Brasilien | Nummer 275 - Mai 1997

Verhungern oder Land besetzen

Die Landlosenbewegung zwischen radikaler Opposition und politischem Realismus. Ein Interview mit Carlos Bellé von der nationalen Koordina­tion der Landlosenbewe­gung

Laurette von Mandach, Andreas Missbach

Am 17. April ver­gangenen Jah­res hat die Mili­tärpolizei in El­dorado dos Ca­rajás 19 Land­lose umgebracht. Der MST scheint nach dem Massaker trotz der Tragödie ge­stärkt worden zu sein.

Dieser Eindruck stimmt. Ob­wohl die Gewalt dem MST na­türlich zunächst einmal schadet, weil die Menschen ein­ge­schüchtert werden und Angst ha­ben, sich an unseren Aktionen zu be­teiligen. Die brasilianische Ge­sellschaft und auch das Aus­land haben je­doch sehr heftig auf das Mas­saker reagiert. Eldorado ist ja kein Einzelfall, aber (FHC) Fern­ando Henrique Cardoso hat­te versucht, eine staatsmänni­sche Position einzunehmen, um den Eindruck zu erwecken, die Menschen­rechte in Brasilien würden respektiert und die so­zialen Probleme gelöst. Ein Kon­flikt von einem solchen Ausmaß, in den ein Gouverneur der Partei von FHC verwickelt ist, wird von der Bevölkerung nicht mehr einfach hinge­nommen. Die Re­gierung mußte reagieren, und seit dem Massaker ist deshalb der Prozeß der Ansiedelung von Landlosen deutlich be­schleunigt worden. Die Gesellschaft hat aber auch erkannt und teilt un­sere Einschätzung, daß die Agrarreform ein Mittel ist, die Pro­bleme der Städte zu lösen und die urbane Gewalt zu redu­zieren.

Der MST ist einerseits radi­kale Opposition, andererseits hängt die Bewegung jedoch von Staatsgeldern ab, vor allem von der Agrar­reformbehörde IN­CRA (Instituto Nacional de Co­lo­nizaçao e Reforma Agrá­ria). Gerät die Bewegung damit nicht in eine widersprüchli­che Po­sition?

Für uns ist das kein Wider­spruch, son­dern es ist der einzige Weg, die Lösung. Für uns wäre es ein Widerspruch, wenn wir, um das Geld zu erhalten, der Re­gierung in den Arsch kriechen, zu Opportunisten wür­den. Das ist genau das, was uns von an­der­en Bauernbewegungen in Bra­silien unter­scheidet. Die anderen sind der Illusion ver­fallen, daß, wenn sie versuchen, der Regie­rung zu gefallen, diese ihre Anliegen erfül­len werde. Aber so funktioniert das hier nicht. Du erreichst nur etwas vom Staat oder von der Regie­rung, wenn du viele Leute hast, gut organisiert bist und Druck machst. Sonst erhältst du keine Unterstützung.
Die Agrarreform wird heute von der Rechten wie der Linken als notwendig aner­kannt, weil die Landlosenbewe­gung, die Land­pastorale der Kir­chen und ein Teil der Gewerk­schaften auf dem Land Druck gemacht haben und machen. Wir sind nicht Opposition, weil uns die Pläne der Regierung zur Agrarreform nicht passen, son­dern weil diese nicht ausgeführt werden, und weil das neoliberale Projekt von FHC an der Krise der bra­silianischen Landwirt­schaft schuld ist.

Neoliberalismus ist ein be­liebtes Schlag­wort, wie lautet denn die Kritik des MST an der Wirtschaftspolitik von Fer­nan­do Henrique?

Die brasilianische Landwirt­schaft ist heute wegen der Stabi­litäts- und Wechsel­kurspolitik bankrott. Die Währung ist durch den Plano Real dermaßen über­bewertet, daß die nationale Pro­duk­tion gegenüber Importen nicht mehr konkurrenzfähig ist. Die Klein­produzentInnen sind die Verlierer, sie er­halten für ihre Pro­dukte nicht einmal die Produktionskosten.
Die Regierung selbst hat in ei­ner Studie festgestellt, daß in den nächsten drei Jahren 15-20 Pro­zent der Landbevölkerung zu­sätz­lich in die Städte abwan­dern wird, wenn sich die Agrar­politik nicht ändert. Es gibt aber auch eine makro­ökonomische Dimen­sion. Brasilien war einer der größten Baumwoll-Expor­teure, heute ist Brasilien der zweit­größte Importeur. Beim Getreide und Mais geschieht ge­nau das glei­che. Selbst der größte Soya­produzent der Welt, eine brasi­lianische Firma, ist daran, aus der Landwirtschaft auszusteigen.
Das führt dazu, daß wir die Dy­namik der Landreform be­schleunigen können. Für viele Großgrundbesitzer ist der Ver­kauf von Land an die Regierung das größere Ge­schäft, als eine Landwirtschaft zu betreiben, die kaum noch etwas einbringt. Zu­dem ist der Wert des Bodens ge­fallen. Die Regierung kann heute mit den gleichen Mitteln mehr Land enteignen.

Aber mit dieser Politik stehen doch auch die assentamentos, die Siedlungen des MST, vor großen Schwierigkeiten. Eine kleinbäuer­liche Landwirtschaft hat doch ohne Importschutz und ohne Subventionen keine Chance.

Die assentamentos konnten deshalb über­leben, weil es uns gelang, für die Siedlungen der Agrarreform eine Kreditlinie zu erkämp­fen, bei der nur die Hälfte zurückbezahlt werden muß. Das bedeutet also, daß wir eine Art Subvention für die Produktion der as­sentamentos haben, etwas, was es sonst in Brasilien nicht gibt. Dennoch lohnt sich die In­vestition für die Regierung, denn es ist die mit Abstand billigste Form, Arbeitsplätze zu schaffen.
Zweitens versuchen wir die Produktion auf den assentamen­tos in Kooperativen zu organisie­ren. So können wir unsere Kräfte bündeln, die Investitionen besser verteilen und unsere Leute besser ausbilden und spe­zialisieren.

Wie geht die Regierung mit der oppositio­nellen Haltung des MST um?

Die Strategie der Regierung hat zum Ziel, die Landlosenbe­wegung zu zerschlagen. Sie hat uns zu ihrem Hauptfeind erklärt. Einer­seits, weil unsere Position durch die allge­meine Krise der Landwirtschaft gestärkt wurde – unsere Kämpfe haben massiv zuge­nommen – andererseits auch, weil sich die brasilianische Linke verloren hat. Die Ge­werk­schafts­bewegung, die Par­teien der Lin­ken, sind gespalten, verwickelt in interne Diskussio­nen. Sie treten kaum noch kämp­ferisch auf. Wir halten uns nicht mit solchen Dingen auf, sondern kämpfen, und deshalb beunruhi­gen wir die Regierung.
Wie die Regierung gegen uns vorgeht? Da die Landlosendbe­wegung eine große Glaub­würdigkeit in der Gesellschaft hat und 87 Prozent der Bevöl­kerung die Agrarreform unter­stützt, versucht die Regierung, den Eindruck zu erwecken, daß sie eine wirkliche Landreform durchführt und daß die Bevöl­kerung deshalb statt dem MST die Regierung unterstützen soll. Die Regierung versucht deswe­gen die Bewegung durch die Verbrei­tung von Falsch­meldungen schlecht zu ma­chen. Die Vorwürfe gegen uns sind immer die gleichen. Es heißt, wir wür­den Staatsgelder ver­untreuen. Dabei haben wir schon mit dem INCRA darüber ver­handelt, daß der kleine Pro­zentsatz der Kredite, den die assenta­mentos an unsere Organi­sation weiterleiten, formal gere­gelt werden sollte. Zweiter Punkt: Die Regierung sagt. wir seien Radikale und Sektierer und seien nicht verhandlungsbe­reit. Da­bei verhandeln wir jeden Tag mit ihnen! Drittens wirft man uns vor, wir wür­den Gewalt pre­digen und unsere Familien in le­bensbedrohende Situationen brin­gen.
Wenn es dann wirklich zu blutigen Konflikten kommt, ver­sucht man uns dafür verantwort­lich zu machen. In re­gelmäßigen Abständen wird auch immer wie­der die Meldung ver­breitet, wir würden eine Gue­rilla planen, Leu­te bewaffnen und ein brasi­lianisches Chiapas vorbereiten.
Schließlich werden wir dafür angegriffen, daß wir auch zu all­gemei­nen Themen der brasi­li­anischen Politik – wie den Pri­va­tisierungen oder der Dis­kussion um die Wiederwahl des Prä­sidenten – unsere Stimme er­he­ben. (Präsident Fernando Henri­que Cardoso hat Anfang des Jah­res eine Verfassungsän­derung durchs Parlament ge­bracht, die ihm eine Wiederwahl er­mög­licht, A.d.R.)

Wo liegt für die Landlosen das Problem, wenn der Präsi­dent erneut kandidieren kann?

Die Möglichkeit der Wieder­wahl des Prä­sidenten erhöht die Chance, das neoliberale Projekt in Brasilien endgültig zu ver­wirkli­chen. Sie erlaubt der­selben po­litisch-ökono­mischen Gruppe, bis zu zwanzig Jahren an der Macht zu bleiben. Wer das neoliberale Projekt unter­stützt, ist für die Wiederwahl, wer die brasilianische Gesell­schaft radikal verändern möchte, muß dagegen sein.

Aber in einer Demokratie be­steht ja immer noch die Mög­lichkeit, einen Präsidenten nicht wiederzuwählen, auch wenn die Wiederwahl grundsätzlich er­laubt ist.

Die Frage der Wählbarkeit, oder allgemei­ner der Demokra­tie, ist in Brasilien nicht dieselbe wie in Europa oder anderen Län­dern. Einer Gruppe, die an der Macht ist, fällt es immer leichter, sich als hegemoniale Gruppe zu eta­blieren. Brasilien ist Welt­meister in der Einkommenskon­zentration und hat riesige soziale Probleme, weil die politi­sche Macht so konzentriert und fest­gefahren ist. Keiner Regierung in der Geschichte Bra­siliens vor Fernando Henrique ist es gelun­gen, die Parteien des Zentrums und der Rechten – PSDB, PMDB und PFL – in einer Regierung zu vereinigen und eine so umfas­sende Hegemonie aufzubauen. Deswegen können sie im Parla­ment machen, was sie wollen. Wenn Fernando Henrique nicht einen großen Fehler begeht, so wird dem hege­monialen Block auch seine Wiederwahl gelin­gen. Rede Globo (der dominierende Fernseh­sender, A.d.R.) betreibt be­reits Wahlkampf. Alle wichtigen Me­dien verteidigen die erneute Kandidatur. Für uns ist deshalb die Demoka­tie, soweit sie nur die Stimmabgabe umfaßt, sehr rela­tiv. Es gibt ein umfassendes Polit­marketing und in Zeiten des Wahlkampfs werden Illusionen geschürt und das Paradies gepre­digt.

Wenn die Wirkung der Mas­senmedien der­maßen groß ist, schadet denn die Regie­rungspropaganda dem MST nicht sehr?

Die Regierung sieht die Agrarreform nicht als Notwen­digkeit und die Krise der Land­wirtschaft nicht als Problem. Die Kon­flikte, die Landbesetzungen des MST, sind für sie das Pro­blem. Wenn die Regierung eine so absurde Lesart der Probleme hat, dann wird ihre Politik auch nichts zur Ab­nahme der Kon­flikte beitragen. Unser Kampf hat eine Dynamik, die die Regie­rung nicht zerschlagen kann. Die Bevölkerung sieht un­sere Sied­lungen, unsere Besetzungen in den Regionen.
Der große Pro­testmarsch, den wir jetzt gerade durchführen, hat unter anderem gerade auch das Ziel, ohne Ver­mittlung der Me­dien mit der Be­völkerung direkt ins Ge­spräch zu kommen. Da kann die Regierung Falschmel­dungen verbreiten so­lange sie will, die Leute sehen, daß das Problem weiterbe­steht und daß wir eine Lösung anbie­ten. Wir ha­ben schon zwischen 40 und 50 Ge­meinden, für die unsere An­sied­lungen die Hauptein­nah­mequelle darstellen. Ge­meinden, die be­reits beinahe bankrott sind- nicht auszumalen, wie sie ohne un­sere assenta­mentos dastehen wür­den. In Paraná (Bundesstaat in Südbra­silien A.d.R.) gibt es Ge­meinden, wo der Bür­ger­meister den Ange­stellten der Prä­fektur freigibt, wenn wir ein Tref­fen veranstal­ten, damit sie da­ran teil­nehmen können. Schon über die Hälfte der Bevölkerung un­terstützt Be­setzungen als le­gi­ti­mes Mittel im Kampf um Land. Und andere Gruppen, in der Peri­pherie der Städte bei­spielsweise, be­ginnen unsere Methode zu ko­pieren. Es gibt heute keine Alternativen um zu Überleben. Die Landflucht ist keine Lö­sung mehr, in Sao Paulo eine Arbeit zu fin­den ist unmög­lich. Was machst du in einer sol­chen Situation? Wirst du ver­hungern oder Land besetzen?

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