Brasilien | Nummer 497 - November 2015

Verdrängen für Olympia

Eine Reportage über den Widerstand einer Favela, die dem neuen Olympiapark weichen soll

Ihre Infrastruktur haben sie einst selbst geschaffen und sich die formale Anerkennung ihrer Siedlung erkämpft. Nun sollen die Bewohner*innen der Vila Autódromo Platz für die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro machen. Doch sie leisten Widerstand in diesem ungleichen Kampf.

Stefanie Lipf

Dass der Weg in die Vila Autódromo nicht der kürzeste ist, wurde mir schon vor meinem Besuch von verschiedenen Seiten berichtet. So war ich froh, dass die geplante Begehung erst um 14 Uhr beginnen sollte – außerhalb des horário pico, dem werktäglichen Wahnsinn, der die Straßen Rios für Stunden mit dem Berufsverkehr verstopft. Um den richtigen Bus zu finden, bedarf es jedoch mehrerer Nachfragen, bis mich ein freundlicher Busfahrer zur richtigen Haltestelle des Busterminals begleitet – wohl aus Verwunderung über mein abgelegenes und ungewöhnliches Ziel.

Foto: Catalytic Communities (CC BY NC SA 2.0)
Foto: Catalytic Communities (CC BY NC SA 2.0)

Die Veranstaltung, die dort heute stattfinden soll, wird organisiert von Student*innen des Instituts für Stadt- und Regionalplanung der UFRJ, der staatlichen Universität in Rio de Janeiro. Hintergrund für das Treffen ist die akut drohende Zwangsräumung mehrerer Häuser des Viertels: Obwohl der Bürgermeister Eduardo Paes 2013 öffentlich versprochen hatte, wer bleiben möchte, könne bleiben, kam es wenige Tage zuvor zu einem in Gewalt eskalierten Räumungsversuch. Die städtische Polizei, die sogenannte Guarda Municipal, versuchte dabei, den Widerstand der Bewohner*innen mit Pfefferspay und Gummigeschossen niederzuschlagen. Mindestens sechs Bewohner*innen wurden dabei verletzt. Die Räumung konnte mithilfe der Defensoria Pública, eine Art Staatsanwaltschaft für schutzwürdige Gruppen, verhindert werden: Sie bewies, dass das Vorhaben einen bundesstaatlichen Gerichtsbeschluss ignorierte, der eine Zwangsräumung der Vila Autódromo eingestellt hatte. Seitdem sind die Bewohner*innen und ihre Unterstützer*innen in Alarmbereitschaft.

Angegebener Treffpunkt ist der Eingang der Favela, der einem Baustellenparkplatz gleicht. Direkt daneben sind die Bauarbeiten im Olympiapark in vollem Gange. Es ist ein heißer Tag, der Sand wird durch die heranfahrenden Lastwagen aufgewirbelt. Ein abstruses Bild bietet sich – die Rohbauten mehrerer Hochhäuser türmen sich neben den zum Teil bereits zerstörten Häuserfassaden der Favela. Graffiti und Transparente mit Aufschriften wie „Nein zur Zwangsräumung!“ geben einen ersten Eindruck von dem Kampf, der hier ausgefochten wird.
Um Zutritt zur Favela zu bekommen, muss eine provisorisch erbaute Barrikade passiert werden – seit dem Tumult vor ein paar Tagen wird versucht, den Eingang rund um die Uhr zu bewachen. Unter einem behelfsmäßig aufgebauten Pavillon wird dem Wachposten gerade das Mittagessen gebracht; die langsam eintrudelnden Teilnehmer*innen der Begehung werden mit Kaffee und Cola begrüßt. Nach und nach füllt sich der Platz mit Student*innen, Wissenschaftler*innen und anderen Interessierten. Inalva ergreift das Wort. Die zierliche Frau mit der festen Stimme, die gegen den Lärm der Baustelle ansprechen muss, lebt seit den 1980er Jahren in der Vila Autódromo, und hat deren Anwohner*innenvereini- gung mitgegründet. Seitdem setzt sie sich für ihren Stadtteil ein und ist ein präsentes Gesicht des Widerstands der Favela. „Die lokale Infrastruktur, Elektrizität, Wasserversorgung, Kanalisation – das alles wurde von den Bewohner*innen selbstorganisiert geschaffen – ohne die Hilfe der Regierung“, berichtet Inalva.

Foto: Catalytic Communities (CC BY NC SA 2.0)
Foto: Catalytic Communities (CC BY NC SA 2.0)

Entstanden ist die Vila Autódromo aus einer Ansiedlung von Fischer*innen in den 1960er Jahren. Mit den Jahrzehnten und aufgrund des zunehmend expandierenden Immobilienmarkts zogen mehr und mehr Familien, die aus den Favelas in den zentralen Teilen Rios vertrieben wurden, in die abgelegene Gegend in der Westzone. Seit 1987 ist die Siedlung formal organisiert und besitzt ein eigenes Statut. Ein formelles Nutzungsrecht für eine Zeit von 99 Jahren sprach der Staat Rio de Janeiro den Bewohner*innen 1998 zu. 2005 schließlich wurden Teile des Areals durch einen Gesetzeserlass als Gebiet von besonderem sozialen Interesse erklärt.
Trotzdem ist seit Beginn der 1990er Jahre das Bestehen der Siedlung bedroht. Die Gründe, die die Stadt für eine Räumung bisher anbrachte, sind vielfältig. So hieß es beispielsweise, sie verursache „ökologischen und ästhetischen Schaden“. Alle Argumente der Stadtverwaltung konnten allerdings von technischen Spezialist*innen der Defensoria Pública widerlegt werden.

Mit der Wahl Rios zum Austragungsort der Olympischen Spiele 2016 wurde die Gefahr einer Räumung jedoch wieder aktuell: 2009 gab die Stadt bekannt, die Vila Autódromo gehöre zu den Favelas, die für die Spiele umgesiedelt werden müssen. Diesmal diente eine angebliche Forderung des Olympischen Komitees als Rechtfertigung für eine Räumung. Neue Projekte entstanden für die Region, die angesichts der sich ausbreitenden Stadt vermehrt in den Fokus von Immobilienspekulation gerät. Die Regierung baute die Infrastruktur rund um die Vila Autódromo massiv aus. Die Siedlung selbst aber profitierte nicht von diesen Maßnahmen – eine städtebauliche Versorgung sei aufgrund ihrer Lage nicht möglich, so die offizielle Begründung.

Gemeinsam mit zwei Universitäten Rios‘, den lokalen Basisinitiativen des Comitê Popular und anderen Wissenschafler*innen entwickelten Bewohner*innen der Vila Autódromo daraufhin den sogenannten plano popular, einen alternativen Bebauungsplan. Dieser beweist, dass für die Konstruktion des Olympischen Parks keine Räumung notwendig und eine Verbesserung der Infrastruktur der Siedlung durchaus möglich ist. Konzepte wurden erstellt für die Abwasserentsorgung, die Sanierung der Häuser, den Ausbau der Gesundheitsversorgung, wie auch für eine bessere Anbindung an Schulen und kulturelle Einrichtungen. 2013 gewann der Plan den Urban Age Award, der von der Deutschen Bank in Kooperation mit der London School of Economics and Political Science vergeben wird.

Der Bürgermeister reagierte jedoch erst nach den großen Protesten im Juni 2013 auf den Vorschlag und erklärte sich zu Verhandlungen bereit. Die Stadt legte einen Gegenvorschlag vor, der allerdings nur wenig von der Siedlung übrig ließ: „Viele hätten bei diesem Plan ihre Häuser verlassen müssen, damit eine Zufahrtsstraße für den Olympiapark gebaut werden kann“, berichtet Maria, die seit Mitte der 1990er Jahre mit ihrer Familie in der Vila Autódromo lebt. Als die Bewohner*innen eine weitere Version präsentierten, die all das bein-haltete, was die Stadt vorsah, nur eben die Zufahrtsstraße außerhalb der Favela verlaufen ließ, brach die Stadt die Verhandlungen ab.

Von nun an wurde versucht, mit den Familien einzeln zu verhandeln. „Die von der Stadtverwaltung kamen, teilweise mit unterschiedlichen Informationen, um mit den Leuten zu reden. Das war eine regelrechte Belagerung“, sagt Maria. Dabei waren Bedrohungen und Einschüchterungsversuche nicht selten. „Vielen wurde gesagt, wenn sie nicht von alleine gingen, würden sie alles verlieren“, so Maria.

Trainieren für Olympia Hier soll es nächstes Jahr höher, weiter, schneller gehen. Foto: Catalytic Communities (CC BY NC SA 2.0)
Trainieren für Olympia Hier soll es nächstes Jahr höher, weiter, schneller gehen. Foto: Catalytic Communities (CC BY NC SA 2.0)

Als wir durch die Straßen gehen, wird mir bewusst, warum der Ausdruck „Kriegsszenario“ so häufig verwendet wird, um die Siedlung zu beschreiben: Zwischen den Ruinen reihen sich nur wenige noch intakte Häuser, die ehemals ebenen Straßen sind durchzogen von Schlaglöchern, Teile des Wohnungsinventars der Familien, die nur das Nötigste mitgenommen haben, liegen zwischen Bauschutt und zerstörten Fassaden. An den Wänden prangen Schriftzüge: „Ich will bleiben – wir kämpfen weiter!“

„Sobald eine Familie ihr Haus verlässt, stehen schon die Bagger bereit“, erklärt uns Altair, der Vorsitzende der Anwohner*innenvereinigung. Das geht sogar so weit, dass die Fassaden der Nachbarhäuser mit beschädigt werden. „Diese grausame Verdrängungspraxis gibt es schon seit vielen Jahren in Rio de Janeiro: Sie demolieren das Haus, reißen aber nicht alles ab. So müssen die, die sich entschieden haben, zu bleiben, in einem Trümmerfeld leben“. Bis sie irgendwann selbst gehen. „Das ist eine Form von psychischem Terror“.
Altair hat schon zwei Zwangsumsiedlungen hinter sich (siehe LN 471/472). „Und diesmal sehe ich, wie meine Tochter das Gleiche durchmachen muss wie ich damals. Sie leidet sehr darunter, viele ihrer Freunde haben die Siedlung bereits verlassen.“

Ein Großteil dieser Familien wurde in den „Parque Carioca“ umgesiedelt, eine Wohnanlage, die rund einen Kilometer entfernt liegt. Andere entschieden sich für eine finanzielle Entschädigung. Die Entschädigungszahlungen sind eine Besonderheit – die meisten Menschen, die ihre Häuser in den Favelas Rio de Janeiros verlassen müssen, werden in große Gebäudekomplexe umgesiedelt, die oft 50 Kilometer von ihrem alten Zuhause entfernt liegen. Ohne die Möglichkeit, den neuen Ort frei wählen zu können. Altair will bleiben: „Auch wenn mir gesagt wird, die neuen Wohnungen sind großartig – ein Zuhause, das sind nicht nur vier Wände; das ist auch die Geschichte der Gemeinde, die Identität jedes Einzelnen.“

Und das alles für ein Event, das einen Monat andauert? Für den Bau des Olympiaparks ist ein Konsortium aus den Unternehmen Odebrecht, Andrade Gutierrez und Carvalho Hosken zuständig. Und diese planen, auf dem Areal des Parks nach Austragung der Spiele mehrere Wohnanlagen mit Luxusapartments zu bauen. „Wenn ich ein Unternehmer wäre, und auf einem Grund bauen würde, neben dem eine Favela steht, würde ich auch alles versuchen, und gut dafür bezahlen, dass diese verschwindet. Denn die Favela mindert den Wert meines Projekts“, meint Altair.

Von den ursprünglich ungefähr 580 Familien, die bis Februar 2014 in der Vila Autódromo gelebt haben, sind noch ungefähr 190 dort. Woher sie die Kraft für diesen Kampf nehmen? „Wir haben alle Angst, aber wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Wie viele Gemeinden sind schon geräumt worden, weil es keinen Zusammenhalt unter den Bewohner*innen gab?“ meint Inalva. Maria fügt hinzu: „Wir denken viel an die Familien, die hier gelebt haben. Aber was sollen wir tun? Das Leben geht weiter, und wir müssen weiter kämpfen.“


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