Von der Vergangenheit eingeholt
Ecuadors Präsident Lucio Gutiérrez wurde nach Massendemonstrationen in Quito vom Parlament abgesetzt
Die Bevölkerung Ecuadors hat dazu gelernt. In strömendem Regen verhinderten hunderte DemonstrantInnen am Nachmittag des 20. Aprils das Abheben eines kleinen Privatjets vom Flughafen der Hauptstadt Quito. Mehrere Präsidenten hatten in den letzten acht Jahren diesen Weg der Flucht ins meist karibische Ausland gesucht, um sich vor der wütenden Bevölkerung und der Justiz zu schützen. Dem 48-jährigen Ex-Oberst Lucio Gutiérrez gelang die Flucht jedoch nicht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als um diplomatisches Asyl in der brasilianischen Botschaft zu ersuchen.
Wenige Stunden zuvor hatte das Parlament Gutiérrez nach nur zwei Jahren und drei Monaten seines Amtes enthoben. Auch die bis dato treuen Streitkräfte hatten dem Staatschef ihre Unterstützung entzogen. Die Abgeordneten begründeten ihre Entscheidung mit „Amtsvernachlässigung, Unterdrückung von Demonstrationen und Verletzung der Verfassung” durch den Präsidenten.
Auf der anderen Seite wurden allerdings auch andere Stimmen laut, die das Verfahren als Staatsstreich interpretieren. Der peruanische Botschafter bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Alberto Borea, drückte zum Beispiel Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Absetzung von Gutiérrez aus: „Die OAS darf nicht einfach darüber hinwegsehen, dass die Dinge in Ecuador nicht rechtmäßig abliefen”. Das Ein-Kammer-Parlament, das aus 100 Abgeordneten besteht, hatte bei Anwesenheit von nur 62 ParlamentarierInnen mit 60 Stimmen für eine Absetzung des Präsidenten gestimmt. Dafür ist jedoch eigentlich eine absolute Mehrheit von mindestens 67 Stimmen notwendig. „Die Frage ist nun, ob die fehlenden 38 Abgeordneten ordnungsgemäß befragt wurden”, so Borea. Bis dies geklärt sei, wolle die OAS eine Anerkennung der neuen Übergangsregierung abwarten.
Ecuador unter chirurgischen Händen
Den Umständen zum Trotz legte der bisherige Vizepräsident Alfredo Palacio auf Initiative des Parlaments kurz nach Gutiérrez Absetzung den Amtseid provisorisch in einem anderen Gebäude statt im Parlament ab, da dieses von aufgebrachten DemonstrantInnen blockiert wurde. Der 66-jährige Chirurg ist der fünfte Präsident des krisengeschüttelten Landes binnen acht Jahren. In einer ersten Erklärung sagte er zu, die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zu prüfen. Forderungen der DemonstrantInnen nach einer Auflösung des Parlaments und Neuwahlen lehnte er jedoch ab. Laut dem Verfassungsrechtler Enrique Echevarría würde die Auflösung des Parlaments durch Palacio „einem diktatorischen Akt” gleich kommen. Doch auch die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung käme den verarmten Andenstaat teuer zu stehen. „Dies würde 25 Millionen US-Dollar kosten, die im Moment besser für die Gesundheitsversorgung der EcuatorianerInnen aufgebracht werden sollten”, so Echevarría.
Auch der von der Mehrheit der Bevölkerung geforderten Wiedereinführung einer nationalen Währung wollte Palacio kein grünes Licht erteilen, obwohl er die Zirkulation des US-Dollars „als größten Fehler” verurteilte. Dieser ist wurde 2000 als alleinige Währung Ecuadors eingeführt. Der Greenback sollte damals die Hyperinflation und den Staatsbankrott stoppen.
Um die explosive Stimmung im Land etwas zu beschwichtigen, kündigte Palacio die Auflösung eines Erdölfonds an, der unter Gutiérrez geschaffen worden war, um die öffentlichen Schulden von mehr als 14 Milliarden US-Dollar abzubauen. Stattdessen soll dieses Geld nun in soziale Investitionen fließen und zur Stabilisierung des Haushalts beitragen.
Gescheiterter Populist
Ähnliche Maßnahmen hatte Gutiérrez bei seinem Amtsantritt im Januar 2003 ebenfalls versprochen. Damals war er für viele noch ein Hoffnungsträger für einen radikalen strukturellen Wandel in sozialen und wirtschaftlichen Belangen des Landes gewesen. Sein Lebenslauf gab ihm zunächst Recht: Im Jahr 2000 hatte er als Armeeoberst gemeinsam mit der indigenen Bewegung einen populären Aufstand gegen die damalige Regierung Gustavo Noboas angeführt, der ihm den Ruf eines progressiven und unkomplizierten „Mann des Volkes“ bescherte.
Doch schon wenige Monate nach seinem Amtsantritt überwarf sich Gutiérrez mit der indigenen Pachakutik-Partei, die erstmals Regierungsverantwortung für die indigene Bevölkerung Ecuadors übernahm, die mehr als 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Nachdem seine einstigen Koalitionspartner nun zur Opposition wurden, drehte Gutiérrez, um politisch zu überleben, seine Fahne nach dem Wind, der ihm am günstigsten erschien. Mehrere Versuche der parlamentarischen Opposition aus christlich-sozialer Partei (PSC), der Pachakutik und der Demokratischen Linken (ID), ihn abzusetzen und ein politisches Verfahren wegen Gefährdung der Staatssicherheit und Geldverschleuderung einzuleiten, konnte Gutiérrez abwenden, indem er ehemals gegnerische Parteien mit politischen Ämtern und Einfluss ausstattete.
Das Fass zum Überlaufen brachte er jedoch im Dezember vergangenen Jahres. Nachdem ihn Opposition und Oberster Gerichtshof als „Diktator” stigmatisiert hatten, ließ Gutiérrez am 8. Dezember 27 der 31 obersten Richter durch den Kongress auswechseln. Die nötigen Stimmen für diesen Schritt bekam er durch die Roldosisten-Partei (PRE) des Ex-Präsidenten Abdalá Bucaram, der sich so den Weg für seine Rückkehr nach Ecuador aus dem Exil in Panama erkaufte. Der 1997 wegen Unzurechnungsfähigkeit abgesetzte Bucaram reiste Anfang April in sein Heimatland ein, nachdem der Gerichtshof laufende Verfahren gegen ihn eingestellt hatte. Ihm folgte Ex-Präsident Gustavo Noboa, der sich ebenfalls entlastet sah.
Tausende MitarbeiterInnen der Justiz forderten daraufhin eine Wiedereingliederung der ausgewechselten Richter, da sonst die Justiz in der Macht des Präsidenten läge. Am 13. April begannen hunderttausende Menschen, gegen die Regierung auf die Straße zu gehen. Die DemonstrantInnen forderten Gutierrez´ Rücktritt. Ein kurzzeitiger Ausnahmezustand und die Einwilligung des Präsidenten, die Richter wieder einzusetzen, konnten das Ende von Gutiérrez nicht mehr aufhalten.
Autonome Rebellion
Proteste und Gewalt in Ecuador, die in den letzten Jahren kontinuierlich das vorzeitige Ende von Präsidenten besiegelten, sind nicht neu. Diesmal überraschte jedoch die unorganisierte Kraft auf der Straße. Hatten zuvor die gut organisierten Indígenas mit ihren Blockaden und Märschen das Geschick der Regierenden in der Hand, waren es diesmal hauptsächlich BürgerInnen der Mittelschicht vor allem aus der Hauptstadt Quito, die die Nase voll hatten vom politischen Geschacher ihres Präsidenten. Die unbescholtene Rückkehr von Bucaram und dessen unverhohlene Ankündigung, wieder in die Politik einzusteigen, gaben die Initialzündung zum offenen Zorn in der Bevölkerung.
„Was in unserem Land passiert ist einmalig in Lateinamerika”, meint dazu der Gouverneur der Demokratischen Linken der Provinz Pichincha, Ramiro González. „Die Bevölkerung hat eine autonome Rebellion ohne politische Struktur durchgeführt und dabei die Parteien beiseite gelassen”.
Der kolumbianische Politologe Carlos Patiño warnte dagegen vor einer Deinstitutionalisierung des Nachbarlandes. „Mit jedem Sturz eines Präsidenten, der durch die Straße erfolgt, verliert das Land immer weiter an parlamentarischer Glaubwürdigkeit und Stabilität”, so Patiño. Regierbarkeit und demokratische Auseinandersetzung würden so immer schwieriger.
Mit umso schärferen Tönen versucht deshalb nun der frisch eingesetzte Präsident Alfredo Palacio die Gemüter zu besänftigen. „Die Diktatur, die Morallosigkeit und die Angst haben ein Ende. Es wird kein Vergessen und Vergeben für diejenigen geben, die die Republik nicht respektiert haben”, so Palacio vor dem Parlament. Die provisorische Generalstaatsanwältin Cecilia Armas de Tobar ordnete die Festnahme von Gutiérrez an, der bei Redaktionsschluss – zwei Tage nach dem Sturz – noch in der brasilianischen Botschaft ausharrte.
Doch auch das politische Schicksal von Palacio, der laut Verfassung die Amtszeit bis 2007 weiterzuführen hat, steht in den Sternen. Denn auch wenn die Proteste der DemonstrantInnen vorerst abgeflaut sind, bleiben deren Forderungen weiter bestehen: Auflösung des Parlaments und Neuwahlen binnen kürzester Zeit.