Literatur | Nummer 245 - November 1994

Von Bücherzügen und Lesestunden

Am Rand der Buchmesse trafen sich zwei Lesestiftungen

Brigitte Müller

“Die Biblioteca Nacional in Rio de Janeiro ist die achtgrößte Bibliothek der Welt: Acht Millionen Bücher, 200 Stiche von Albrecht Dürer, viele Partituren alter Meister und die größte Sammlung italieni­scher Maler des 16. Jahrhunderts außer­halb Europas.” Affonso Romano Sant’Anna, Präsident der “Fundaçao da Biblioteca Nacional” und Dichter, ist sichtlich stolz auf den Tempel des ge­schriebenen Wortes und der schönen Kün­ste.
Eigentlich haben die BrasilianerInnen die geschichtsträchtigen Werke Napoleon zu verdanken: Die Bestände haben ihren Ur­sprung in der königlichen Bibliothek Por­tugals. Don Joao IV. floh 1808 vor Napo­leons Truppen in die portugiesische Kolo­nie nach Übersee – mitsamt Hofstaat und eben der Bibliothek.
Doch ging es in dem Treffen zwischen Sant’Anna und Horst Kreibich, Leiter der deutschen “Stiftung Lesen”, auf der dies­jährigen Frankfurter Buchmesse weniger um die Schätze illustrer Buchkunst. Mög­lichkeiten der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Leseförderung wollten sie austüfteln, und ein erstes Gespräch über allseits so beliebte Projekte stand auf dem Programm.
Die brasilianische Lesestiftung sieht ihre Aufgabe nicht in Alphabetisierungskam­pagnen (in Brasilien können etwa 19 Pro­zent der BewohnerInnen nicht lesen und schreiben), sondern darin, die 50 Millio­nen “funktionalen Analphabeten” im Land an das Lesen heranzuführen. “Funktionale Analphabeten” sind jene, die zwar Ge­schriebenes entziffern können, aber den Sinn und die Zusammenhänge des Gele­senen nicht verstehen. Für Europa wird die Zahl von der “Stiftung Lesen” übri­gens genauso hoch geschätzt, in Deutsch­land gibt es nach Angaben von Horst Kreibich zwischen 3 und 5 Millionen “funktionale Analphabeten”.
Der “Biblioteca Nacional” sind in Brasi­lien 3000 öffentliche Bibliotheken und 900 Unibibliotheken angeschlossen. Neu­stes Projekt der Leseförderung: “Wir wollen Bücherzüge, quasi Bibliotheken auf Schienen, einrichten, die von Rio de Janeiro nach Minas Gerais fahren”, erzählt Sant’Anna. Bei den einzelnen Stationen soll es dann ein Begleitprogramm geben, beispielsweise gemeinsames Lesen und Lesungen, um die Leute mit den ge­druckten Zeichen vertraut zu machen. Ähnliches ist mit Schiffen geplant – ein Schiff der Marine soll demnächst mit der zivil-pädagogischen Fracht an der Küste entlang und die Flüsse hinauffahren. Ach ja, und falls jemand zufällig einen finanz­kräftigen Reeder oder eben einen Unter­nehmer aus der Eisenbahnbranche kennt…
Natürlich fehlt es auch der brasilianischen Lesestiftung an Geld – Spenden sind will­kommen. Kein Wunder also, daß der Hauptjob von Sant’Anna in Bittgängen zu Privatunternehmen besteht (Kreibich nickt bestätigend). Manchmal hat er sogar Er­folg. Die Unternehmer haben längst mit­gekriegt, daß mit der Lesefähigkeit der Arbeiter auch die Produktivität steigt. Denn, wer eine Gebrauchsanweisung nicht nur entziffern, sondern auch verste­hen kann, arbeitet effektiver. Wer liest, soll zudem mehr Kreativität und Phantasie entwickeln – heißt es.
Lesestunden in den Betrieben finden frei­lich in der Mittagspause statt, gegessen wird dann eben später. Literarische Er­zählungen und weniger Anspruchsvolles wird erst vorgelesen, dann mit den Arbei­terInnen besprochen, in der Hoffnung, ihr Interesse zu wecken und zu fördern.
Ein Teil des Budgets geht für Werbung drauf- vornehmlich in dem oft als buch­feindlich verschrienen Medium Fernse­hen. Längst jedoch haben die Lesefach­leute begriffen (in Lateinamerika um ein vielfaches schneller als in Europa), daß zwischen Buch und Fernsehen keine Geg­nerschaft mehr besteht. Das eine kann durchaus in den Dienst des anderen treten.
Mit dem gemeinsamen Projekt von deut­scher und brasilianischer Lesestiftung wurde es dann erst mal doch nichts. Die “ersten gemeinsamen Gespräche” zeich­neten sich durch Unverbindlichkeit aus. Auch von Erfahrungsaustausch konnte kaum die Rede sein. Dafür wollen sich die Herren dann noch mal extra zusammen­setzen.


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