Land und Freiheit | Nummer 346 - April 2003

Warten auf die Landreform

Noch lässt die neue Regierung Brasiliens keine sichtbaren Taten folgen

Annähernd 50 Millionen der 175 Millionen EinwohnerInnen Brasiliens leiden Hunger. Der Hauptgrund dafür ist nicht ein Mangel an Nahrungsmitteln oder deren ungenügende Produktion. Ursache ist meist fehlender Zugang zu und Kontrolle über die Ressourcen, mit denen Nahrungsmittel erzeugt werden könnten. Die von Hunger betroffene Bevölkerung lebt hauptsächlich auf dem Land. Daher ist die Landreform und ihre baldige Umsetzung in vielerlei Hinsicht das wichtigste Thema auf der Agenda der neuen Regierung unter Präsident Lula.

Vilmar Schneider

Bisher hat keine brasilianische Regierung die Agrarreform als vorrangiges Projekt betrachtet. Die Agrarpolitik von Fernando Henrique Cardoso – brasilianischer Präsident von 1994 bis 2002 – begünstigte die Großproduzenten und grenzte die große Mehrheit der Kleinbauern und Familienbetriebe aus. Die neoliberale Ideologie seiner Wirtschaftspolitik führte zu einer Umorientierung der Politik für den ländlichen Raum: Die Landreform, die ein Programm zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung sein, Erträge steigern und Arbeitsplätze schaffen sollte, verkam zur sozialen Kompensationspolitik. Statt durch staatliche Eingriffe die Besitzstrukturen zu verändern, legte die Regierung den Schwerpunkt auf die Liberalisierung der Bodenmärkte. In diesem Modell gewährt der Staat den Landlosen ein Darlehen, so dass sie dieses Land direkt von den Großgrundbesitzern kaufen können – und nicht dass der Staat Land enteignet und es danach an die Landlosen verteilt. Somit geht die Kontrolle über die „Landreform“ in die Hände der den Bodenmarkt dominierenden Großgrundbesitzer über. Während der Regierung Cardosos wurden hierdurch zwei der wichtigsten sozialen Errungenschaften der brasilianischen Verfassung annulliert: die Verbindung von Eigentum mit sozialer Verantwortung und das eigentlich verfassungsmäßig verankerte Instrument der Enteignung.
Von der neoliberalen Variante einer Bodenreform überzeugt, beharren die Begründer dieser Politik zudem darauf, veraltete Agrarmodelle wiederaufzunehmen, die als Antwort auf Ernährungssicherung bereits gescheitert sind: Das Agrarmodell „Grüne Revolution“ versprach das Ende des Hungers durch die Förderung neuer Produktionstechniken und den Einsatz chemischer Düngemittel. In Brasilien hatte dieses Modell schwerwiegende Folgen im Sozial- und Umweltbereich und brachte keine Verringerung von Hunger und Armut. Im Gegenteil: Es führte zu Landkonzentration, Abhängigkeit der Produktion von den transnationalen Konzernen, zum Einsatz von aus Öl hergestellten Düngemitteln, zu Monokulturen und zu einer intensiven und unhaltbaren Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. So wurden Tausende Kleinbauernfamilien an den Rand der Gesellschaft gedrängt, die ländliche und städtische Armut verschärfte sich und Ökosysteme wurden zerstört. Nach diesen Überzeugungen wurde jedoch auf Grund nationaler neoliberaler Ziele der Politik in den letzten Jahren weiterhin Agrarpolitik betrieben – mit dem Erfolg, dass sich das Elend der brasilianischen Bauern nur vergrößert hat. Trotz des Misserfolgs dieser Agrarpolitik preisen ihre Begründer zurzeit die „Wunderkraft“ der Gentechnik, mit dem Argument, die Nahrungsmittelproduktion zu erhöhen, und so das Hunger-Problem zu lösen.

Neoliberales versus nachhaltiges Agrarmodell

Gegen diese Politik wehren sich die Bewegungen, die um Land und ein nachhaltiges Agrarmodell kämpfen. Ihrer Auffassung nach muss die Umverteilung der produktiven Ressourcen gefördert und ihre Kontrolle durch die Bauern und die Nachhaltigkeit der Produktion gewährleistet werden. Die Landreform als Ziel eines demokratischen Prozesses für den Zugang zu produktiven Ressourcen ist der Grundstock eines sozialen und nachhaltigen ökologischen Agrarmodells. Die Agrarreform wird von den Landlosenbewegungen, insbesondere vom MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra), nicht als reine Umverteilung von Ackerland angesehen. Vielmehr handelt es sich bei der Agrarreform um einen umfassenden Prozess, in dem der gleichberechtigte Zugang zu Land als Ausgangsbasis für die Demokratisierung der gesamten Gesellschaft, des Staates und der Produktionsmittel gilt. Eine Agrarreform schafft so die notwendigen Vorbedingungen für soziale Gleichheit, Gerechtigkeit und Mitbestimmung des Volkes über die wirtschaftliche Entwicklung auf einer neuen Basis. Dieses Projekt kollidiert eindeutig mit dem jetzigen Modell des Großgrundbesitzes und der exportorientierten Landwirtschaft. Es ist Teil eines Entwicklungsmodells, das auf nationale Erneuerung und die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte ausgerichtet ist (s. Kasten).
Der Sieg „Lula“ da Silvas bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober letzten Jahres wurde auch als Sieg der sozialen Bewegungen gefeiert, auch und gerade der Bewegung der Landlosen. Die Regierung Lula lädt die Erwartungen großer Teile des brasilianischen Volkes auf sich, insbesondere die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft. Lula ist sich der Tatsache bewusst, dass seine Regierung eine Antwort darauf geben muss. In diesem Sinn wurde mit dem Programm Fome Zero (Null Hunger) die Hungerbekämpfung in den Mittelpunkt der politischen Agenda des Staates gestellt. Dieses Programm vereint Maßnahmen zur Ernährungssicherung und Strategien sozio-ökonomischer Entwicklung für mehr soziale Gerechtigkeit. Es handelt sich um eine große politische (und auch operative) Herausforderung. Da Brasilien sehr abhängig von den internationalen Finanzmärkten und hoch verschuldet ist, ist der Aufbau eines alternativen Entwicklungsmodells allerdings eine schwierige Aufgabe.

Fome Zero durch Agrarreform?

Im Rahmen des Programms Fome Zero werden als wichtige Maßnahmen (unter anderen) die Durchführung einer Agrarreform und die Stärkung der familiären Landwirtschaft gesehen. Im Mittelpunkt steht auch die Förderung der bestehenden Ansiedlungen (Assentamentos) der Landlosenbewegung. Die Stärkung der familiären Landwirtschaft soll der Ausgangspunkt für eine andere Landwirtschaft sein. Wie diese konkret aussehen wird, ist jedoch noch nicht klar. Dieses politische Konzept der ländlichen Entwicklung erfordert jedenfalls einen intensiven Dialog zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen. Die Regierung versucht, familiäre Landwirtschaft und Agrobusiness in Einklang zu bringen. Das spiegelt sich auch in der Struktur der Ministerien: das Landwirtschaftsministerium ist in den Händen eines Vertreters des Agrobusiness und Anhängers der Gentechnologie, während das Ministerium für Agrarentwicklung mit einem Vertreter aus dem linken Spektrum der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores) besetzt wurde (s. Kasten). Zudem bekräftigt die Regierung die Rolle des Staates bei der Durchführung einer Agrarreform. Damit sind auch die sozialen Bewegungen einverstanden: Der Staat spielt eine wichtige Rolle bei der Demokratisierung des Landbesitzes in Brasilien. Der neue Minister für ländliche Entwicklung, Miguel Rosseto, hat bereits angekündigt, das marktorientierte Agrarreformprogramm Banco da Terra einzustellen. Die Agrarreform soll eine Aufgabe des Staates und nicht des Marktes sein, bekräftigte auch der Präsident des Nationalen Instituts für Agrarreform und Kolonisierung INCRA, Marcelo Resende. Außerdem ließ die Regierung verlauten, die bisher geltende so genannte „Provisorische Maßnahme“, die Landbesetzungen kriminalisiert, zu revidieren.
Im Agrarbereich stellen sich also einige der wichtigsten Herausforderungen. Neben dem Minister für ländliche Entwicklung, Rossetto, haben auch der Präsident selbst und die regionalen Vertretungen des INCRA enge Verbindungen zu den sozialen Bewegungen. Das kann einen verbesserten Dialog mit diesen Bewegungen ermöglichen. Andererseits haben die Großgrundbesitzer bereits ihren Widerstand verschärft. Da sie sich vom Staat im Stich gelassen fühlen, organisieren sie sich seit Anfang des Jahres verstärkt. Es wurden bewaffnete Milizen, so genannte Primeiro Comando Rural – von der Drogenhändlerorganisation PCC inspiriert – aufgestellt, um sich gegen Landbesetzungen zu „schützen.” Denn für die Großgrundbesitzer war klar, dass die Hungerbekämpfung endet, wo ihr Besitz beginnt. Die grausame Bilanz der Auseinandersetzungen um die Agrarreform wird sich also vermutlich nicht verbessern. Allein im letzten Jahr gab es nach Angaben der Landpas-torale (CPT) 54.098 Landkonflikte, elf Prozent mehr als 2001. Auch die Gewalt gegen die Landlosen hat zugenommen: Insgesamt 37 wurden bei Landkonflikten ermordet, 30 Prozent mehr als 2001. Auch die Fälle von Sklaverei auf dem Land haben drastisch zugenommen. 2002 wurden 5.665 Sklaven aus den Händen von Großgrundbesitzern befreit.
Die sozialen Bewegungen erwarten keine Wunder von Lula. Ihnen ist klar, dass Unterdrückungsstrukturen in einer vierjährigen Amtszeit nicht überwunden werden können. Die nationale Koordination des MST richtete daher bereits im November 2002 einen offenen Brief an das brasilianische Volk und an Präsident Lula, in dem sie ankündigte, die notwendige Autonomie zur Regierung zu behalten, aber die Anstrengungen der neuen Regierung zur Durchführung einer Agrarreform zu unterstützen. Dies gelte auch für alle Maßnahmen, die der Sicherung und Verbesserung der Lebensbedingungen der Landbevölkerung dienen.
La Via Campesina Brasilien, ein Dachverband, dem unter anderem MST, die Landpastorale CPT, die Bewegung der Kleinbauern MPA und die Bewegung der Betroffenen von Staudammprojekten MAB angehören, sieht seine Rolle darin, weiter die Armen auf dem Land zu organisieren, das Bewusstsein für ihre Rechte zu schärfen und den Kampf um ihre Rechte zu mobilisieren. Die hier zusammengeschlossenen sozialen Bewegungen Brasiliens planen für dieses Jahr Aktivitäten für den Kampf um Ernährungssouveränität und eine große Kampagne für die Erklärung von Saatgut als Erbe der Menschheit. Die Beziehung zwischen Regierung und sozialen Bewegungen wird sicher nicht ohne Konflikte verlaufen. Aber es ist klar, dass der Feind nicht die Regierung ist, sondern das Latifundium, und alles was damit verbunden ist.

KASTEN:
Die Zeit der Flitterwochen ist vorbei –
MST und Regierung streiten über gemeinsamen Kurs

Die neue brasilianische Regierung muss sich wohl schneller um die ausstehende Agrarreform kümmern, als gedacht: etwa zwei Monate nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten „Lula“ da Silva kommt Bewegung in die Auseinandersetzung um die Agrarfrage in Brasilien. Kaum ein Tag vergeht ohne neue Besetzungen durch die Landlosen-Bewegung MST. In Santa Catarina, Sao Paulo und Paraná wurden Fazendas besetzt, in Cuiabá, Goiânia und Recife wurden Büros des Nationalen Instituts für Agrarreform und Kolonisierung (INCRA) in Beschlag genommen, und in Alagoas blockierte die Landlosenbewegung eine Bundesstraße. „Der Waffenstillstand ist vorbei“ titeln die brasilianischen Medien. Obwohl oder gerade weil mit Miguel Rossetto ein Vertreter des radikaleren PT-Flügels den Ministerposten für Landwirtschaftliche Entwicklung innehat, ist der MST frustriert über den schleppenden Fortgang der Enteignungen und Ansiedlungen von Landlosen unter der neuen Regierung.
Die Regierungsübergabe geht nur langsam voran und seit Oktober sind die Regionalbüros für die Agrarreform daher lahm gelegt. „Wir können nicht länger warten“, sagt ein Sprecher des MST, Joao Paulo Rodrigues, mit Blick auf die Regierung. Das Wiederaufflammen der Protestaktionen bringt den MST in eine Zwickmühle. Die Beziehungen zur regierenden Arbeiterpartei PT sind eng und historisch gewachsen. Die Bewegung der Landlosen galt als eine der stärksten Unterstützerinnen des ehemaligen Gewerkschaftssekretärs Lula im Kampf um das Präsidentenamt. Doch jetzt scheint das Freundschaftsband einen Riss bekommen zu haben. In einer Stellungnahme kritisierte die Regierung, dass die Besetzung von Regierungsgebäuden durch die MST die Grenzen der Demokratie überschritten habe. Rodrigues allerdings will in der Öffentlichkeit nichts von einer Beeinträchtigung der Beziehungen wissen. „Das Verhältnis zur PT ist nach wie vor sehr gut“, konstatiert er nüchtern. Die Regierung Lulas lässt sich in ihrer Politik des Dialogs durch die Landbesetzungen bisher ebenfalls nicht beirren. Es solle weiter verhandelt werden, so Rossetto. Zudem erklärte er, die Regierung habe bereits 200.000 Hektar im Zuge der Agrarreform enteignet und es bestehe zudem ein Ernteplan, der die kleinbäuerlichen Familienwirtschaften unterstützen solle. Doch dies geht dem MST nicht weit genug. Der jüngste Protest richte sich nicht gegen den Präsidenten oder dessen Regierung, sondern gegen den Großgrundbesitz und das Finanzkapital. Eigentlich geht es also um Differenzen in der Frage, welchen Weg Brasilien zu einer neuen Wirtschaftspolitik einschlagen sollte – der MST fordert einen Bruch mit dem neoliberalen Modell und Präsident Lula sieht sich gegenüber internationalen AnlegerInnen und InvestorInnen und nicht zuletzt gegenüber dem IWF im Zugzwang. Für die kommenden Monate sind weitere Protestaktionen des MST angekündigt und die Großgrundbesitzer rüsten im Gegenzug auf – ob also die „friedliche Landreform“ nach den ursprünglichen Plänen der Regierung realisiert werden wird, ist fraglich.
Laurissa Mühlich

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren