Lateinamerika | Nummer 365 - November 2004 | USA

Vom Vorbild zum Vormund

Der Aufstieg der USA zur imperialistischen Macht

Als die spanischen Kolonien zu Beginn des 19. Jahrhunderts unabhängig wurden, galten die Vereinigten Staaten den dortigen kreolischen Eliten als nachahmenswertes Beispiel – die damals geschriebenen Verfassungen belegen dies. Doch im Laufe der Zeit entwickelte sich der mächtige Beschützer vor imperialen Zugriffen aus Europa selbst zur übermächtigen Bedrohung.

Thilo Papacek

Am 2. Dezember 1823 erklärte der US-Präsident James Monroe vor dem Kongress, “dass die amerikanischen Kontinente (…) fortan nicht mehr als Gegenstand zukünftiger Kolonisation durch irgendwelche Mächte zu betrachten sind.” Es galt US-amerikanischen Besitz zu schützen oder “Schlimmeres” zu verhindern, etwa eine Invasion einer europäischen Macht, die das gleiche Ziel hegt: Schulden einzutreiben.
Doch dass die USA einmal zu solchen Mitteln greifen würden, konnte Präsident Monroe noch nicht ahnen. Ihm ging es noch hauptsächlich darum, die eigene junge Unabhängigkeit zu wahren. Zu dieser Zeit waren die lateinamerikanischen Länder gerade im Begriff zu entstehen. Mexiko (das damals noch ganz Zentralamerika umfasste) und Brasilien waren 1821 und 1822 gerade unabhängig geworden und Simón Bolívar hatte 1819 das Vizekönigreich Granada als Großkolumbien (das noch die Gebiete des heutigen Venezuela, Panama und Ecuador beinhaltete) in die Freiheit geführt. Eine europäische Invasion schien zumindest sehr gut möglich und war sicherlich auch nicht im Interesse der jungen USA. Noch galt dieser Staat als Experiment, das durchaus hätte widerrufen werden können.
Doch der Staat blieb, und innerhalb der nächsten 60 Jahre wurde die Monroe-Doktrin zunächst nicht umgesetzt. Als zum Beispiel 1861 Spanien, Großbritannien und Frankreich aufgrund nicht eingehaltener Verpflichtungen ein Expeditionskorps nach Mexiko schickten, waren die USA zu sehr mit ihrem eigenen Bürgerkrieg beschäftigt, um in irgendeiner Form einschreiten zu können. Und auch späteren Invasionen europäischer Mächte in lateinamerikanische Länder um Schulden einzutreiben, hatten die USA nur diplomatische Protestnoten entgegenzusetzen.
Dennoch gingen die USA im Vergleich zu den Europäern in Lateinamerika vorerst noch ruppiger vor: Die USA kolonisierten nicht, sie annektierten. Nach dem Mexikanisch-US-Amerikanischen Krieg von 1846 bis 1848 verlor Mexiko die (wenig besiedelte) Hälfte seines Territoriums an die USA, wo diese ihren nicht enden wollenden Durst nach neuen Siedlungsgebieten stillen konnten. Die indigene Bevölkerung wurde vertrieben oder ermordet, so sie nicht an den eingeschleppten Krankheiten starb.

Das Schicksal der USA

Zu dieser Zeit begannen von der Union enttäuschte Sklavokraten von der Eroberung eines “karibischen Imperiums” zu träumen. William Walker war wohl der berühmteste dieser Filibuster. Sie versuchten, in den Südstaaten als Helden gefeiert, mit privaten Armeen eigene Staaten in Zentralamerika zu erobern: Pflanzerimperien, in denen die Sklaverei weiter bestehen sollte, weit weg von den an Einfluss gewinnenden Abolitionisten der Nordstaaten. Sie stürzten die zentralamerikanischen Republiken, die ohnehin ständig unter den blutigen Konflikten der herrschenden Klasse zu leiden hatten, in immer größeres Chaos.
Der US-amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 verhinderte die Fortsetzung derartiger Abenteuer. Und auch die Zeit danach stand im Zeichen des Wiederaufbaus. Die USA blieben vorerst mit sich selbst beschäftigt. Doch gerade in dieser Zeit entstanden die Voraussetzungen für den späteren Imperialismus. Durch hohe Einfuhrzölle geschützt, industrialisierten sich die USA rasant, während sich in Lateinamerika die konservativen Eliten – paradoxerweise ganz im Sinne des Liberalismus von Adam Smith – darauf beschränkten, Rohstoffe zu produzieren und industriell gefertigte Waren von europäischen Ländern, vor allem Großbritannien, zu importieren.
Doch die expansionistischen Strömungen waren nicht ausgestorben. Weite Verbreitung hatte der Glaube an ein manifest destiny, ein vorgeschriebenes Schicksal, nach dem die angelsächsichen USA die “schwächeren Rassen” in das scheinbare Paradies von Kapitalismus, Demokratie und puritanischen Protestantismus zu führen hätten – oder auszurotten, wie die indigene Bevölkerung der USA. Früh engagierte sich der spätere Präsident Theodore Roosevelt in solchen imperialistischen und rassistischen Zirkeln. “Ich werde beinahe jeden Krieg willkommen heißen,” erklärte er einmal, “denn ich denke, dieses Land braucht einen!”

Die Ideale Jeffersons

Dies waren zweifelsohne nicht die Ideale Thomas Jeffersons, derentwegen die USA einst auch von den kreolischen Eliten Lateinamerikas bewundert wurden: die Wertschätzung des Individuums, die Gleichheit aller Menschen und die Freiheit eines jeden, sein Glück zu suchen. Die Verfassung garantiert aber auch die Unverletzlichkeit des Eigentums und das Recht auf Waffenbesitz. Überhaupt war das mit der Gleichheit offenbar nicht so gemeint, wie es auf dem Papier stand. So war das Wahlrecht an Landbesitz gebunden und galt anfangs höchstens für zehn Prozent der Bevölkerung. Und die Freiheit, das persönliche Glück zu suchen, bezog sich vor allem auf wirtschaftliche Aktivitäten. Die Freiheit der wirtschaftlich Starken endete keineswegs dort, wo sich Arme davon bedrängt fühlten. Zudem fand selbst der Idealist Jefferson, dass diese Gleichheit nicht für die indigene Bevölkerung galt. Er drohte den „wilden Tieren“ einen „unaufhörlichen Krieg“ an, „solange noch einer von ihnen übrig ist, jenseits des Mississippi“. Trotzdem finden sich in den USA immer wieder Menschen, die von diesen Idealen ausgehend, die aktuelle Politik kritisieren und ihre Erfüllung einfordern.
Zur Geschichte des US-Mexikanischen Kriegs gehört eben auch die von Henry David Thoreau, der sich lieber einsperren ließ, als Steuern für diesen Krieg zu bezahlen.
Und so fand auch der imperialistische Roosevelt seine Gegenspieler in einer starken Friedensbewegung. Während er im Zuge des Spanisch-Amerikanischen Kriegs 1898 mit seinen “Rough Riders” den St. Juan Hügel in Cuba stürmte (vielleicht aus Freude, seinen Krieg gefunden zu haben?), schrieb Mark Twain Artikel für pazifistische Zeitungen, in denen er beispielsweise vorschlug, die Sterne in der US-Flagge gegen einen Totenkopf mit gekreuzten Knochen auszutauschen. Doch die jingoists, wie man die Anhänger einer aggressiven Außenpolitik damals nannte, behielten die Oberhand.
Und in deren Argumentation wurde auch die Monroe-Doktrin wieder wichtiger. Im Jahre 1895 konnten die USA die Doktrin zum ersten Mal gegenüber Großbritannien durchsetzten. Anlass war ein Grenzkonflikt zwischen Venezuela und Britisch-Guyana: Die USA drohten mit Krieg, sollten sich die Briten nicht zurückziehen, woraufhin diese von ihren Plänen absahen.

Keine Kolonien für die USA

Vom Erfolg dieser Haltung offenbar überwältigt, behauptete der damalige Staatssekretär Olney, dass die USA nun “praktisch der Souverän der Hemisphäre” seien. Dieser als Olney Corollary in die Geschichte eingegangene Zusatz zur Monroe-Doktrin beunruhigte und empörte natürlich die meisten LateinamerikanerInnen.
Noch beunruhigender und empörender war allerdings, dass die USA nach dem Krieg mit Spanien Kuba und Puerto Rico vorerst nicht in die Unabhängigkeit entließen, sondern besetzt hielten (das Wort Kolonie wurde natürlich peinlich vermieden). Als Verteidiger kubanischer Freiheit in den Kampf gezogen, beschränkten die USA nun ihrerseits die Souveränität des neuen Staates mittels des Platt Amendments, ein Einschub in die kubanische Verfassung, der ihnen das Recht zusprach, zu intervenieren, wenn sie es für nötig erachteten. Puerto Rico dagegen bleibt bis heute ein “assoziierter Freistaat”, was sich natürlich viel netter als “Kolonie” anhört.
Der neue Held dieses Krieges, Theodore Roosevelt, wurde schließlich 1901 Präsident. Und auch er formulierte einen Zusatz zur Monroe-Doktrin: Dass nämlich die USA seiner Meinung nach das Recht hätten zu intervenieren, wenn “unverantwortliche Regierungen” in Lateinamerika durch Überschuldung die Intervention europäischer Mächte provozierten. Damit beanspruchten die USA Lateinamerika eindeutig als ihre Einflusssphäre, aus der sich konkurrierende imperialistische Mächte herauszuhalten hätten. So wurde in seiner Regierungszeit mit Panama ein neuer Staat im Hinterhof geschaffen, dessen einziger Zweck die Befriedigung des US-Interesses nach einem Kanal war. Und auch Haiti und Nicaragua bekamen zu spüren, was “Teddy” Roosevelt für “unverantwortlich” hielt.
Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges war aber die Gefahr für die USA, dass ein anderes Land ihnen den Einfluss in der Hemisphäre streitig machen könnte, ohnehin gebannt. Das noch überall in Lateinamerika reichlich vorhandene europäische Kapital wurde abgezogen und durch US-amerikanisches ersetzt. Nach dem Krieg war der Einfluss der USA in der Region noch unangefochtener als vorher.

Gemäßigte Politik in der Zwischenkriegszeit

So konnten es sich die USA leisten, in der Zwischenkriegszeit weniger aggressiv in Lateinamerika vorzugehen: Die wirtschaftliche Abhängigkeit war ohnehin gegeben. Und ab Ende der 20er Jahre waren durch die Weltwirtschaftskrise auch immer weniger US-BürgerInnen bereit, für außenpolitische Abenteuer Steuergelder zu verschwenden.
So konnte Franklin D. Roosevelt eine Politik der guten Nachbarschaft formulieren und die panamerikanische Freundschaft beschwören. In dieser Zeit konnten sich auch viele lateinamerikanische Länder nach europäischem Vorbild modernisieren und industrialisieren: Da die Exporte aus Europa und den USA ohnehin nicht mehr zuverlässig waren, setzte sich auch eine stärker auf Importsubstitution orientierte Wirtschaftspolitik durch, vorangetrieben von populistischen Führern, die sich auch auf die entstehende industrielle Arbeiterklasse stützen konnten.

Gegen die rote Flut

Der Zweite Weltkrieg stellte in dieser Beziehung keinen großen Einschnitt dar. Aber der darauf folgende Ost-Westkonflikt beherrschte von nun an die Beziehungen zu den lateinamerikanischen Länder.
Von nun an war klar, was im Rooseveltschen Sinne als “unverantwortliche” Politik zu gelten hätte: Alles, was irgendwie nach Sozialismus roch. Über jeder noch so bescheidenen politischen Reform in Lateinamerika hing das Damoklesschwert, dass es vom State Department als Vorbote einer kommunistischen Flutwelle bewertet werden könnte.
Nur Kuba konnte sich durch die Revolution von 1959 der direkten Einflussnahme Washingtons entziehen. Dafür konnte dieses kleine Land in der US-Propaganda die Rolle der Angstmaschine erfüllen: “Rote Flut” hieß ein Propagandafilm der Reagan-Zeit, in dem kubanische und sandinistische Guerillas (mit sowjetischer Unterstüzung) den Kommunismus einführen. Der Film hat ein hohes realsatirisches Potenzial.
So hat jedes lateinamerikanische Land in irgendeiner Form den “großen Stock” der USA gespürt, den Roosevelt immer bei sich tragen wollte: Blutrünstigste Generäle von Pinochet bis Rios Montt waren sich der Unterstützung der USA sicher, solange sie die “Roten” bekämpften. In Einzelfällen, wie in Grenada, intervenierten die USA auch direkt. Und an die kubanische Schweinebucht oder nach Nicaragua schickten sie von der CIA ausgebildete Söldner. Aktuell rüsten die USA die kolumbianische Armee gegen die Guerillas FARC und ELN auf.

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