Land für die Agrarreform enteignet werden kann. In Brasilien verfügen 2,8 Prozent der Grundeigner über 56,7 Prozent des Bodens. Brasilien weist damit die zweitstärkste Landbesitzkonzentration der Welt auf. Der politische Prozeß, der eine gerechtere Verteilung des Bodenbesitzes anvisiert, kommt seit Jahrzehnten kaum voran. Die Landlosenbewegung, die 4,8 Millionen Kleinbauernfamilien ohne Landbesitz vertritt, drängt die Regierung zur Beschleunigung der Agrarreform.
Im August 1994 begannen VertreterInnen der brasilianischen Landlosenbewegung Verhandlungen mit Beamten der staatlichen Agrarreformbehörde in Marabá, einer Provinzstadt im Süden Parás. Sie forderten die Behörde auf, abzuklären ob der 42.500 Hektar umfassende Macaxeira-Komplex, ein Großgrundbesitz von 13 Farmen, die Bedingungen zur Enteignung für die Agrarreform erfülle. Die regionale Agrarreformbehörde befand den Komplex für produktiv, obwohl sich nur wenige Rinder auf den Farmen befanden. Um diesen offensichtlich durch Bestechung zustande gekommenen Entscheid zu decken, wurde auf Bundesebene entschieden, eine der dreizehn Farmen – die 6.000 Hektar große Macaxeira-Farm – dem Besitzer für zwei Millionen Dollar abzukaufen. Empört über diesen Kaufentscheid, der nur einen Bruchteil des umstrittenen Bodens betraf, mobilisierte die Landlosenbewegung 3.000 Personen, welche Anfang März 1996 die benachbarte Formosa-Farm besetzten. Am 9. April starteten 650 Besetzer einen Protestmarsch Richtung Belém. Als der Protestzug eine Woche später in Eldorado dos Carajás Station machte, hatten sich Hunderte spontan dem Marsch angeschlossen, in der Hoffnung, auf diesem Weg ein Stück Land zu erhalten. Als die vom Gouverneur versprochenen Autobusse, die einen Teil der Landlosen zu Gesprächen nach Belém bringen sollten, nicht bereitgestellt wurden, blockierten die Landlosen die Hauptstrasse.
Der Gewaltexzeß der Militärpolizei
Am frühen Nachmittag des 17. Aprils – die Straße war bereits wieder freigegeben – tauchten aus zwei Richtungen mehrere Busse auf. Aus den Fahrzeugen stiegen 155 Militärpolizisten. Sie schossen mit Tränengaspetarden und gaben Maschinengewehrsalven in die Luft ab. Die Landlosen reagierten mit Steinwürfen und rannten mit drohend erhobenen Sensen und Macheten auf die Polizisten zu, was von einem lokalen Fernsehteam aufgezeichnet wurde. Überrascht schossen die Militärpolizisten mit Maschinenpistolen in die Menge und suchten hinter den Autobussen Schutz, um kurz darauf wieder aufzutauchen. Eine Fernsehjournalistin, die zu verhandeln versuchte, wurde beiseite geschoben; ein Militärpolizist riß die Videokassette aus der Kamera. Anschließend schossen die Beamten nochmals in die Menge. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab, daß die tödlichen Schüsse gezielt in den Brust- und Kopfbereich der Opfer abgegeben worden waren. Sieben der 19 Toten wurden mit ihren eigenen Macheten hingerichtet; zwei weitere durch Genickschüsse umgebracht.
Ein Heer von Landlosen
Der Bundesstaat Pará ist eine der konfliktreichsten Gegenden Brasiliens. Seit dem Beginn der Militärdiktatur 1964 bis zum Jahr 1995 wurden 527 Menschen bei Landkonflikten umgebracht.
Die strukturellen Gründe für das hohe Gewaltniveau der Region sind in der chaotischen Besiedelung des einstmals geschlossenen Urwaldgebietes und der damit zusammenhängenden starken Landbesitzkonzentration zu suchen.
Die Besiedlung des Südens von Pará begann, als in den Hügeln der Serra dos Carajás Eisenerz entdeckt wurde. Der Tagebau von Carajás, der vom halbstaatlichen Bergbaukonzern Vale do Rio Doce betrieben wird, wurde zum Kernstück des größten “Regionalentwicklungsprogramm” der Welt. Mit Hilfe von Krediten der Europäischen Gemeinschaft, von deutschen und japanischen Banken sowie der Weltbank wurde ein Gebiet von 895.000 Quadratkilometern als Projeto Grande Carajás erschlossen.
Neben der Mine, einer Eisenbahnlinie und einem Hochseehafen für den Eisenerzexport umfasste das Großprojekt ein gigantisches Wasserkraftwerk für die Tonerde- und Aluminiumherstellung. Auch die land- und forstwirtschaftliche Erschliessung der Region wurde von Großbetrieben dominiert. In den Nutzungsplänen des Projekts waren nur gerade 17 Prozent der Landwirtschaftsfläche für Kleinbauern vorgesehen. Zu wenig für das Heer von Landlosen, die aus allen Teilen Brasiliens in den Süden Parás zogen. Die meisten hatten der Mechanisierung der Landwirtschaft wegen ihren Hof aufgeben müssen oder waren von Großgrundbesitzern vertrieben worden.
Als in der Serra Pelada in der Nähe der Eisenerzmine Gold gefunden wurde, zog der Goldrausch noch einmal hunderttausend Menschen in den Süden Parás. Nur wenige machten das schnelle Geld; das Heer von Landlosen und Arbeitsuchenden wuchs weiter an. Seit der Fertigstellung der Großprojekte gibt es in der Region kaum mehr Arbeitsmöglichkeiten.
Schockierende Fernsehbilder
Landkonflikte sind den brasilianischen Medien oft keine Zeile wert. Das Ausmaß der Brutalität der Täter beim Massaker von Eldorado, die vielen Opfer, vor allem aber die Bilder des Konflikts im Fernsehen, haben die städtische Mittelklasse, die sich sonst kaum für Vorkommnisse im Hinterland interessiert, geschockt und empört. Angesichts der heftigen Reaktionen aus dem Ausland war die brasilianische Regierung bemüht, den Imageschaden zu begrenzen. Raul Jungmann, der Minister für “Grundbesitzpolitik”, versprach den Landlosen im Süden Parás ein Millionenbudget für Schulen und Gesundheitsposten. Das Büro der staatlichen Agrarreformbehörde in Marabá wurde direkt Brasília unterstellt und ein Teil des Personals ausgewechselt. Zudem wurde der Militärpolizei Parás verboten, bei Landkonflikten einzugreifen.
Die Landlosen als Feindbild
Für Carlos Guedes do Amaral, Anwalt der Hinterbliebenen der Opfer, ist der Befehlshaber des militärpolizeilichen Einsatzes, Oberst Pantoja, eine der Schlüsselfiguren des Massakers. Pantoja wurde seit Beginn der neunziger Jahren nicht müde, in der lokalen Presse zu verbreiten, er werde alles daran setzen, die Landlosenbewegung aus Pará zu vertreiben. Er brachte falsche Informationen in Umlauf, um die Landlosen zu diskreditieren und hetzte seine Polizisten gegen diese auf.
Wie stark die Basis der Militärpolizei gegen die Landlosenbewegung aufgebracht wurde, zeigte sich wenige Tage nach dem Massaker. In den Kasernen der Militärpolizei in Marabá drohten die Militärpolizisten mit einer Rebellion, falls die Landlosen nicht vor Gericht gestellt würden. Daraufhin klagte das Kommando der Militärpolizei willkürlich und ohne Beweise drei Mitglieder der Bewegung wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt an.
Unsachgemässe Untersuchungen
Die zivil- und militärpolizeilichen Untersuchungen des Massakers wurden von Anfang an nicht sachgemäß angegangen. Die Militärpolizei brachte die Toten zur nächsten Ortschaft und verunmöglichte damit eine korrekte kriminaltechnische Untersuchung am Tatort. Die Staatsanwaltschaft des Militärgerichts in Belém nahm bereits am 18. April ihre Arbeit auf. Eine Woche später reichten die Staatsanwälte jedoch ihren Rücktritt ein. Sie begründeten dies damit, daß ihnen weder Personal noch eine Transportmöglichkeit zur Verfügung gestellt worden war. Sie hätten den Tatort nicht innerhalb einer angemessenen Frist aufsuchen können. In ihrem Rücktrittsschreiben warnten die Staatsanwälte davor, nur die Militärpolizei für das Massaker haftbar zu machen. Die Rolle des Gouverneurs und anderer staatlicher Instanzen sollte ebenfalls untersucht werden. Zu oft sei in solchen Fällen lediglich die Militärpolizei zur Verantwortung gezogen worden, die Rolle der anderen Organe jedoch im Dunkeln geblieben.
Die in der Folge eingesetzte zweite Equipe schloß ihre Arbeit im Juli ab. Gemäß Guedes do Amaral wurde in dieser wie auch in der zivilpolizeilichen Untersuchung etliches Beweismaterial zerstört, zurückgehalten oder schlicht ignoriert. Die Befehlskette, die vom Gouverneur des Bundesstaates Pará, Almir Gabriel, bis zum Militärpolizei-Kommando reiche, könne nicht mehr rekonstruiert werden. Die staatliche Telefongesellschaft Telepará registrierte am Vormittag des Massakers 26 Direktverbindungen zwischen dem Gouverneurspalast in Belém und dem Hauptquartier der Militärpolizei in Marabá. Weder sei dieser Sachverhalt in den Gerichtsakten vermerkt worden, noch ein Exekutivvertreter – Gouverneur Almir Gabriel oder einer seiner Untergebenen – vernommen worden, monierte der Anwalt der Hinterbliebenen. Auch die Aussage des Geschäftsführers der Autobusfirma Transbrasiliana, wonach der halbstaatliche Bergbaukonzern Companhia Vale do Rio Doce den Transport der Militärpolizei nach Eldorado bezahlt habe, liege den Akten nicht bei.
Urteilsverkündung im Jahre 2007
Die Staatsanwaltschaft entschied, alle 155 beteiligten Militärpolizisten anzuklagen, obwohl laut Guedes do Amaral bekannt sei, daß sich unter ihnen eine Todesschwadron befand, eine Gruppe von etwa zehn Männern, die im Auftrag von Großgrundbesitzern Morde verübt habe und die bei ihrem Einsatz in Eldorado carte blanche erhalten habe. Da nach brasilianischem Recht jeder Angeklagte Anrecht auf acht Zeugen hat, wird sich das Geschworenengericht über 1240 Personen anhören müssen. Die Urteilsverkündung ist deshalb frühestens im Jahre 2007 zu erwarten. Es ist zu vermuten, daß dieser Prozeß als längstes Gerichtsverfahren vor einem Geschworenengericht in die Geschichte Brasiliens eingehen wird.
Ein Jahr nach dem Massaker in Eldorado dos Carajás ist es angesichts der lückenhaften polizeilichen Untersuchungen mehr als ungewiß, ob jemals jemand für das Verbrechen haftbar gemacht werden kann. Die Straflosigkeit bei Morden im Zusammenhang mit Landkonflikten hat in Pará Tradition. Bei den 527 Fällen zwischen 1964 und 1995 kam es zu vier Verurteilungen. Von rechtsstaatlichen Verhältnissen ist das brasilianische Hinterland weit entfernt.