Argentinien | Nummer 392 - Februar 2007

Verschwundene der Demokratie

Verschleppungen von Zeugen heizen Debatte um schwachen Rechtsstaat an

Zwei Verschleppungen von Belastungszeugen in Prozessen um die Verbrechen der Militärjunta in Argentinien haben in den vergangenen Monaten eine Debatte um die Überreste der Militärdiktatur (1976–1983) angeheizt. Über die Hintergründe ihrer Entführungen besteht kein Zweifel. Der zweite verschleppte Zeuge tauchte inzwischen wieder auf – mit Folterspuren. Hochrangige argentinische Politiker räumten gegenüber der nationalen Presse ein, dass Teile der Sicherheitskräfte in die Verbrechen verwickelt sein könnten.

Timo Berger

Sogar Präsident Néstor Kirchner machte „parapolizeiliche und paramilitärische Gruppen“ für die verschleppung der Belastungszeugen Luis Gerez und Jorge Julio López verantwortlich. Vor allem die Polizei der Provinz Buenos Aires ist als Hort der Straflosigkeit berüchtigt – viele ehemalige Folterer blieben auch nach dem Abtritt der Militärs 1983 auf ihren Posten. Die Amnestiegesetze verschonten sie vor der Strafverfolgung. Nach Aussagen von Menschenrechtsorganisationen wie des Verbands ehemaliger Gefangener und Verschleppter (Asociación de ex-detenidos-desaparecidos) arbeiten Teile der Polizei mit Gruppen zusammen, die mit allen Mitteln eine Wiederaufnahme der Verfahren um die Verbrechen der Diktatur verhindern wollen. Dies dürfte auch zur Verschleppung von Luis Gerez beigetragen haben, der Ende Dezember zwei Tage lang in Geiselhaft war. Der 51-Jährige hatte zuvor zweimal gegen den ehemaligen Vizepolizeichef und Ex-Bürgermeister der nördlich von Buenos Aires gelegenen Stadt Escobar ausgesagt. Luis Abelardo Patti habe ihn 1972 im Kommissariat von Escobar mit Stromschlägen gefoltert, so Gerez im Mai 2006 bei einer Anhörung im Parlament, in das Patti kurz zuvor gewählt worden war. Gerez’ Aussage verhinderte, dass er sein Mandat für die rechte „Partido Unidad Federalista“ antreten konnte. In einem Diktatur-Verfahren sagte Gerez noch einmal gegen Patti aus. Gerez’ Freund, Gastón Goncalves, wurde im März 1976 entführt und das letzte Mal im Kommissariat in Escobar gesehen, wo er geschlagen und gefoltert wurde. Der Leichnam von Goncalves wurde später am Rand einer Landstraße gefunden.

Verdienste des Präsidenten?

In den Wochen vor seiner Entführung erhielt Gerez nach eigenen Aussagen mehrere Morddrohungen. Aus einem vorbeifahrenden Auto wurde auf ihn mit einer Pistole gezielt. Die Reifen seines Autos wurden mehrmals zerstochen. Trotz einer Strafanzeige gegen die unbekannten Bedroher rührte sich die Polizei der Provinz Buenos Aires nicht. Am 27. Dezember verließ Gerez das Haus von Freunden zu einem Einkauf. Doch auf dem Weg zerrten Unbekannte ihn in ein Auto. Zwei Tage später wurde er halbnackt auf offener Straße aufgegriffen. Sein Körper wies Brandmale und Fesselspuren auf.
Kurz zuvor hatte sich Staatspräsident Néstor Kirchner in einer bewegenden Fernsehansprache an die Nation gewandt: „Wir werden nicht erlauben, dass die Diktaturprozesse eingestellt werden“, sagte der Peronist. Auch der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Felipe Solá, gestand ein, dass mit den Entführungen die Zeugen in den Dutzenden Prozessen eingeschüchtert werden sollen, die seit der Aufhebung der Generalamnestie durch Kirchner im Vorjahr von der Staatsanwaltschaft eingeleitet worden waren. Rund eintausend ehemalige Angehörige von Militär und Polizei stehen derzeit unter Anklage.
In einer Pressekonferenz, noch sichtlich unter Schock, gab Gerez kaum Details zu seiner Entführung preis und ließ auch keine Fragen zu. Ausgiebig bedankte er sich dagegen bei Präsident Kirchner. “Meine Freiheit ist der Triumph der Demokratie, es ist der Verdienst von Euch allen und der Entschiedenheit des Präsidenten Kirchner”. Gerez ist Maurer und Aktivist in einer politischen Bewegung, die sich “Pensar Escobar” nennt und der Regierung Kirchner nahe steht. Eines der Ziele der Bewegung ist es die Vormacht Pattis in der Stadt Escobar zu brechen, der dort seit mehreren Jahren das politische Leben bestimmt.
Patti wurde Anfang der 90er Jahre vom Gouverneur der Provinz Buenos Aires und späteren Präsidenten Eduardo Duhalde hofiert. Der Peronist sah in Kommissar Patti ein Beispiel dem andere Polizisten folgen sollten. Schon damals beklagten Menschenrechtsorganisationen wie die Mütter von der Plaza de Mayo die straflos gebliebenen Morde zu Diktaturzeiten, die Patti zur Last gelegt worden waren.

Druck von rechts

Im Fall Gerez stritt Patti jegliche Verwicklung ab und erklärte stattdessen, die Regierung Kirchner oder ihre Anhänger seien für die Entführung verantwortlich. Ähnlich äußerte sich auch Ex-Präsident Carlos Saúl Menem. Rechte Medien griffen diese Darstellung in ihren Kommentarspalten auf und zogen die Darstellung des Entführungsopfers Gerez in Zweifel.
Der Druck von rechts scheint auch an der ermittelnden Staatsanwaltschaft nicht spurlos vorüberzugehen. Einer der Staatsanwälte, Facundo Flores, warf Gerez in den Medien vor, nicht alles gesagt zu haben. In einem Radiointerview mit Hebe de Bonafini, der Präsidentin der Mütter von der Plaza de Mayo, verteidigte sich Gerez. „Der (anderen) Staatsanwältin glaube ich, alles gesagt zu haben. Nun behauptet er (Flores), ich würde Dinge hinterm Berg halten (…). Ich hätte die Wahl gehabt, nichts zu sagen, zu behaupten, ich hätte betrunken in einem Graben gelegen. Aber ich habe nicht geschwiegen”, erklärte er. “Es gab keine große Foltersitzung. Aber in einem Augenblick ist eine der Personen durchgedreht, man schubste und drückte mich und schlug mir in den Magen. Sie sagten zu mir, ‚du schreist wohl gar nicht?’ Und dann spürte ich das Brennen auf meiner Brust“ erzählte Gerez. Der Vizekabinettschef der Provinz Buenos Aires, Emilio Pérsico, äußerte unterdessen wiederholt seine Überzeugung, Patti sei für die Entführung verantwortlich. Die „Geister der Vergangenheit“, wie er Patti und den Ex-Präsidenten Carlos Saúl Menem nannte, müssten „gefunden, festgenommen, politisch isoliert werden“. „Alles zeigt auf Patti, alle Beweise, alles was bislang vorliegt, auch die politischen Indizien”. erklärte der Vizekabinettschef.
Von einem anderen Zeugen fehlt seit drei Monaten jede Spur. Der 77-jährige Jorge Julio López, ein ehemaliges Mitglied der peronistischen Guerilla Montoneros, sollte am 18. September in einem Prozess gegen den Ex-Kommissar Miguel Etchecolatz aussagen, dem Mord, Folter und Verschleppungen zur Last gelegt werden. Als ihn sein Sohn ins Gerichtsgebäude fahren wollte, war López nicht mehr aufzufinden. López’ Anwältin Guadalupe Godoy, kritisierte die Regierung Kirchner für ihr zögerliches Verhalten. Erst beim zweiten Verschwundenen habe Kirchner reagiert, aber auch jetzt keine konkreten Maßnahmen vorgelegt. „Wenn die Polizei in die Entführungen verwickelt ist“, so Godoy in der argentinischen Tageszeitung Perfil, „warum gibt er dann nicht die Anweisung, die Polizei zu untersuchen?“.

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