Wände ohne Ende
Malerei zum Nulltarif in Berlin, Los Angeles und Mexiko-Stadt
„Die Wandmalerei ist die höchste, folgerichtigste, reinste und stärkste Form der Malerei; (…) sie ist auch die uneigennützigste, weil sie nicht zum Gegenstand persönlichen Nutzens verwandelt, noch zum Vorrecht einiger weniger versteckt werden kann. Sie ist für das Volk. Sie ist für ALLE.“ So beschrieb einst der mexikanische Wandmaler José Clemente Orozco (1883-1949) die Vorzüge dieses Genres. In der Hauptstadt Mexikos vergab die Regierung nach der Revolution (1910-1917) viele Aufträge zur Ausgestaltung öffentlicher Gebäude. Die drei wichtigsten Wandmaler dieser Zeit sind auch bei uns bekannt: Orozco, Diego Rivera (1886-1957) und David Alfaro Siqueiros (1896-1974). Ihre Wandgemälde beschrieben dabei nicht nur die präkolumbische Vergangenheit, sondern vermittelten auch die seinerzeit aktuellen Regierungsprogramme. So wurden Industrialisierung, Alphabetisierung und die Verstaatlichung ausländischer Erdölgesellschaften zu vorrangigen Themen. Die Wandmalerei wandte sich dabei als Bilderbuch an die Armen, die häufig Analphabeten waren. Unterdrückung und Ausbeutung wurden an den Häuserwänden angeprangert und eine sozialistische Utopie aufgezeigt. In Los Angeles, ebenso wie Mexiko-Stadt Partnerstadt Berlins, gibt es wohl derzeit die meisten Wandgemälde der USA. Auch hier begann die Begeisterung für die Wandmalerei schon früh in diesem Jahrhundert. In den 30er Jahren, zur Zeit des New Deal, unterstützte die Regierung Roosevelt die Wandmalerei durch Künstlerförderungsprogramme. Die Idee kam aus Mexiko, und folgerichtig bekamen mexikanische Maler die ersten Aufträge.
Seit den Zeiten der Bürgerrechts- und Studentenbewegung ist vor allem die Geschichtsaufarbeitung aus der Sicht von unten Thema der Wandbilder. Dabei wird die Community häufig in Planung und Ausführung der Wandgemälde miteinbezogen. In der aktuellen Wandmalerei spielen die aus Mexiko eingewanderten Chicanos, die die multikulturelle Stadt besonders prägen, eine wichtige Rolle. So sind Rassismus, Arbeitslosigkeit, Drogen, Gewalt und die eigene Identitätsfindung Themen vieler Wandgemälde in Los Angeles.
In Berlin schließlich gibt es die längste Freiluftleinwand der Stadt seit einiger Zeit nicht mehr. Die Mauer war fast 30 Jahre das gesellschaftliche und ästhetische Stimmungsbarometer Westberlins. Doch auch die anderen, meist mit öffentlichen Mitteln geförderten, mehrere hundert Häuserwandbilder können sich sehen lassen. Mitte der 70er Jahre begann in Westberlin die Ausgestaltung der Wände, vornehmlich allerdings dominiert vom Gedanken der Stadtverschönerung. Auch in Ostberlin spielten die Außenwandbilder eine Rolle, zumal sie als staatliche Auftragskunst in besonderem Maße als Erziehungsmittel genutzt wurden. Später mit der HausbesetzerInnenbewegung wurden im Westteil verstärkt gesellschaftspolitische Themen aufgegriffen. In den 90er Jahren entstanden sowohl im Ost- als auch im Westteil weitere Wandbilder, darunter eines, bei dem Künstler aus L.A. mit Berliner Jugendlichen zusammenarbeiteten.
All dies kann man in dem Buch „Mural Art“ nachlesen oder besser, sich auf über 150 farbigen Abbildungen anschauen. Es ist vermutlich der erste Versuch, die Wandmalerei dieser drei Partnerstädte zu vergleichen. Diese vortreffliche Idee hatte Heinz J. Kuzdas. Das Buch überzeugt insbesondere durch den Text von Michael Nungesser, einem ausgewiesenen Experten für Wandmalerei. Der Text ist dreisprachig abgedruckt, ebenso wie die Bildtitel fast aller Wandgemälde. Die Grußworte der Bürgermeister von Berllin und Los Angeles hätte sich der Verlag allerdings sparen können.
Heinz J. Kuzdas: „Mural Art“. ISBN: 3-929139-59-6, Schwarzkopf & Schwarzkopf