Von Einigkeit weit entfernt
Die Demokratiebewegung weist Risse auf
Der folgende Artikel stellt die internen Gegensätze dar, die die haitianische Demokratiebewegung seit Jahren kennzeichnen. Wir haben den Beitrag in leichtgekürzter Fassung der US-amerikanischen Wochenzeitschrift NACLA (Reports on the Americas) vom Januar/Februar dieses Jahres entnommen.
An einem kalten Wochenende im vergangenen Oktober scharten sich die Führungspersönlichkeiten der haitianischen Basisbewegungen um den exilierten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, um eine Bestandsaufnahme ihrer Bewegung zu machen. Ihre Überlegungen mündeten in durchaus unterschiedliche Einschätzungen. Einerseits war es durch ihre Widerstand und Mobilisierungskraft gelungen, daß die Wiederherstellung der Demokratie in Haiti auch noch zwei Jahre nach dem Staatsstreich an der Spitze der internationalen Tagesordnung steht. Doch wie begrenzt die Stärke der Bewegung ist, kann andererseits daraus abgelesen werden, daß die Militärjunta nach wie vor die Macht in den Händen hält, eine Welle brutaler Unterdrückung die Volksorganisationen vollkommen in den Untergrund zu drängen droht und alle Strategien zur Lösung der Krise ohne die Beteiligung der Basis in Konferenzsälen ausgearbeitet werden.
Die Anfänge der Lavalas-Bewegung
Ein häufig zitiertes haitianisches Sprichwort sagt: “Hinter diesem Berg liegen noch mehr Berge.” Dieses Sprichwort spiegelt die Geschichte der haitianischen Volksbewegung wider. Aus dreißig Jahren des Terrorregimes Duvalier ging die Bewegung mit einem geringen Organisationsgrad hervor und kämpft auch heute noch gegen ein als schier unüberwindbar erscheinendes Vermächtnis der Marginalisierung an. Die Bewegung entstand aus Zusammenschlüssen basiskirchlicher Gruppen, bäuerlicher Organisationen, Gewerkschaften, studentischen Interessenvertretungen und Nachbarschaftsvereinigungen. Die Mobilisierung der Massen wurde stets als Mittel angesehen, um revolutionäre Veränderungen herbeizuführen und eine wahrhaft partizipative Demokratie durchzusetzen. Mit Hilfe von Demonstrationen, Streiks, Landnahmen, geschriebenen und audio-visuellen Publikationen sowie dem gelegentlichen Gebrauch der “Volksgerechtigkeit” haben die Basisorganisationen Forderungen vertreten, die von einer Landreform bis zur Autonomie der Universitäten reichen.
Die Wirksamkeit der Bewegung wurde durch eine Mischung aus direkter Verfolgung, chronischer Geldnot und politischem Opportunismus geschwächt. Hinzu kommt die Strategie der USA zur Vereinnahmung von Führungspersönlichkeiten der Basisbewegungen und das Fehlen einer politischen Partei oder Organisation, die notwendig wäre, um die Forderungen in eine gezielte Strategie umzusetzen.
Neben diesen Hindernissen leidet die haitianische Basisbewegung unter der Auseinandersetzung mit dem reformistisch orientierten Teil der breiter angelegten “demokratischen” Bewegung in Haiti. Dem Lager der ReformistInnen, das aus PolitikerInnen, Intellektuellen und Mitgliedern der wirtschaftlichen Elite besteht, geht es vor allem darum, eine Formaldemokratie im Zuge von Wahlen und oberflächlichen Reformen durchzusetzen. Obwohl die ReformistInnen sich der Duvalier-Diktatur widersetzten, teilen sie doch nicht die langfristig auf radikale Veränderungen ausgerichtete Vision des neuen Haitis, wie sie von der Basis vertreten wird.
Nach Monaten unverminderter Massenmobilisierung setzte sich am 7. Februar 1986 Jean-Claude “Baby Doc” Duvalier in einem US-Jet nach Frankreich ab. Erneut strömten die Massen auf die Straßen – dieses Mal, um zu feiern. Das gemeinsame Fest drückte die Mannigfaltigkeit der aus taktischen Gründen geschlossenen Allianz gegen die Diktatur aus. Landlose Bäuerinnen und Bauern tanzten an der Seite von Großgrundbesitzern, und BewohnerInnen von Armenvierteln feierten neben Industriellen.
Nach dem Sturz der Diktatur schien alles möglich. Der Geschmack nach Freiheit steigerte den Appetit auf Gerechtigkeit und den Wunsch, gemeinsam für grundlegende Veränderungen zu sorgen. Zum ersten Mal seit fast dreißig Jahren fanden die Forderungen der verarmten Bevölkerungsmehrheit Widerhall in einer Fülle von Basisorganisationen, die neu gegründet wurden oder aber aus dem Untergrund kamen. Um den Einfluß der verhaßten AnhängerInnen Duvaliers zu brechen, wurde ein Zusammenschluß über alle ideologischen und sozialen Schranken hinweg angestrebt.
Das Erbe der Duvalier-Diktatur
Selbstverständlich endete die Diktatur nicht mit der Flucht Duvaliers. Baby Doc hatte den Stab an den “Duvalieristischen Nationalen Regierungsrat” (CNG) weitergegeben, einer sechsköpfigen Junta unter der Leitung des Generals Henri Namphy. Noch immer regierten lokale Militärmachthaber in ländlichen Gebieten, ohne juristisch für ihr Terrorregime belangbar zu sein. Die öffentliche Verwaltung war durchsetzt mit korrupten zivilen Angestellten, und die paramilitärischen tontons macoutes verfügten nach wie vor über Schlüsselpositionen in der Regierung. Fritz, ein bekannter Kämpfer während der vergangenen zwanzig Jahre, erklärt: “Wir alle wurden Zeugen von Duvaliers Abgang. Theoretisch war dies das Ende von Diktatur und Gewaltherrschaft. Doch dann bemerkten wir, daß Duvalier nur die Spitze des Eisberges gewesen war und daß wir in allen Bereichen mit der Mobilisierung fortfahren mußten.”
Eines der Instrumente in dieser Mobilisierung war Dechoukaj. Wörtlich übersetzt heißt das “entwurzeln” und wird oft gleichgesetzt mit der sogenannten “Halskrause”, der Hinrichtung durch einen brennenden Autoreifen. Dechoukaj beinhaltete mehr als die Volksjustiz in den Straßen. Tatsächlich war sein wichtigster Aspekt politischer Natur. Bauern und Bäuerinnen schlossen sich zusammen, um die Gewaltherrschaft der Militärs in den ländlichen Gebieten zu beenden. StudentInnen kämpften darum, den staatlichen Einfluß auf die Universitäten zu brechen. Die Bevölkerungsmassen strömten nicht nur zusammen, um die tontons macoutes zu beseitigen, sondern auch die politische Maschinerie, die diese genährt hatte.
Die Mitglieder der Volksbewegungen waren davon überzeugt, daß Dechoukaj helfen könnte, die reale Macht den AnhängerInnen Duvaliers, sowie den Eliten des Landes zu entreißen. Tatsächlich waren es diese Überlegungen, die das reformistische Lager am meisten verschreckten. Dessen SympathisantInnen zogen aus dem damaligen status quo ihren Nutzen und fürchteten, von der militanteren Basis zur Rechenschaft gezogen zu werden, sollte sich Dechoukaj als politisches Instrument durchsetzen. Im Verein mit den von Duvalier ernannten Bischöfen begannen die ReformistInnen mit einer Öffentlichkeitskampagne, in der sie vor allem den Aspekt der Straßen-Justiz unterstrichen und zu nationaler Versöhnung aufriefen. Bevorteilt durch die Verfügungsgewalt über größere Ressourcen und durch die Kontrolle der Medien vermochten sie es, Dechoukaj zur Mitte des Jahres 1986 zum Halten zu bringen. “Immer wenn die Leute mobilisiert waren”, beklagt sich Fritz, “waren diese Typen eher dazu bereit, hinter verschlossenen Türen mit den Militärs zu verhandeln, anstatt unmißverständlich zur Tat aufzurufen. Anstelle von Aufrufen an das Volk, weiterhin Druck mit ihren Forderungen auszuüben, gaben sie versöhnliche Erklärungen ab. Manchmal hatten wir den Eindruck, sie würden in uns größere Feinde als die Macoutes sehen.”
Demokratisches Kleinbürgertum gegen sozialrevolutionäre Forderungen
Eine haitianische Volksweisheit warnt davor, daß ein leckes Haus zwar die Sonne, jedoch nicht den Regen betrügen könne. Anfang 1987, ein knappes Jahr nach dem Sturz Duvaliers, wurden die Gegensätze zwischen den revolutionären Idealen des militanten Lagers und den kleinbürgerlichen Tendenzen der ReformistInnen offenbar. Während Einigkeit im Hinblick auf die Notwendigkeit einer neuen Landesverfassung und von Neuwahlen bestand, wurde darüber gestritten, ob diese Schritte auch unter dem repressiven Klima der noch unter Duvalier eingesetzten Militärjunta unternommen werden sollten.
Im Januar 1987 wurde ein breites Spektrum demokratischer Gruppen zur Teilnahme am Kongreß der “Demokratischen Bewegung Haitis” (KONAKOM) eingeladen. Dieser Kongreß, der den Grundstein für eine politische Mitte-Links-Partei legte, erarbeitete eine Plattform, in der eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung gefordert wurde. Der militante Teil der Volksbewegung war skeptisch und erkannte in den Forderungen nach einer neuen Verfassung und nach Neuwahlen ein Manöver, um grundlegende Veränderungen zu verhindern. Im März rief die kurz zuvor gegründete “Nationale Volksversammlung” (APN) zum Boykott der Wahlen und der Volksabstimmung über die neue Landesverfassung auf. Andere Gruppen, wie beispielsweise die “Bewegung der Bauern von Papay”, befürworteten die neue Verfassung trotz all ihrer Schwächen.
Nachdem die neue Verfassung im März verabschiedet worden war, drehte sich die interne Auseinandersetzung um die für den November vorgesehenen Wahlen. Selbst diejenigen, die sich für die Wahlen aussprachen, zweifelten an der Aufrichtigkeit der Militärjunta. Das Massaker an über dreihundert für eine Landreform streitenden Bäuerinnen und Bauern aus Jean Rabel im Juli bestätigte dieses Mißtrauen und verstärkte die Forderungen nach einem völligen Boykott des Wahlprozesses. Kirchliche Basisgemeinden aus Port-au-Prince forderten die Menschen dazu auf, “weiterhin gegen die Wahlen mobilisiert zu bleiben, deren Ergebnisse niemals die grundlegenden Probleme des Volks lösen werden.” Doch je näher der Wahltermin rückte, desto mehr veränderte sich diese Haltung, bis dazu aufgerufen wurde, mit den AnhängerInnen der Diktatur durch Wahlen aufzuräumen.
Armee erstickt Wahlen im Kugelhagel
Die Armee reagierte mit ihrer ganz speziellen Art des Aufräumens, indem sie WählerInnen massakrierte, die ihre Wahlscheine abholen wollten. Während die Volksbewegung kurzfristig zurückweichen mußte, brachte der Abbruch des Wahlprozesses die Volksbewegung in ihrem langfristigen Kampf voran, denn nur allzu deutlich wurden die Grenzen der reformistischen Strategie in der Auseinandersetzung mit den AnhängerInnen der Duvalier-Diktatur. “Die Reformisten brauchen die Mobilisierung auf den Straßen immer dann, wenn sie unter Druck stehen”, sagt Fritz. “Doch sobald sie den Rücken frei von den Macoutes haben, suchen sie den Schulterschluß mit der Bourgeoisie, um jeden tiefergehenden Wandel zu blockieren. Immer sagen sie Dir, daß es nicht darum gehe, Dich zu bremsen. Sie sagen, Du seist unrealistisch, ein Extremist, ein Purist. Aber wenn die Macoutes wieder auftauchen, schreien sie ganz schnell nach Hilfe.”
Zwei Militärstreiche und eine gefälschte Wahl hatten stattgefunden, ehe die Volksbewegung im März 1990 die Straßen erneut eroberte und den damaligen Machthaber General Prosper Avril aus dem Amt jagte. Doch wiederum war der Sieg nur von kurzer Dauer. Die entstandenen politischen Freiräume wurden von den ReformistInnen besetzt, die eine unheilige Allianz mit der Interims-Präsidentin Ertha Pascal-Trouillot, einer Duvalieristin, eingingen.
“Nachdem wir uns den Kugeln der Militärs ausgesetzt hatten und der Aufruhr Avril gekippt hatte, nahmen diese Schlips- und Anzugtypen das Steuer in die Hand”, erklärt Calixte, eine Führungspersönlichkeit der “Koordinierung der Volksorganisationen”. “Sie teilten uns mit, daß unsere Teilnahme im Demokratisierungsprozeß beendet sei und die Sache von nun an in klimatisierten Räumen verhandelt werde, in denen wir nicht willkommen seien.” Ein zwölfköpfiger vorübergehender Staatsrat, der gemeinsam mit Trouillot regierte, wurde gegründet, um Wahlen vorzubereiten. Aufgrund ihrer Unfähigkeit, den Forderungen der Bevölkerungsmehrheit zu entsprechen, verlor diese Regierung sehr schnell jegliches Vertrauen.
Nach all den gesammelten Erfahrungen trug diese neue Erfahrung zur weiteren Radikalisierung der Volksbewegung bei. Da die politischen Eliten in erster Linie damit beschäftigt waren, sich für die Zeit nach den Wahlen einzurichten, ließ sich die Bevölkerungsmehrheit nicht ködern und verhielt sich gleichgültig gegenüber den Wahlen.
Aristides Kandidatur verleiht Volksbewegung neuen Schwung
Als Aristide in letzter Minute das Rennen um die Präsidentschaft aufnahm, änderte sich diese Haltung. Nur sieben Monate zuvor hatten sich die ReformistInnen noch geweigert, den populären Geistlichen zum Kandidaten zu machen. Angesichts der Rückkehr des exilierten Duvalier-Hardliners Roger Lafontant und der mit Geld aus den USA finanzierten Wahlkampagne des ehemaligen Weltbankmitarbeiters Marc Bazin griffen die ReformistInnen nun auf Aristide zurück. Diese Entscheidung erwies sich als brillanter Schachzug, denn die Zahl der registrierten WählerInnen stieg mit über einer Million sprunghaft um das Doppelte an.
Dies war die Geburtsstunde der “Operation Lavalas”, die von Anfang an ein Zweckbündnis zwischen der Volksbewegung, aus der Aristide kam, und den gegen die tontons macoutes gerichteten Eliten war. Die wichtigste Organisation dieser Eliten war die “Nationale Front für Wandel und Demokratie” (FNCD), deren legalen Status Aristide auf seinem Weg zur Präsidentschaft benutzte. “Was zählt”, so Aristide bei der Verkündigung seiner Kandidatur, “ist zu wissen, wann die Stunde zu einer taktischen Übereinkunft gekommen ist, um den tontons macoutes Einhalt zu gebieten.”
Es überraschte nicht, daß innerhalb der Lavalas-Allianz sehr bald erste Spannungen auftraten. Der ursprünglich von der FNCD vorgesehene Kandidat, Victor Benoit von der “Demokratischen Bewegung Haitis”, kritisierte Aristide wegen dessen angeblichen “politischen Abenteurertums” und rief die Parteimitglieder dazu auf, sich aus dem Vorbereitungsprozeß für die Wahlen zurückzuziehen. Dieses Mal behielt jedoch das militante Lager die Oberhand. Mit einem legitimierten Vertreter der Volksmassen, der in die politische Debatte eingriff, war es den ReformistInnen nicht länger möglich, die Vorgehensweise der Allianz zu bestimmen. Während die FNCD danach trachtete, eigene KandidatInnen im Windschatten Aristides in öffentlichen Ämtern unterzubringen, sahen die Volksorganisationen den Urnengang als ein Vehikel zur Mobilisierung an und ließen keinen Zweifel an ihrer Bereitschaft, die Wahlen im Zweifelsfall zu boykottieren. “Entweder werden wir auf ganzer Linie siegen, oder aber die Wahlen kategorisch ablehnen”, warnte Aristide.
Formaler Bruch mit dem Kleinbürgertum
Am 4. Februar 1991 – drei Tage vor seiner Amtseinführung – kündigte Aristide den Übergang von der “Operation Lavalas” zur “Organisation Lavalas” an. Seine Absicht war deutlich: der Aufbau einer unabhängigen politischen Struktur aus der Massenmobilisierung des Volkes heraus. Dies bedeutete den Bruch mit der FNCD, die nun der Gefahr ausgesetzt war, ihren Einfluß an eine konkurrierende Partei zu verlieren, die den Wahlerfolg sich alleine zuschreiben würde. Da die Führungspersönlichkeiten der reformistischen FNCD die Geschicke des Bündnisses nicht länger bestimmen konnten, verwandelten sie sich in erbitterte GegnerInnen Aristides, und hatten maßgeblichen Anteil an der Destabilisierung der neuen Regierung.
Nach dem Amtsantritt der ersten demokratisch gewählten Volksregierung Haitis war die Zeit reif Strukturen der Basisorganisationen zu stärken. Ben Dupuy, stellvertretender Direktor der Wochenzeitschrift Haïti Progrès und Gründungsmitglied der “Nationalen Volksversammlung” (APN) erklärt: “Unter Aristides Präsidentschaft bestand das Ziel der APN darin, den Menschen bewußt zu machen, daß obwohl wir formal die Macht errungen hatten, die fortschrittsfeindlichen Kräfte noch immer stark waren, und daß es keine Garantie für den Bestand der damaligen Situation gab. Die Menschen mußten also die neugewonnenen Freiräume tatsächlich nutzen, anstatt nach schnellen Lösungen zu suchen oder persönliche Ziele zu verfolgen.” Trotz des Vorteils, den Präsidenten zu stellen, stand die Bewegung bald neuen Schwierigkeiten gegenüber. Verführt von persönlicher Eitelkeit oder Geld, verließen verschiedene Führungspersönlichkeiten die Volksbewegung, um Posten im Regierungsapparat zu übernehmen. Obwohl immer mehr Basisorganisationen entstanden, mangelte es vielen, insbesondere in der Hauptstadt, an einem tatsächlichen Rückhalt in der Bevölkerung. Vielfach wurden sie von OpportunistInnen geleitet, denen in erster Linie an Macht und Status gelegen war.
Putsch verbannt die Massen aus der politischen Arena
Der Staatsstreich vom September 1991 kam gnadenlos. Sein wichtigstes Ziel bestand darin, die Volksbewegung zu zerschlagen und die Massen aus der politischen Arena zu verbannen. Um der Repression zu trotzen, griff das haitianische Volk auf die marronage zurück, eine Form des Widerstands aus dem Untergrund heraus, die tief in den geschichtlichen Wurzeln des Kampfes gegen die Sklaverei verwurzelt ist. Nach der Exilierung des Präsidenten, der damit den Kontakt zur Basis verlor, beherrschten die reformistischen Strömungen innerhalb der Lavalas-Bewegung zusehends die politischen Geschicke. Sie setzten nahezu ausschließlich auf international vermittelte Verhandlungen zur Bewältigung der Krise. Viele innerhalb der Volksbewegungen waren sehr argwöhnisch gegenüber dieser Strategie. Ein Sprecher der Bewegung der Landbevölkerung, Chavannes Jean-Baptiste unterstreicht: “Nur die Hitze der massenhaften Mobilisierung wird den Topf der internationalen Verhandlungen zum Kochen bringen.” Nathan, ein Student aus Petit Grove, erklärt resigniert: “Immer dann, wenn wir bereit waren loszuschlagen, verstärkte die internationale Gemeinschaft ihre Verhandlungsbemühungen, und wir alle wurden zurück in den Untergrund geschickt, um abzuwarten. Wenn es nicht gerade irgendwelche Sanktionen waren, wurde eine Beobachterdelegation der Vereinten Nationen oder der Organisation der Amerikanischen Staaten entsandt, und das Spiel des Abwartens begann aufs Neue.”
Kritik an Aristides Verhandlungsführung
Als die internationale Diplomatie Aristide zu immer weiteren Zugeständnissen drängte, wuchs auch die Kritik an dessen Verhandlungsführung. Die Volksbewegungen empfanden vor allem das Schweigen der ReformistInnen zu Plänen einer internationalen militärischen Intervention als bedrohlich. Als das Abkommen von Governor’s Island unterzeichnet wurde, das den Rücktritt der Anführer des Staatsstreiches sowie die Rückkehr des exilierten Präsidenten vorsah, drückte die Volksbewegung einerseits ihre Unterstützung für Aristide aus. Andererseits kritisierte sie das Abkommen und bezweifelte die Bereitschaft des haitianischen Militärs und der internationalen Staatengemeinschaft, den Vertrag auch tatsächlich zu erfüllen.
Das Scheitern des Abkommens bestärkte die Überzeugung der Volksbewegung, daß es unmöglich sei, auf Hilfe von außen zu warten, anstatt die eigenen Kräfte zum Sturz des Militärregimes zu mobilisieren. Diskussionen über neue Formen des Kampfes und einen aktiveren Widerstand spielen eine immer gewichtigere Rolle bei der Suche nach Möglichkeiten, Resignation in die Bereitschaft zum entschlossenen Vorgehen zu verwandeln, um auch die internationale Solidarität neu zu beleben. Die ReformistInnen stehen nun vor dem Dilemma, entweder mit einer vor allem eigene Interessen verfolgenden internationalen Gemeinschaft zu paktieren, oder aber ein taktisches Bündnis mit den Volksbewegungen einzugehen, die sich immer mehr radikalisieren. Während die ReformistInnen in früheren Zeiten immer wieder die Massen dazu benutzten, die Macht zu erobern, schrecken sie heute vor dem Rückgriff auf diese Strategie zurück. Sie spüren, daß die beiden Jahre des Widerstands die militanten Kräfte innerhalb der Lavalas-Bewegung gestärkt haben und befürchten, die Forderungen nach tiefgreifendem Wandel nach dem Sturz des Militärregimes nicht unter Kontrolle halten zu können.
Der Gegensatz zwischen den beiden großen Tendenzen innerhalb der Lavalas-Bewegung dauert fort. Es ist jedoch die Volksbewegung, die an Stärke gewinnt. Ein Bauernführer drückt es so aus: “Mit zunehmender Repression nimmt auch unser Kampf unterschiedliche Formen an – je nach den entsprechenden Umständen. Sollte die Straße dornenreich sein, wissen wir, welche Schuhe zu tragen sind. Gelangen wir an einen Fluß, sind wir bereit zu schwimmen. Aber vor allem werden wir den Kampf nicht aufgeben, denn er ist unsere einzige Chance auf eine bessere Zukunft.”