Verschränkte Geschichte(n)
Cordero de Dios von Lucía Cedrón ist eine Erzählung darüber, wie die Vergangenheit auf die Gegenwart und die nachfolgenden Generationen wirkt
Buenos Aires 2002. Ein Mann wird am hellichten Tag aus seinem Auto heraus gekidnappt. Kurze Zeit später wird seine Enkelin Guillermina von einem Telefonanruf geweckt. Unbekannte fordern eine hohe Summe, will sie ihren Großvater lebend wiedersehen. Dieser wurde Opfer einer sogenannten Express-Entführung, wie sie in Argentinien in Folge der Wirtschaftskrise 2001/2002 vermehrt auftraten, nicht immer mit dem Ziel an viel Geld zu gelangen, sondern oft nur, um ein paar Pesos von den Angehörigen zu erpressen.
Guillermina ruft verzweifelt ihre in Paris lebende Mutter Teresa zu Hilfe. Doch die Stimmung zwischen Mutter und Tochter ist eisig. Teresa scheint nicht sonderlich interessiert daran, das Geld für die Befreiung ihres Vaters zu beschaffen. Sie findet immer neue Ausreden, was Guillermina rasend macht. Die beiden führen, wenn überhaupt, nur kurze, einsilbige Gespräche, an deren Ende sie sich meist anschreien. Die eine verzweifelt an der Angst ihren geliebten Großvater zu verlieren, die andere ist voller Widerwillen sich der Vergangenheit zu stellen und voller Hass auf das Land und den Vater, die sie einst beide zurückließ. Die Situation eskaliert als Teresa sich weigert, das Haus zu verkaufen, da es sie an ihren Mann, Guillerminas Vater, erinnere. „Wie kannst du die Erinnerung an einen Menschen über das Leben eines anderen stellen?“, spuckt ihr Guillermina mit vor Verachtung bebender Stimme ins Gesicht.
In ihrem Debütfilm Cordero de Dios („Das Opferlamm“) erzählt die argentinische Filmemacherin Lucía Cedrón von der dunklen Vergangenheit einer Familie, die aufs Engste mit der jüngeren Geschichte Argentiniens verschränkt ist. Als ihr Alltag aus den Fugen gerät, wird das lang gehütete Geheimnis plötzlich ans Licht befördert.
Die Rückkehr nach Argentinien stürzt Teresa in einen Strudel der Erinnerungen. In zahlreichen Rückblenden ins Jahr 1978 sehen wir, wie das junge Paar, Teresa und Paco, sich politisch radikalisiert und gemeinsam mit anderen FreundInnen bei einer bewaffneten Gruppe aktiv wird. Die kleine Guillermina wird immer öfter mit ihrem Großvater aufs Land geschickt, zu einem Freund der Familie, einem einflussreichen Militär. Teresas Vater gerät immer öfter in Streit mit Paco, weil er das Leben seiner Tochter und seiner Enkelin gefährdet sieht. Auch Erlebnisse, die Teresa lange erfolgreich verdrängt hatte, drängen sich plötzlich wieder auf: ihre eigene Entführung durch para-polizeiliche Kräfte der Diktatur sowie die von Paco, der seitdem verschwunden geblieben ist.
In der Gegenwart wird Guillermina klar, dass ihr ein wichtiger Teil der Geschichte ihrer Eltern – und damit auch ihrer eigenen – stets verschwiegen wurde. „Das war das Thema, das mich interessierte. Dinge, die man nicht erzählt, um Personen, die wir lieben, vor Leid zu beschützen“, sagt Regisseurin Cedrón zur Intention ihres Films. „Ich halte das für falsch. Und ich habe diese Erfahrung am eigenen Leib gemacht.“ Lucía Cedrón ist die Tochter des berühmten politisch engagierten Filmemachers Jorge Cedrón, der sich mit revolutionären Filmen in den 1970er Jahren einen Namen machte und damit den Argwohn der Militärs auf sich zog. 1976, als Lucía zwei Jahre alt war, verließen ihre Eltern das Land. Sie wuchs im französischen Exil auf; erst 2002 kehrte sie nach Argentinien zurück.
Es gibt also einige Parallelen zur Handlung ihres Films. Trotzdem ist Cordero de Dios weder ein Dokumentar- noch ein autobiographischer Film, wie die Filmemacherin im Interview mit der argentinischen Tageszeitung Clarín betont. Die Ereignisse in ihrem Film seien frei erfunden. „Ich habe mich lediglich von Dingen inspirieren lassen, die mir passiert sind, diese sind sozusagen der Ausgangspunkt, um andere Themen zu bearbeiten.“
Vor dem Hintergrund eines Familiendramas werden im Film zwei der eklatantesten Momente der jüngeren argentinischen Geschichte miteinander verschränkt: die Militärdiktatur Ende der 1970er Jahre und die politisch-ökonomische Krise 2001/2002. Die ineinander verzahnten Szenen, die ohne Vorankündigung zwischen den Zeiten und Orten hin und her wechseln, offenbaren nach und nach das ganze Ausmaß der Tragödie.
Guillermina findet allmählich heraus, was damals geschah, und so auch einen neuen Zugang zu ihrer Mutter. Lucía Cedrón will damit verdeutlichen, dass ein und dasselbe Geschehnis, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, immer zu unterschiedlicher Wahrnehmung führen kann. Auf der Metaebene zeigt der Film außerdem, wie sehr sich die traumatischen Ereignisse der Vergangenheit auf die nachfolgenden Generationen auswirken. Cedrón benutzt die politische Situation jedoch nur als Schablone, um eine sehr private Geschichte vom fragilen Beziehungsgeflecht einer Familie zu erzählen. Im Vordergrund steht stets die Geschichte Guillerminas als Repräsentantin der Generation der Kinder, die als junge Erwachsene lernen müssen, mit dem Erbe der Vergangenheit umzugehen.
Die Querschaltung der beiden traumatischen Ereignisse der argentinischen Geschichte von 1978 und 2002 ist gewagt. Leicht hätte diese parallele Erzählung den Film völlig überfrachten können. Lucía Cedrón schafft es jedoch, die beiden inhaltlichen Stränge erzählerisch gekonnt zusammenzuführen. Vor allem durch den guten Schnitt, der den ständigen Wechsel zwischen den Perspektiven sowie zwischen Gegenwart und Vergangenheit untermalt, wirkt Cordero de Dios zu keinem Zeitpunkt überladen oder unglaubwürdig. Ein rundum gelungenes Erstlingswerk.
Cordero de Dios („Das Opferlamm“) // Spielfilm von Lucía Cedrón // Argentinien/Frankreich 2008 // 88 min. // Spanisch mit deutschen Untertiteln // Bezug: www.icestorm-revolution.de
Bei Icestorm Revolution, Meisterwerke des lateinamerikanischen Films, sind vor kurzem zwei weitere Filme auf DVD erschienen:
El Frasco („Der Glasbehälter“) // Spielfilm von Alberto Lecchi // Argentinien 2008
Martín (Hache) // Spielfilm von Adolfo Aristarain // Argentinien 1997
Bezug: www.icestorm-revolution.de