Nummer 341 - November 2002 | Sachbuch

Was Macht Religion?

Das 26. Jahrbuch Lateinamerika mit dem Schwerpunkt Religion und Macht

So katholisch ist der „Katholische Kontinent“ Lateinamerika gar nicht: Das neue Jahrbuch Lateinamerika will einen Überblick über die religiöse Vielfalt zwischen Mexiko und Feuerland geben. Außerdem stellt es die vielschichtigen Beziehungen zwischen religiöser Orientierung und
politischem Handeln dar.

Dinah Stratenwerth

Als Herrschaftsinstrument oder als Motor des sozialen Widerstandes: Religion war in Lateinamerika immer ein Mittel, bestehende Machtverhältnisse entweder zu konsolidieren oder sie zu bekämpfen. Dabei haben sich trotz der Dominanz der katholischen Kirche indianische Religionen erhalten und neue Glaubensformen gewannen an Einfluss. Jede Religionsgemeinschaft hat dabei eine eigene, ambivalente Beziehung zu Politik und sozialem Engagement. Nicht alle KatholikInnen sind entweder BefreiungstheologInnen oder konservative AbtreibungsgegnerInnen, und nicht alle ProtestantInnen gehören zu reaktionären Sekten. Die Positionen der Kirchenvertreter werden immer wieder neu definiert, und ein Pfarrer, der sich für die Verteidigung der Menschenrechte engagiert, kann im Bezug auf die Rolle der Frau eine völlig rückwärtsgewandte Position beziehen.
Das 26. Jahrbuch Lateinamerika will in acht Aufsätzen einen „kleinen, aber lebhaften Eindruck von der überraschenden religiösen Vielfalt des Kontinents“ geben, so wird es im Editorial angekündigt. Innerhalb der Darstellung dieser Vielfalt soll das Zusammenspiel von Religion und Politik, also auch von Religion und Macht, differenziert dargestellt werden.

Die Theologie der Befreiung lebt!

Drei Aufsätze befassen sich mit der katholischen Religion: Norbert Ahrens widerlegt die verbreitete Auffassung, die Ideen der Theologie der Befreiung hätten heute keinen Einfluss. Anhand von vier Beispielen – Mittelamerika, Brasilien, Kolumbien und Mexiko – zeigt er, wie wichtig der fortschrittliche Katholizismus noch immer für den Kampf um Land, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte ist. Allerdings werden vor allem in Mittelamerika und Kolumbien Kirchenvertreter, die sich für die Bevölkerung und gegen Repressionen einsetzen, weiterhin bedroht und verfolgt. John Burdick geht es ebenfalls um das Überleben der befreiungstheologischen Ideale, er konzentriert seine Untersuchung aber auf Brasilien. Anhand der Beispiele der Landlosenbewegung MST und der schwarzen Vertreter der Pastorale zeigt er, wie religiöse Ideale die Grundlage für Engagement gegen Diskriminierung bilden. Die MST versteht ihren Kampf um Land als eine Verwirklichung von Gottes Willen, auf allen Versammlungsplätzen der Organisation gibt es Kreuze. Burdicks Blick auf das Frauenbild im fortschrittlichen Katholizismus ist eher kritisch: Hier gibt es nur wenige Vertreter, die Themen wie reproduktive Rechte oder häusliche Gewalt öffentlich ansprechen.
Über das Opus Dei als „andere Seite“ der katholischen Kirche in Lateinamerika schreibt Peter Hertel. Die 1928 in Spanien gegründete ultrakonservative Organisation hat einige lateinamerikanische Diktatoren unterstützt, zum Beispiel Pinochet, und seitdem nicht an Einfluss verloren. Die Strukturen des Opus sowie die Verbindungen zu anderen Einrichtungen oder Stiftungen sind meist geheim, so dass der Einfluss der Organisation nicht zu durchschauen ist. Hertel, der schon seit 17 Jahren über das Opus recherchiert, bemüht sich um eine Erklärung der Strukturen, soweit sie ihm bekannt sind, und schließt mit einer Aufzählung von Opus Dei- Einrichtungen und Geistlichen in Lateinamerika. Die drei Artikel geben einen guten Überblick über fortschrittliche und konservative Strömungen in der katholischen Kirche und deren Einfluss.
Eine sehr gute Darstellung der protestantischen Kirchen kommt von Juliane Ströbele-Gregor: Sie erklärt die Besonderheiten der wichtigsten protestantischen Strömungen und analysiert den Zusammenhang von Glauben und politischem Handeln. Dabei zeigt das Verhalten des peruanischen Nationalen Evangelischen Konzils (Concilio Nacional Evangélico del Peru, CONEP), wie ambivalent politisches Handeln religiöser AkteurInnen sein kann. 1990 unterstützte CONEP trotz interner Spannungen Fujimoris Wahl in der Hoffnung auf eine moralische Erneuerung. Nach seinem Sieg wandte sich der Präsident jedoch von der Organisation ab und diese begann, ihn zunehmend zu kritisieren.

Islam in der Karibik

Ein im Zusammenhang mit Lateinamerika wenig beachtetes Thema behandelt Nasser Mustapha anhand eines ebenso selten betrachteten Länderbeispiels: Der Islam in Trinidad und Tobago. Sein Aufsatz umfasst sowohl die Geschichte der Religion als auch die verschiedenen Strömungen und Institutionen auf Trinidad und Tobago sowie aktuelle Veränderungen. Im Zusammenhang mit Religion und Macht zeigt Nasser, dass die große Mehrheit der MuslimInnen auf den beiden Inseln ihre Ziele innerhalb des demokratischen Systems zu erreichen versuchen. Somit stellen sie keine Gefahr für die Sicherheit der restlichen Bevölkerung dar, wie ihnen nach dem 11. September verschiedentlich pauschal unterstellt wurde.
Zwei weitere Artikel widmen sich den indigenen Religionen in Lateinamerika. Milton Santacruz, Liliana Castaño und Maria de Pilar Valencia stellen ein Projekt in Kolumbien vor, das sowohl die materiellen als auch die geistig-religiösen Grundlagen des Lebens der Tule wiederherzustellen versucht. Sehr anschaulich beschreiben die drei AutorInnen das Weltbild der Tule sowie die Schwierigkeiten, die das Projekt mit sich bringt: Durch die Rückgabe von Land an einzelne Familien wurde das Gemeinschaftsgefühl der Tule untergraben. Die heiligen Orte, die für das Land eine Schutzfunktion hatten, werden heute kaum noch geachtet.
Die Verbreitung indigener Religionen durch Reisen beschreibt Elke Mader in ihrem Aufsatz. SchamanInnen aus Lateinamerika bieten ihre Dienste in Europa an und interessierte EuropäerInnen reisen in der Hoffnung auf Erweiterung ihres spirituellen Horizontes nach Lateinamerika. Außerdem stellt sie mit der Iglesia Nativa eine Bewegung vor, die versucht, indigene Spiritualität aus Nord- und Südamerika zu vereinen.

Was fehlt…

Religion und Mythos im Denken des peruanischen Marxisten José Carlos Mariátegui stehen im Mittelpunkt des letzten Aufsatzes des Jahrbuchs. Der Autorin Eleonore von Oertzen gelingt es, die Widersprüche im Werk des Autors, nach dessen Meinung „eine Revolution immer religiös ist“, herauszuarbeiten. Durch die religiöse Überhöhung der Revolution verliert Marátegui seine Fähigkeit zur Beurteilung revolutionärer Mittel und gelangt so dazu, auch die Unterdrückung unter Stalin zu rechtfertigen.
Der Aufsatz ist insofern ein guter Abschluss des Schwerpunktes, als noch einmal die religiöse Rechtfertigung für das Streben nach Macht theoretisch behandelt wird. Dies geschieht leider zu wenig im Bezug auf die indianischen Religionen. Der Aufsatz über die Tule ist ein hochinteressantes Fallbeispiel, lässt es jedoch bei der Darstellung des Falls bewenden. Und Elke Mader gibt lediglich eine Innensicht der Probleme der Iglesia Nativa bzw. einige Beispiele des spirituellen Austauschs zwischen Europa und Lateinamerika. Der Fragestellung nach Religion und Macht geht sie jedoch nicht nach. Was fehlt, ist ein Überblicksartikel, der die Frage beantwortet, inwieweit indianische Religionen als Instrument zur Machterhaltung bzw. -bekämpfung dienen. Auch der Synkretismus bzw. religiöse Dualismus als eine aus den repressiven Praktiken der katholischen Kirche hervorgegangene Glaubensform wird nur im Editorial thematisiert.

Jahrbuch Lateinamerika 26. Religion und Macht. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2002, 231 S., 20,50 Euro.


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