Von Bücherzügen und Lesestunden
Am Rand der Buchmesse trafen sich zwei Lesestiftungen
“Die Biblioteca Nacional in Rio de Janeiro ist die achtgrößte Bibliothek der Welt: Acht Millionen Bücher, 200 Stiche von Albrecht Dürer, viele Partituren alter Meister und die größte Sammlung italienischer Maler des 16. Jahrhunderts außerhalb Europas.” Affonso Romano Sant’Anna, Präsident der “Fundaçao da Biblioteca Nacional” und Dichter, ist sichtlich stolz auf den Tempel des geschriebenen Wortes und der schönen Künste.
Eigentlich haben die BrasilianerInnen die geschichtsträchtigen Werke Napoleon zu verdanken: Die Bestände haben ihren Ursprung in der königlichen Bibliothek Portugals. Don Joao IV. floh 1808 vor Napoleons Truppen in die portugiesische Kolonie nach Übersee – mitsamt Hofstaat und eben der Bibliothek.
Doch ging es in dem Treffen zwischen Sant’Anna und Horst Kreibich, Leiter der deutschen “Stiftung Lesen”, auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse weniger um die Schätze illustrer Buchkunst. Möglichkeiten der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Leseförderung wollten sie austüfteln, und ein erstes Gespräch über allseits so beliebte Projekte stand auf dem Programm.
Die brasilianische Lesestiftung sieht ihre Aufgabe nicht in Alphabetisierungskampagnen (in Brasilien können etwa 19 Prozent der BewohnerInnen nicht lesen und schreiben), sondern darin, die 50 Millionen “funktionalen Analphabeten” im Land an das Lesen heranzuführen. “Funktionale Analphabeten” sind jene, die zwar Geschriebenes entziffern können, aber den Sinn und die Zusammenhänge des Gelesenen nicht verstehen. Für Europa wird die Zahl von der “Stiftung Lesen” übrigens genauso hoch geschätzt, in Deutschland gibt es nach Angaben von Horst Kreibich zwischen 3 und 5 Millionen “funktionale Analphabeten”.
Der “Biblioteca Nacional” sind in Brasilien 3000 öffentliche Bibliotheken und 900 Unibibliotheken angeschlossen. Neustes Projekt der Leseförderung: “Wir wollen Bücherzüge, quasi Bibliotheken auf Schienen, einrichten, die von Rio de Janeiro nach Minas Gerais fahren”, erzählt Sant’Anna. Bei den einzelnen Stationen soll es dann ein Begleitprogramm geben, beispielsweise gemeinsames Lesen und Lesungen, um die Leute mit den gedruckten Zeichen vertraut zu machen. Ähnliches ist mit Schiffen geplant – ein Schiff der Marine soll demnächst mit der zivil-pädagogischen Fracht an der Küste entlang und die Flüsse hinauffahren. Ach ja, und falls jemand zufällig einen finanzkräftigen Reeder oder eben einen Unternehmer aus der Eisenbahnbranche kennt…
Natürlich fehlt es auch der brasilianischen Lesestiftung an Geld – Spenden sind willkommen. Kein Wunder also, daß der Hauptjob von Sant’Anna in Bittgängen zu Privatunternehmen besteht (Kreibich nickt bestätigend). Manchmal hat er sogar Erfolg. Die Unternehmer haben längst mitgekriegt, daß mit der Lesefähigkeit der Arbeiter auch die Produktivität steigt. Denn, wer eine Gebrauchsanweisung nicht nur entziffern, sondern auch verstehen kann, arbeitet effektiver. Wer liest, soll zudem mehr Kreativität und Phantasie entwickeln – heißt es.
Lesestunden in den Betrieben finden freilich in der Mittagspause statt, gegessen wird dann eben später. Literarische Erzählungen und weniger Anspruchsvolles wird erst vorgelesen, dann mit den ArbeiterInnen besprochen, in der Hoffnung, ihr Interesse zu wecken und zu fördern.
Ein Teil des Budgets geht für Werbung drauf- vornehmlich in dem oft als buchfeindlich verschrienen Medium Fernsehen. Längst jedoch haben die Lesefachleute begriffen (in Lateinamerika um ein vielfaches schneller als in Europa), daß zwischen Buch und Fernsehen keine Gegnerschaft mehr besteht. Das eine kann durchaus in den Dienst des anderen treten.
Mit dem gemeinsamen Projekt von deutscher und brasilianischer Lesestiftung wurde es dann erst mal doch nichts. Die “ersten gemeinsamen Gespräche” zeichneten sich durch Unverbindlichkeit aus. Auch von Erfahrungsaustausch konnte kaum die Rede sein. Dafür wollen sich die Herren dann noch mal extra zusammensetzen.