Bewegung | Nummer 417 - März 2009

Vorhang zwischen den Welten

Das Weltsozialforum und seine lokale Einbettung

Das diesjährige, 9. Weltsozialforum (WSF) fand, nicht zuletzt auf Grund des großen Gewichts brasilianischer Gruppen, erneut in Brasilien statt. Dieses Mal jedoch nicht im WSF-erprobten Porto Alegre, sondern in der Amazonasstadt Belém. Ganz bewusst wollte man die Aufmerksamkeit im Angesicht der ökologischen Krise auf die Amazonasregion lenken. Nicht nur darüber konnte man beim WSF viel lernen. Beobachtungen aus Belém do Pará.

Eva Völpel, Nils Brock

Es geht mal wieder nichts. Die Straßen hin zu den beiden großen Campusgeländen der Universidad Federal do Pará und der Universidad Rural Federal do Pará sind hoffnungslos verstopft. Taxifahrer Reinaldo stört es nicht weiter. Das Taximeter läuft, er macht mit den Besucherströmen des WSF ein gutes Geschäft. Wie er das WSF findet? „Nun, ganz gut, aber ich frag mich doch, wo eigentlich der Rest der Millionen Real geblieben ist, den sie in den Ausbau der Straße stecken wollten, die hier an den Universitäten entlang führt. Vierspurig sollte sie werden.“ Wir blicken raus, zweispurig hat man sie gelassen, den Asphalt nur aufgehübscht. Ein Teil der Gelder der Bundes- und der Staatsregierung von Pará für das WSF, beide unter Führung von Präsident Inácio Lula da Silvas Arbeiterpartei PT, ist irgendwo anders versickert.
Linker Hand, dort, wo sich vor dem Eingang der Universidad Rural schon die langen Schlangen derer gebildet haben, die aufs WSF-Gelände wollen, blicken uns fröhliche Gesichter von großen, an Tourismuswerbung erinnernde Plakate der PT entgegen. „Pará begrüßt die Bürger der Welt“ und „Pará, Land der Rechte“ steht da geschrieben. Das klingt mehr als zynisch, schließlich führt der Bundesstaat hier oben im Norden Brasiliens laut der Landpastorale von Pará derzeit die Liste gewaltsamer Tötungsdelikte von sozialen AktivistInnen und bei Landvertreibungen an. „Pará und das Amazonsgebiet sind wie der wilde Westen“, hatte uns vor ein paar Tagen Henning Reetz von Brot für die Welt, der mehrere Jahre in Belém gelebt hat, erzählt. „Die Leute machen sich gar keine Vorstellung davon, aber hier herrscht Rechtsfreiheit, ein staatliches Gewaltmonopol hat sich kaum durchgesetzt und so können sich die großen Großgrundbesitzer einfach nehmen, was sie wollen.“ Wir erinnern uns daran, vor kurzem in einem Artikel gelesen zu haben, hier oben in der Amazonsregion gebe es Bars, in denen Listen mit Kopfgeldprämien an der Wand hängen. Einen sozialen Aktivisten umzulegen bringt dabei nicht ganz so viel ein, wie eine engagierte Rechtsanwältin.
Blick aus dem Fenster zur rechten Seite, unser Taxi rollt derweil zentimeterweise vorwärts. Überall PolizistInnen – 10.000 Sicherheitskräfte sind zum „Schutz“ des WSF abgestellt worden – Sturmgewehr über der Schulter, ein paar Meter weiter steht breitbeinig an einer einzelnen Kreuzung ein besonders aufgepumptes Exemplar, die Pistole schon gezückt. Direkt hinter den PolizistInnen beginnt Terra Firme, eines der größeren Armenviertel, auch genannt Favela, Beléms. Wie ein blauer und grauer Vorhang schiebt sich die Reihe der PolizistInnen und Militärs zwischen das Unigelände mit all seinen sozialen AktivistInnen und VertreterInnen großer Nichtregierunsgorganisationen (NRO), und eine andere soziale Realität. Die Straßen, die nach Terra Firme reinführen, sind ungeteert, klapprige Holzhäuser reihen sich aneinander, vom tropisch-feuchten Klima angemoderte Holzplanken decken notdürftig den vor Schmutz starrenden Kanal ab, der an dem Viertel vorbeizieht, ein willkommener Ort für die Aedes aegypti-Mücke, die das gefährliche Dengue-Fieber überträgt.
„Die Leute aus den Favelas würden gerade am liebsten ausziehen und woanders hingehen, aber sie können ja nicht.“ So hatte uns vor ein paar Tagen Pfarrerin und Menschenrechtsombudsfrau Sibelle Kuss beschrieben, welche Dynamik das WSF in den Favelas der Stadt ausgelöst hat. Die Regierung von Pará hat sich dazu entschlossen, den sozialen AktivistInnen aus aller Welt Belém von seiner besten Seite zu präsentieren. Die Favelas gehörten nicht dazu. Damit sich bloß niemand hinein verirrt, hat man für die Zeit des WSF den Alkoholausschank in Bars und kleinen Läden in sechs Favelas ab 22 Uhr verboten, auch Parties und geplante Konzerte mit Soundsystemen unter offenem Himmel dürfen zwischen dem 27. Januar und 2. Februar nicht stattfinden. Das hat bei vielen nicht gerade eine positive Stimmung gegenüber dem WSF ausgelöst, beschneidet es doch auch die Chance, an den Aktivismus-TouristInnen, die in die Stadt geströmt sind, zumindest eine Kleinigkeit zu verdienen. Außerhalb des WSF-Geländes, versteht sich, denn die 30 Reales Eintrittsgebühr, umgerechnet rund zehn Euro, kann sich meist niemand aus Terra Firme leisten. Auch die versprochenen Investitionen in soziale Projekte und fließendes Wasser, die mit dem WSF kommen sollten, sind ausgeblieben. Stattdessen flossen 50 Millionen Real, rund 17. Millionen Euro, in den Ausbau der Polizei- und Sicherheitskräfte.
Da liege auch, wie Pfarrerin Kuss erklärt, das größte Problem. Für die Zeit des WSF hat die Polizei die Favelas rund um die Uhr eingekreist. Innen drin, unsichtbar für die, die zum WSF gekommen sind, laufen jetzt noch mehr willkürliche Kontrollen und Haudurchsuchungen ab. Es löst bei vielen die pure Angst aus, allein im Januar hat die Polizei in Belém neun Personen in Favelas exekutiert, wie Sibelle Kuss sagt. 2007 war es Rafael Viana. Er wurde von der Polizei willkürlich festgenommen und später mit abgehackten Händen und Füßen gefunden, Folterspuren am ganzen Körper. Seine Mutter sollte den Polizisten 300 Real zahlen, dann würden sie den Jungen freilassen. Das Geld hatte sie nicht.
Irgendwann kommen wir auf dem anderen Universitätsgelände an, es ist der vorletzte Tag des WSF. Plötzlich Aufruhr, eine Gruppe von Indígenas aus dem Vale do Javarí stürmt, in Lendenschurz, bemalt und mit Pfeil und Bogen, diverse Bühnen und verschafft sich Gehör. Sie bräuchten Hilfe, sie verreckten dort, ganz einfach gesagt, im Amazonas, im Dreiländereck Brasilien, Peru und Kolumbien. Über 50 Prozent der Gemeinde habe Hepatitis, ihre Brüder und Schwestern stürben an Malaria. Die Regierung tue nichts, schicke keine Impfstoffe oder ÄrztInnen, gar nichts. Man brauche Strom und Kühlschränke, um die Impfstoffe, so sie denn mal kommen, auch zu kühlen. Sie erhalten viel unterstützenden Beifall, doch einige aus dem Publikum, in roten T-Shirts des Gewerkschaftsdachverbandes CUT und der PT, können mit der Anklage gegen die Regierung Lula nicht viel anfangen, missbilligend schütteln sie den Kopf.
Es ist die hohe Präsenz von indigenen Gruppen aus dem Amazonasgebiet und auch der Landlosenbewegung MST, die das Forum zu erden vermag und es den Leuten ermöglicht, etwas über die amazonische Realität zu hören. Drastisch hatte vor ein paar Tagen auch Sebastian Drude, Linguist, der seit Jahren mit der Gruppe der Awetí in Zentralbrasilien arbeitet, die Situation im Amazonas beschrieben. „Wenn man mit Google Earth über den Amazonas fliegt, dann kann man zum Beispiel im Bundesstaat Rondônia genau sehen, wo rechtlich verbriefte Indianerreservate sind. Es sind nämlich die einzigen grünen Inseln, die noch existieren, drumherum ist alles abgeholzt.“ Und er fügt hinzu: „Wenn ich die Tendenz der letzten zehn, fünfzehn Jahre extrapoliere auf die Zukunft, dann kann ich nur weinen, weil viel Wald verloren gehen wird und viele Gebiete erschlossen werden und weil das alles mit einer unglaublichen Brutalität geschieht. Kleine Landbesitzer werden vertrieben und wenn sie nicht gehen, dann werden sie eben erschossen.“
Wenngleich sich die Soja- und Zuckerrohrfront, kräftig gefördert von Präsident Lula, der seine Vorliebe für das Agrarexportbusiness entdeckt hat, in Pará noch nicht so weit in den Amazonas reingefressen hat, gibt es sie überall, die Inseln, wo sich Abholzung, Amazonaserschließung durch Straßenbau, industrielle Standorte und Monkulturplantagen konzentrieren und von dort aus ausbreiten. Neuerdings geschieht das auch unter dem Label „umweltverträglich“: Eukalyptusplantagen, die den Boden auslaugen, gelten im Emissionshandelspoker als CO2-Senken. In Pará haben sich die Abholzungen zwischen Januar und März 2008 im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht.
Gänzlich bleibt einem der Atem weg, wenn man sich anhört, was Gruppen und Bewegungen aus Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien und auch Europa und Nordamerika über das Projekt Regionale Infrastrukturintegration Südamerikas (IIRSA) erzählen. Die Achsen von IIRSA sollen den gesamten südamerikanischen Kontinent durchschneiden, 500 sogenannte Megaprojekte verwirklicht werden: Wasserkraftwerke, Staudämme, ein Ausbau der Landwirtschaft, Straßen. „Alles nur für den schnelleren Abtransport der Waren aus dem Land“, wie Roberto Espinoza von der Andinen Koordination Indigener Organisationen betont. Alle seien sie daran beteiligt, auch die Linksregierungen Lateinamerikas. So durchziehe die Politik des Wandels, wie Blanca Chancosa von Ecuanari, dem Zusammenschluss der Quechua-Völker aus Ecuador betont, ein großer Widerspruch.
Den Widerspruch kann man sich live auf dem WSF-Gelände betrachten. Dort verteidigen VertreterInnen der Gewerkschaft CUT im Namen des Fortschritts und der wirtschaftlichen Notwendigkeit den Bau des Wasserkraftwerks Bello Monte. Mit einem großen Modell des Amazonas haben sie sich aufgepflanzt und erzählen jedem, der es hören will, jetzt unter Lula laufe ja alles anders, es gebe Mitbestimmung und Konsultationen. Von denen haben allerdings die BewohnerInnen der Region, die vom 40.000 Hektar umfassenden Wasserkraftwerk im Süden Parás am Fluss Xingu betroffen sein werden, unter anderem 24 Indigenengebiete, noch nichts mitbekommen. Am Xingu und auch am Rio Madeira sollen gleich mehrere Staudämme gebaut werden, bis 2030 will Brasilien seine Stromkapazität verdoppeln, sage und schreibe 60 bis 70 neue Staudämme seien dafür insgesamt nötig, so Energie-Planungsdirektor Maurício Tolmasquim. „Brasilien ist hungrig nach Energie“, fasst Sebastian Drude die Vorhaben zusammen. Alles andere interessiert da wenig.

// Eva Völpel, Nils Brock


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