Verhungern oder Land besetzen
Die Landlosenbewegung zwischen radikaler Opposition und politischem Realismus. Ein Interview mit Carlos Bellé von der nationalen Koordination der Landlosenbewegung
Am 17. April vergangenen Jahres hat die Militärpolizei in Eldorado dos Carajás 19 Landlose umgebracht. Der MST scheint nach dem Massaker trotz der Tragödie gestärkt worden zu sein.
Dieser Eindruck stimmt. Obwohl die Gewalt dem MST natürlich zunächst einmal schadet, weil die Menschen eingeschüchtert werden und Angst haben, sich an unseren Aktionen zu beteiligen. Die brasilianische Gesellschaft und auch das Ausland haben jedoch sehr heftig auf das Massaker reagiert. Eldorado ist ja kein Einzelfall, aber (FHC) Fernando Henrique Cardoso hatte versucht, eine staatsmännische Position einzunehmen, um den Eindruck zu erwecken, die Menschenrechte in Brasilien würden respektiert und die sozialen Probleme gelöst. Ein Konflikt von einem solchen Ausmaß, in den ein Gouverneur der Partei von FHC verwickelt ist, wird von der Bevölkerung nicht mehr einfach hingenommen. Die Regierung mußte reagieren, und seit dem Massaker ist deshalb der Prozeß der Ansiedelung von Landlosen deutlich beschleunigt worden. Die Gesellschaft hat aber auch erkannt und teilt unsere Einschätzung, daß die Agrarreform ein Mittel ist, die Probleme der Städte zu lösen und die urbane Gewalt zu reduzieren.
Der MST ist einerseits radikale Opposition, andererseits hängt die Bewegung jedoch von Staatsgeldern ab, vor allem von der Agrarreformbehörde INCRA (Instituto Nacional de Colonizaçao e Reforma Agrária). Gerät die Bewegung damit nicht in eine widersprüchliche Position?
Für uns ist das kein Widerspruch, sondern es ist der einzige Weg, die Lösung. Für uns wäre es ein Widerspruch, wenn wir, um das Geld zu erhalten, der Regierung in den Arsch kriechen, zu Opportunisten würden. Das ist genau das, was uns von anderen Bauernbewegungen in Brasilien unterscheidet. Die anderen sind der Illusion verfallen, daß, wenn sie versuchen, der Regierung zu gefallen, diese ihre Anliegen erfüllen werde. Aber so funktioniert das hier nicht. Du erreichst nur etwas vom Staat oder von der Regierung, wenn du viele Leute hast, gut organisiert bist und Druck machst. Sonst erhältst du keine Unterstützung.
Die Agrarreform wird heute von der Rechten wie der Linken als notwendig anerkannt, weil die Landlosenbewegung, die Landpastorale der Kirchen und ein Teil der Gewerkschaften auf dem Land Druck gemacht haben und machen. Wir sind nicht Opposition, weil uns die Pläne der Regierung zur Agrarreform nicht passen, sondern weil diese nicht ausgeführt werden, und weil das neoliberale Projekt von FHC an der Krise der brasilianischen Landwirtschaft schuld ist.
Neoliberalismus ist ein beliebtes Schlagwort, wie lautet denn die Kritik des MST an der Wirtschaftspolitik von Fernando Henrique?
Die brasilianische Landwirtschaft ist heute wegen der Stabilitäts- und Wechselkurspolitik bankrott. Die Währung ist durch den Plano Real dermaßen überbewertet, daß die nationale Produktion gegenüber Importen nicht mehr konkurrenzfähig ist. Die KleinproduzentInnen sind die Verlierer, sie erhalten für ihre Produkte nicht einmal die Produktionskosten.
Die Regierung selbst hat in einer Studie festgestellt, daß in den nächsten drei Jahren 15-20 Prozent der Landbevölkerung zusätzlich in die Städte abwandern wird, wenn sich die Agrarpolitik nicht ändert. Es gibt aber auch eine makroökonomische Dimension. Brasilien war einer der größten Baumwoll-Exporteure, heute ist Brasilien der zweitgrößte Importeur. Beim Getreide und Mais geschieht genau das gleiche. Selbst der größte Soyaproduzent der Welt, eine brasilianische Firma, ist daran, aus der Landwirtschaft auszusteigen.
Das führt dazu, daß wir die Dynamik der Landreform beschleunigen können. Für viele Großgrundbesitzer ist der Verkauf von Land an die Regierung das größere Geschäft, als eine Landwirtschaft zu betreiben, die kaum noch etwas einbringt. Zudem ist der Wert des Bodens gefallen. Die Regierung kann heute mit den gleichen Mitteln mehr Land enteignen.
Aber mit dieser Politik stehen doch auch die assentamentos, die Siedlungen des MST, vor großen Schwierigkeiten. Eine kleinbäuerliche Landwirtschaft hat doch ohne Importschutz und ohne Subventionen keine Chance.
Die assentamentos konnten deshalb überleben, weil es uns gelang, für die Siedlungen der Agrarreform eine Kreditlinie zu erkämpfen, bei der nur die Hälfte zurückbezahlt werden muß. Das bedeutet also, daß wir eine Art Subvention für die Produktion der assentamentos haben, etwas, was es sonst in Brasilien nicht gibt. Dennoch lohnt sich die Investition für die Regierung, denn es ist die mit Abstand billigste Form, Arbeitsplätze zu schaffen.
Zweitens versuchen wir die Produktion auf den assentamentos in Kooperativen zu organisieren. So können wir unsere Kräfte bündeln, die Investitionen besser verteilen und unsere Leute besser ausbilden und spezialisieren.
Wie geht die Regierung mit der oppositionellen Haltung des MST um?
Die Strategie der Regierung hat zum Ziel, die Landlosenbewegung zu zerschlagen. Sie hat uns zu ihrem Hauptfeind erklärt. Einerseits, weil unsere Position durch die allgemeine Krise der Landwirtschaft gestärkt wurde – unsere Kämpfe haben massiv zugenommen – andererseits auch, weil sich die brasilianische Linke verloren hat. Die Gewerkschaftsbewegung, die Parteien der Linken, sind gespalten, verwickelt in interne Diskussionen. Sie treten kaum noch kämpferisch auf. Wir halten uns nicht mit solchen Dingen auf, sondern kämpfen, und deshalb beunruhigen wir die Regierung.
Wie die Regierung gegen uns vorgeht? Da die Landlosendbewegung eine große Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft hat und 87 Prozent der Bevölkerung die Agrarreform unterstützt, versucht die Regierung, den Eindruck zu erwecken, daß sie eine wirkliche Landreform durchführt und daß die Bevölkerung deshalb statt dem MST die Regierung unterstützen soll. Die Regierung versucht deswegen die Bewegung durch die Verbreitung von Falschmeldungen schlecht zu machen. Die Vorwürfe gegen uns sind immer die gleichen. Es heißt, wir würden Staatsgelder veruntreuen. Dabei haben wir schon mit dem INCRA darüber verhandelt, daß der kleine Prozentsatz der Kredite, den die assentamentos an unsere Organisation weiterleiten, formal geregelt werden sollte. Zweiter Punkt: Die Regierung sagt. wir seien Radikale und Sektierer und seien nicht verhandlungsbereit. Dabei verhandeln wir jeden Tag mit ihnen! Drittens wirft man uns vor, wir würden Gewalt predigen und unsere Familien in lebensbedrohende Situationen bringen.
Wenn es dann wirklich zu blutigen Konflikten kommt, versucht man uns dafür verantwortlich zu machen. In regelmäßigen Abständen wird auch immer wieder die Meldung verbreitet, wir würden eine Guerilla planen, Leute bewaffnen und ein brasilianisches Chiapas vorbereiten.
Schließlich werden wir dafür angegriffen, daß wir auch zu allgemeinen Themen der brasilianischen Politik – wie den Privatisierungen oder der Diskussion um die Wiederwahl des Präsidenten – unsere Stimme erheben. (Präsident Fernando Henrique Cardoso hat Anfang des Jahres eine Verfassungsänderung durchs Parlament gebracht, die ihm eine Wiederwahl ermöglicht, A.d.R.)
Wo liegt für die Landlosen das Problem, wenn der Präsident erneut kandidieren kann?
Die Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten erhöht die Chance, das neoliberale Projekt in Brasilien endgültig zu verwirklichen. Sie erlaubt derselben politisch-ökonomischen Gruppe, bis zu zwanzig Jahren an der Macht zu bleiben. Wer das neoliberale Projekt unterstützt, ist für die Wiederwahl, wer die brasilianische Gesellschaft radikal verändern möchte, muß dagegen sein.
Aber in einer Demokratie besteht ja immer noch die Möglichkeit, einen Präsidenten nicht wiederzuwählen, auch wenn die Wiederwahl grundsätzlich erlaubt ist.
Die Frage der Wählbarkeit, oder allgemeiner der Demokratie, ist in Brasilien nicht dieselbe wie in Europa oder anderen Ländern. Einer Gruppe, die an der Macht ist, fällt es immer leichter, sich als hegemoniale Gruppe zu etablieren. Brasilien ist Weltmeister in der Einkommenskonzentration und hat riesige soziale Probleme, weil die politische Macht so konzentriert und festgefahren ist. Keiner Regierung in der Geschichte Brasiliens vor Fernando Henrique ist es gelungen, die Parteien des Zentrums und der Rechten – PSDB, PMDB und PFL – in einer Regierung zu vereinigen und eine so umfassende Hegemonie aufzubauen. Deswegen können sie im Parlament machen, was sie wollen. Wenn Fernando Henrique nicht einen großen Fehler begeht, so wird dem hegemonialen Block auch seine Wiederwahl gelingen. Rede Globo (der dominierende Fernsehsender, A.d.R.) betreibt bereits Wahlkampf. Alle wichtigen Medien verteidigen die erneute Kandidatur. Für uns ist deshalb die Demokatie, soweit sie nur die Stimmabgabe umfaßt, sehr relativ. Es gibt ein umfassendes Politmarketing und in Zeiten des Wahlkampfs werden Illusionen geschürt und das Paradies gepredigt.
Wenn die Wirkung der Massenmedien dermaßen groß ist, schadet denn die Regierungspropaganda dem MST nicht sehr?
Die Regierung sieht die Agrarreform nicht als Notwendigkeit und die Krise der Landwirtschaft nicht als Problem. Die Konflikte, die Landbesetzungen des MST, sind für sie das Problem. Wenn die Regierung eine so absurde Lesart der Probleme hat, dann wird ihre Politik auch nichts zur Abnahme der Konflikte beitragen. Unser Kampf hat eine Dynamik, die die Regierung nicht zerschlagen kann. Die Bevölkerung sieht unsere Siedlungen, unsere Besetzungen in den Regionen.
Der große Protestmarsch, den wir jetzt gerade durchführen, hat unter anderem gerade auch das Ziel, ohne Vermittlung der Medien mit der Bevölkerung direkt ins Gespräch zu kommen. Da kann die Regierung Falschmeldungen verbreiten solange sie will, die Leute sehen, daß das Problem weiterbesteht und daß wir eine Lösung anbieten. Wir haben schon zwischen 40 und 50 Gemeinden, für die unsere Ansiedlungen die Haupteinnahmequelle darstellen. Gemeinden, die bereits beinahe bankrott sind- nicht auszumalen, wie sie ohne unsere assentamentos dastehen würden. In Paraná (Bundesstaat in Südbrasilien A.d.R.) gibt es Gemeinden, wo der Bürgermeister den Angestellten der Präfektur freigibt, wenn wir ein Treffen veranstalten, damit sie daran teilnehmen können. Schon über die Hälfte der Bevölkerung unterstützt Besetzungen als legitimes Mittel im Kampf um Land. Und andere Gruppen, in der Peripherie der Städte beispielsweise, beginnen unsere Methode zu kopieren. Es gibt heute keine Alternativen um zu Überleben. Die Landflucht ist keine Lösung mehr, in Sao Paulo eine Arbeit zu finden ist unmöglich. Was machst du in einer solchen Situation? Wirst du verhungern oder Land besetzen?