Argentinien | Nummer 343 - Januar 2003

“Viele Menschen sprechen von einer zivilen Diktatur“

Interview mit dem argentinischen Journalisten Eduardo Aliverti

Eduardo Aliverti ist Leitartikler und Kolumnist der argentinischen Tageszeitung Página/12, die mit dazu beitrug, die Skandale um Carlos Menem zu enthüllen. Darüber hinaus ist er als Moderator bei Radio Nacional, Dozent an der Universität Buenos Aires (Medienwissenschaften) und Filmproduzent tätig. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihm im November bei seinem Besuch in Berlin.

Ines Hölter / Jürgen Vogt

Wem wird die Schuld an der argentinischen Misere angelastet? Dem Neoliberalismus oder der Korruption?

Die Korruption geht mit dem Neoliberalismus einher. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1999 hieß es, man wolle versuchen das gleiche System ohne Korruption aufrecht zu erhalten. Aber wenn man von einer Kapitalflucht zwischen 8 und 10 Milliarden US-Dollar ausgeht, die allein durch die Korruption verschwanden, fällt es mir schwer zu glauben, dass das Modell des Neoliberalismus nicht auch Korruption bedeutet. Viele sind mit Sicherheit darüber enttäuscht, dass die Träume der 90er Jahre geplatzt sind wie eine Seifenblase. Man muss allerdings auch selbstkritisch sein und sich die Fehler, die man selbst, die die argentinische Bevölkerung gemacht hat, eingestehen. Die Situation heute ist das Produkt einer ganzen Gesellschaft. Die Fehler sind von uns begangen worden.

Sehen Sie eine Möglichkeit, dass Argentinien den Schuldendienst verweigert?

Im Grunde genommen sehe ich dafür keine große Chance. Die Schuldenfrage müsste ganz neu verhandelt werden. Brasilien beispielsweise muss ab 2003 allein eine Milliarde US-Dollar pro Woche an Schulden abbezahlen. Das macht einen Fortschritt im Lande nahezu unmöglich. Mittlerweile haben die Argentinier verstanden, dass man auch ohne den Internationalen Währungsfond leben kann – schlimmer kann es eigentlich ohne ausländische Hilfe auch nicht werden. Argentinien hat lange exakt die Politik angewendet, die der IWF ihm empfohlen hat. Das ist nun das Resultat. Eine Folge ist eine enorme Ablehnung gegenüber den Nordamerikanern. Die Chance besteht aber, dass sich hieraus eine neue Solidarität zwischen den Argentiniern entwickelt. Man möchte nichts mehr vom IWF hören, weder von Forderungen, noch von Verhandlungen oder Zahlungen. Man hat die Wirtschaft liberalisiert, das Gesundheits- und Erziehungswesen privatisiert, und Argentinien ist zu einer Dienstleistungsgesellschaft geworden, ohne selber zu produzieren. Der nationale Markt ist deswegen zusammengebrochen. Alles, was der IWF wollte, wurde gemacht, und heute ist Argentinien ein Land mit 38 Millionen Einwohnern, von denen 20 Millionen in Armut leben. Über 50 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze! Und das alles Dank der Empfehlungen des IWF.

Die Situation erinnert ja stark an die 70er Jahre.

Ja, aber in den 70ern gab es wenigstens noch eine einheimische Industrie und ein politisches Ideal in der Bevölkerung. Aber dann passierte zweierlei: Zum einen der Völkermord der 70er Jahre. 30.000 Menschen wurden umgebracht, verschwanden, oder gingen ins Exil. Diese Leute waren nicht irgendwelche, sondern Kämpfer einer ganzen Generation für ein politisches Ideal. Diese Menschen müssten heute in der Regierung sitzen! Zweitens war da der Menemismus: Versteigerungen von Unternehmen, keine Kontrolle über den Kapitalfluss, keine Kontrolle über Ein- und Ausgänge von Geldern und die höchste Korruptionsrate, die es je gab. Die argentinische Wirtschaft wurde zu einer reinen Dienstleistungsgesellschaft, die zudem noch hauptsächlich nordamerikanische Interessen berücksichtigte. Das war meiner Meinung nach auch das Ziel des neoliberalen Modells. Argentinien ist heute da, wo es ist, nicht trotz sondern wegen des Neoliberalismus.

Und es gibt keine Alternativen?

Es gibt zwar linke Strömungen, und objektiv gesehen können linken Ideen heute besser realisiert werden, als vor 30 Jahren. Subjektiv gesehen jedoch erweist sich dies als fast unmöglich: In Argentinien gibt es keine linke Alternative, die reelle Chancen hätte, den Peronismus zu ersetzen. Wahrscheinlich wird der nächste Präsident wieder aus einer der verschiedenen peronistischen Strömungen hervorgehen. Es wird wohl eine „rechtmäßig gewählte“ Regierung sein, aber keine „legitime“. Es wird einen großen Prozentsatz an „Votos Bronca“, an Protestwählern, geben. Derjenige, der im Endeffekt gewählt wird, wird mit lediglich 20 Prozent der Stimmen gewinnen können, repräsentiert also folglich nicht das Volk. Deswegen „rechtmäßig“ aber nicht „legitim“. Weder aus dem peronistischen Lager, noch aus der so genannten Opposition gibt es eine Alternative. Der Bereich, wo wirklich versucht wird, Dinge zu ändern, hat sich in Argentinien vom politischen auf den sozialen Weg verlagert.

Welches sind diese Wege? Was gibt es für Institutionen, in denen sich die Bevölkerung in einer Art „direkter Demokratie“ sozial engagieren und organisieren kann?

Es ist zwar keine massive Bewegung, aber eine interessante und vor allem neue, die innerhalb der Bevölkerung hohes Ansehen genießt. 150 Fabriken werden heute von ihren eigenen Arbeitern in Selbstverwaltung geführt. 10.000 Arbeiter sind in diesen Kooperativen tätig. Die Parteien, die mit diesen Fabriken arbeiten, sind aus dem linken Spektrum. Diese selbstverwalteten Fabriken arbeiten effektiv und ökonomisch und die Löhne sind in Ordnung. Die „Asambleas Populares“ (Volksversammlungen), die seit Dezember 2001 bestehen, haben leider an Wichtigkeit eingebüßt. Sie sind nicht zu der Bewegung geworden, die man sich damals noch erhofft hatte. Und dann ist da noch die Piquetero-Bewegung, die sich meist aus Leuten der Unterschicht zusammensetzt. Die Medien berichten über sie leider immer nur in Zusammenhang mit den Straßensperren. Doch in Wahrheit leisten sie eine enorme soziale Arbeit. Im Allgemeinen hat die Krise eine neue Welle von Solidarität zwischen den Klassen hervorgebracht. Meiner Meinung nach gibt es ansonsten keine anderen Institutionen, die dem Volkswillen gerecht würden. Die Kirche genießt in Argentinien zwar hohes Ansehen, aber eine solche Schlüsselrolle hat sie nicht. Auch die Medien haben an Wichtigkeit eingebüßt. Alles ist im Umbruch, alles und jeder durchlebt in diesen Zeiten eine Krise. Es ist momentan unmöglich, eine Richtung zu erkennen, in die das Land steuert. Man kann das mit einem Bogen von Möglichkeiten deutlich machen, der von extrem rechten und faschistoiden bis hin zu extrem linken, progressiven Strömungen geht – und alle haben die gleichen Chancen.

Könnte es nicht sein, dass alles so bleibt wie es ist?

Auch das ist eine Variante, die so genannte Variante der „Stabilisierung des Elends“. Diese Variante ist eine der Möglichkeiten, die der Bogen bietet, von dem ich eben gesprochen habe. Man bedenke, dass allein im Großraum Buenos Aires 100.000 „Cartoneros“, also private Müllsammler, leben. Diese Leute werden mittlerweile als eigene legale Institution angesehen. Die Stadt Buenos Aires hat bereits Gesetze erlassen, dass diese Cartoneros – Leute, die ehemals der Mittelschicht angehörten – per Gesetz offiziell als solche akzeptiert werden. Das lässt darauf schließen, dass man die Sachen belassen will, wie sie sind.

Immer noch verlassen viele Argentinier, besonders junge Leute das Land.

Ja, ich denke das ist ein zentrales Problem. Wir sind ja im Moment in der Phase, ein neues Argentinien zu organisieren und eine neue Republik zu entwickeln. Das erweist sich natürlich als umso schwieriger, wenn die Bevölkerung eher daran denkt, ins Ausland zu gehen, anstatt ein neues politisches Konzept zu entwickeln. Es ist schwer, eine argentinische Identität auszumachen. Wir haben ein anderes Verständnis von Ein- und Auswanderung. Dies liegt wohl daran, dass wir alle verschiedener Herkunft, Immigranten, sind und damit verschiedener Mentalität. So entstand eine Menge verschiedener Strömungen und Interessen und die Liebe zum Vaterland – um es einmal pathetisch auszudrücken – ist bei den Argentiniern nicht besonders stark ausgeprägt. Daher ist es in Krisenzeiten wie diesen wahrscheinlich einfacher zu sagen „ich gehe“, als dies vielleicht in anderen Ländern der Fall ist. Trotzdem glaube ich, dass sich diese Einstellung und Mentalität in dem Moment ändert, wenn eine neue politische Alternative zu erkennen ist.

Dieses Jahr sind in Argentinien Wahlen. Sie sprachen vorhin über die verschiedensten Möglichkeiten einer Regierungsbildung, und dass diese eventuell rechtmäßig, nicht aber legitim sein könnte. Sie könnte dann ja auch repressiv und autoritär, gleichzeitig aber offiziell und international anerkannt sein – denken wir nur an Fujimori in Peru. Von welcher Seite ginge diese Repression aus und wer würde davon profitierten?

Die Repression, die heute in Argentinien zu beobachten ist, geht hauptsächlich von der Polizei von Buenos Aires aus. Es ist eine offene Repression und richtet sich meistens gegen die unteren Schichten der Bevölkerung. Die Polizei vertritt größtenteils die Interessen des rechten Flügels, aber auch dieser Sektor ist zersplittert. In Argentinien sind mittlerweile alle Strömungen von der Krise erfasst worden: Die Gewerkschaften haben Probleme, die Studentenbewegung hält sich mit ihrer Kritik zurück, und auch die rechten und konservativen Kreise, das so genannte „Establishment“, sind in der Krise. Das hat historische Gründe. Wir haben zwar in Argentinien eine dominante, aber keine führende Schicht. Die dominante Schicht, die von jeher vom Staat gelebt hat, die als erste Gelder von den multinationalen Unternehmen angenommen hat und die ihre Ersparnisse ins Ausland geschafft hat, ging wohl irgendwann einmal aus der „Bourgeoisie“, der Mittelschicht, hervor. Genau diese ehemalige Mittelschicht gibt es heute nicht mehr. Heute gibt es nur noch eine Rechte, die großen Einfluss auf die staatliche Repression hat. Wir haben viele Tote bei den letzten Märschen zu beklagen. Es gibt aber mittlerweile viele verschiedene Gruppen, die Repressionen ausüben. Besonders in den Außenbezirken der Städte. Ferner lässt sich beobachten, dass die Regionen ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen. Vielleicht haben wir in einigen Jahren nicht mehr die gleiche Landkarte, und Argentinien zerfällt in verschiedene Teile. Auch das provoziert staatliche Gewalt. Viele Menschen sprechen daher von einer zivilen Diktatur.
Interview: Ines Hölter / Jürgen Vogt

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Brukman zum Dritten
Nach der zweiten Räumung nun die dritte Wieder-in-Betrieb-Nahme
durch die Arbeiterinnen

In der argentinischen Kleiderfabrik Brukman scheiterten die ehemaligen Besitzer auch im zweiten Anlauf mit ihrem Versuch die Besetzung zu beenden. Die Zukunft der selbstverwalteten Produktion befindet sich aber weiter in der Schwebe.

Ohne Vorwarnung kamen sie im Morgengrauen des 24. Novembers: Während Jacobo und Mario Brukman, die Eigentümer der Brukmanfabrik mit ihren Anwälten vor der Werkspforte warteten, drangen Beamte der Bundespolizei gewaltsam ins Innere der Kleiderfabrik vor. Die sechs Arbeiterinnen, die zur Nachtwache im Gebäude geblieben waren, wurden festgenommen und erst am Nachmittag wieder auf freien Fuß gesetzt. Brukman ist eine von schätzungsweise 1300 Fabriken in Argentinien, die von ihren ehemaligen ArbeiterInnen in Eigenregie betrieben werden.
Am 18. Dezember 2001 hatten sich 18 Arbeiterinnen spontan dazu entschlossen am Ende des Arbeitstages in der Fabrik zu bleiben. An diesem Tag hätten sie einer Vereinbarung mit der Geschäftsleitung zufolge ihren ausstehenden Lohn ausgezahlt bekommen. Doch die Besitzer erschienen nicht zum vereinbarten Termin. Da einige der Arbeiterinnen nicht einmal genug Geld hatten, um die Heimreise anzutreten, entschlossen sie sich zu bleiben. Über Nacht wurden die Eingangstore mit Ketten verschlossen. Am Morgen, als die anderen Arbeiterinnen wieder erschienen, wurde die erste Versammlung einberufen. Man beschloss, die Produktion wieder aufzunehmen, die männlichen Vorarbeiter wurden nach Hause geschickt, die Näherinnen blieben. In den ersten Wochen nach der „Besetzung“ – die Arbeiterinnen sprechen lieber von „Wieder-in-Betrieb-Nahme“ – überlebten die Arbeiterinnen nur durch die Unterstützung von NachbarInnen und StudentInnen, die Geld für eine Streikkasse sammelten. So konnten die Arbeiterinnen ihren Lebensunterhalt bestreiten, bis sie die Maschinen wieder in Gang gesetzt hatten. Nachdem noch nicht beendete Aufträge ausgeführt wurden, begannen sie mit dem Ertrag die Schulden, die das Unternehmen bei der öffentlichen Versorgung angehäuft hatte, abzubezahlen. Es konnte sogar ein kleiner Lohn ausbezahlt werden. Seither produziert die inzwischen auf 56 Frauen angewachsene Belegschaft „schwarz“ Anzüge, Jacken und Hosen für kleine argentinische Firmen. Da die rechtliche Situation immer noch ungeklärt ist, können keine internationalen Markenfirmen mehr beliefert werden.
Bei dem ersten Versuch der Eigentümer ihre Firma wieder in Besitz zu nehmen (am 16. März, siehe LN Nr. 334) hatten die Arbeiterinnen die Polizisten am Werkstor geschickt so lange hingehalten, bis genug Unterstützung aus der Nachbarschaft und den Versammlungen herbei geeilt war. Die Räumung konnte rückgängig gemacht werden. Auch am 24. November hatten die Arbeiterinnen von Brukman Erfolg. Die Polizei zog schließlich angesichts des vereinten entschlossenen Widerstandes erneut ab. Dennoch: der angerichtete Schaden ist gewaltig. Es dauerte Tage, bis die Produktion wieder aufgenommen werden konnte, die Polizei hatte außerdem bereits angefertigte Waren mitgenommen.
Mit der Stadt laufen bisher erfolglose Verhandlungen über den künftigen Status von Brukman. Aníbal Ibarra, Bürgermeister von Buenos Aires, schlug den Arbeiterinnen vor, eine Kooperative zu bilden. Das würde bedeuten, dass die Fabrik für zwei Jahre enteignet würde und nach Ablauf dieser Frist die Arbeiterinnen Fabrik und Maschinen von den Eigentümern kaufen müssten. Doch dazu wäre sehr viel Kapital nötig. Die Maschinen sind aus Deutschland importiert und müssten in Dollar erstattet werden, ihr Wert hat sich jedoch durch die Abwertung des Peso nahezu vervierfacht. Die Arbeiterinnen lehnen diese Lösung ab. Sie fordern die endgültige Verstaatlichung der Fabrik unter ihrer Kontrolle, mit staatlich garantierten festen Löhnen und einer Entscheidungsbefugnis für alle Arbeiterinnen.
Timo Berger

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