Kunst | Nummer 528 - Juni 2018

WASSERLILIEN FÜR DIE KUNST

Wie aus einer schädlichen Wasserpflanze ein geschätzter Rohstoff wird

Die Papiermanufaktur DeLirio am Ufer des Pátzcuaro-Sees verbindet sozial-ökologisches Engagement mit Kunst und Handwerk. Als Rohstoff dient die Wasserlilie Eicchornia Crassipes, die zusammen mit anderen Faktoren das ökologische Gleichgewicht der Region bedroht. Durch eine Plakatausstellung macht das Projekt nun auch außerhalb Mexikos auf die Problematik aufmerksam. Die in Deutschland lebende mexikanische Schriftstellerin Agustina Ortiz, deren Bruder die Ausstellung gewidmet ist und deren Sohn diese in den USA betreut, berichtet für die LN.

Von Augustina Ortiz (Übersetzung: Laura Haber)

„Was wir erben“ von Irma Reyes

Das Umweltchaos unserer Gegenwart ist nicht nur ein Dauerbrenner des öffentlichen Diskurses, es gibt auch Orte, an denen das Problem bereits in Angriff genommen wird. Ein Beispiel dafür ist Taller DeLirio Oficios in Mexiko. Die Papiermanufaktur ist in der indigenen Gemeinde Huecorio im Bundesstaat Michoacán angesiedelt. Der See leidet wie die gesamte traditionell auf Fischfang ausgerichtete Region unter den Auswirkungen von intensiver Landwirtschaft sowie Schadstoffen in Haushalts- und Industrieabwässern.

Die Entdeckung gelang durch einen glücklichen Zufall

Auf dem See selbst hat sich außerdem – und allen erdenklichen Bekämpfungs­maßnahmen zum Trotz – die Wasserlilie Eicchornia Crassipes so stark vermehrt, dass sie weite Teile seiner Oberfläche bedeckt und eine Bedrohung für Flora, Fauna und Anwohner*innen darstellt: Sie verbraucht viel Wasser und beeinträchtigt nicht nur den Transport im Kanu, sondern auch das Wachstum der Fische, da kein Licht mehr von der Wasseroberfläche an den Seegrund dringt. Ausgerechnet diese ursprünglich aus Brasilien stammende Pflanze verwertet DeLirio als Rohstoff, um per Hand Papier für kunstvolle Bücher, Hefte und Drucke zu fertigen.

„Der See braucht deine Hilfe“ von Francisco Robles

Die Entdeckung gelang durch einen glücklichen Zufall. Denn als sich der Maler Esteban Silva und seine Frau Tania Domínguez vor sechzehn Jahren am Lago Pátzcuaro niederließen, waren sie eigentlich auf der Suche nach einem ruhigen Ort, um sich ihrer künstlerischen Arbeit zu widmen. „Eines Tages brachten wir von unserem Spaziergang am See eine Wasserpflanze mit einer seidig schimmernden Blüte mit nach Hause und sie entpuppte sich als eine ausgezeichnete Faser, um Papier herzustellen“, erzählt Tania. Von 2004 bis 2007 ließ sich das Paar im Kulturzentrum Hawahuatta in Seattle in chinesischen Techniken der Papierherstellung ausbilden, nach seiner Rückkehr nach Huecorio rief es eine mobile Experimentierwerkstatt für Kinder ins Leben. Anschließend gründeten die beiden Kunstschaffenden die Ländliche Produktionsgesellschaft DeLirio und stellte Frauen aus der Gemeinde als Mitarbeiterinnen ein. „Zwei von uns kommen aus Huecorio, zwei aus Pareo, und ich bin von der Insel Urandén. Wir sind alle alleinstehende Frauen und tragen die Verantwortung für unsere Familien. Aber hier haben wir eine Arbeitsmöglichkeit, um unsere Kinder zu versorgen“, berichtet Victoria Francisco Ganoa, während aus dem großen Topf vor ihr Dampf von den kochenden Pflanzen aufsteigt, die tags zuvor gesammelt wurden.

Im Grunde schildert Victoria die typische Situation der Region, die wirtschaftlich weitgehend auf Devisen aus den USA angewiesen ist: Männer und junge Erwerbsfähige emigrieren, zurück bleiben vor allem Kinder, Frauen und alte Menschen. Dabei gilt der Pátzcuaro-See mit 55 Kilometern Küste und sieben Inseln als beliebtestes Tourismusziel im Bundesstaat. Kulturell liegt er im Gebiet der Purépecha und ist Zentrum des berühmten mexikanischen Tags der Toten am 2. November. Aber wie vielerorts in Mexiko leiden die Menschen auch hier unter der alltäglichen Korruption und Gewalt, während ihrem Lebensraum Erosion, Verschmutzung und der sinkende Wasserspiegel des Sees zu schaffen machen. Im kontinuierlichen Kampf um eine gesunde Umwelt dienen Papier und Kunst dazu, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die Problematiken von ungebremstem Raubbau am Wasser, der Erde und den Bergen zu lenken. Die bei DeLirio involvierten Frauen und Familien organisieren und koordinieren alle anfallenden Aufgaben von der Ernte der Wasserlilien über die Organisation und Durchführung von Workshops bis hin zu Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit. In den vergangenen zwei Jahren hat DeLirio insgesamt 120 Workshops in den Gemeinden am Ufer des Pátzcuaro und im Landesinneren des Bundesstaats durchgeführt, um das ökologische Bewusstsein der Bevölkerung zu schärfen. Die Menschen unterstützen das Projekt, in dem sie einen Ausweg aus der sozialen und ökologischen Katastrophe sehen. Die finanziellen Ressourcen dagegen sind ein Hindernis. „Wir haben kein Geld, um die Papeterie und Cafeteria an der Ruta Don Vasco fertig zu bauen und damit unseren Produkten und unserem gemeinschaftlichen Arbeitskonzept einen angemessenen Platz zu geben“, beklagt Tania Domínguez.

„Mein Kampf ist frei“ Javier Ornelas Huerta

Daher nahm sich DeLirio 2016 vor, mehr öffentliche Aufmerksamkeit für die Bedrohung des Sees zu gewinnen und lud 32 Künstler*innen zu einem grafischen Experiment ein: Unter dem Titel „El papel del carte“l (Wortspiel im Spanischen, da papel „Papier“ und „Rolle“ bedeutet und der Titel so zugleich auf den Einsatz des Plakats als auch des Papiers als Material hinweist, um Botschaften zu verbreiten; Anm. der Übs.) entstanden 62 Holzschnitte, in denen die Künstler­*innen jeweils eine Botschaft transportieren.

Mit seinen groben und feinen Strichen zeigt beispielsweise „Lo que heredamos“ („Was wir erben“) von Irma Reyes einen niedergeschlagenen und verängstigten Fischer, der als Ausbeute seines Fangs Skelette aus dem Wasser zieht. Auf „Sin palabras“ („Ohne Worte“) von Jonathan Tapia ist ein Mensch zu sehen, dessen Körper von brennenden, müllverseuchten und verwüsteten Landschaften übersät ist, als trüge er sie als innere Last mit sich herum. „Suficiente para todos siempre“ („Für alle immer genug“) von Berenice Barajas wiederum vermittelt einen Hoffnungsschimmer: Um die Wasserlilie in der Mitte tummeln sich kleine Fische, sowie Axolotl, eine Amphibie aus der Familie der Molche. „Mi lucha es libre“ („Mein Kampf ist frei“) ist auf dem Druck von Javier Ornelas Huerta zu lesen. Über den Worten ist der maskierte Volksheld des mexikanischen Ringkampfes Lucha Libre mit einem mystischen Glorienschein abgebildet, umringt von Axolotl. Sein Kampf ist genauso heilig wie jener der 32 Künstler*innen, die weder Ideologien noch Religionen vertreten, welche Kritik und Dialog untersagen wollen. Sie alle richten sich gegen die mächtigen Kapitalistenstiefel, wie sie auf einem weiteren Bild zu sehen sind, und treten ein für die Landschaft um einen paradiesischen See, der kein Fantasieprodukt ist, sondern das, was er einmal war und wieder werden soll.

„Ohne Worte“ von Jonothan Tapia

Von Januar bis März 2017 lockte El papel del cartel über 15.000 Besucher*innen ins Museum für Zeitgenössische Kunst Alfredo Zalce in Morelia, der Hauptstadt des Bundesstaats Michoacán. Anschließend war die Ausstellung im Jesuitischen Kulturzentrum in der Stadt Pátzcuaro am Ufer des gleichnamigen Sees zu sehen. Viele Besucher*innen hätten sich für die Arbeit hinter der Ausstellung interessiert, berichtet Esteban Silva. SPAGO, ein junges Unternehmer*innenteam aus Italien auf der Suche nach nachhaltigen Projekten in Mexiko und Zentralamerika, führte ein Interview mit ihm, das auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival SiciliAmbiente vorgestellt wurde. Im März 2018 wurden die 62 Holzschnitte in der Galerie Division 9 im kalifornischen Riverside ausgestellt, inzwischen erfolgte eine Einladung nach Oakland, in Los Angeles sollen sie ebenfalls gezeigt werden. Der Koordinator der Ausstellung in den USA, Agustín Equihua Ortiz, freut sich, dass in Riverside bereits einige Abzüge verkauft wurden. „Mit dem Geld wird sich die Manufaktur erweitern und ihre Arbeit fortsetzen können. Sie möchte auch Künstlerresidenzen anbieten und außer der Papeterie ein Internetcafé für Jugendliche eröffnen“, erklärt er.

Gewidmet wurde „El papel del cartel“ dem 2016 verstorbenen Mitglied des Nationalen Indigenen Kongresses Federico Ortiz Arias, der sich für die Rechte der Indigenen in Mexiko auf Leben, Land, Wasser, Gesundheit und Bildung einsetzte. Als er die in Papierbögen verwandelten Wasserlilien sah, hatte Federico den doppelsinnigen Ausspruch el papel del cartel geäußert, um die Künstler*innen bei ihrer Arbeit zu motivieren und angesichts der verzweifelten Lage des Landes auf die Aussagekraft der mexikanischen Grafikkunst zu setzen. Tatsächlich knüpft das Projekt an eine lange Tradition an, die mit Künstler*innen wie José Guadalupe Posada schon im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte. Im 20. Jahrhundert setzten Leopoldo Méndez, Pablo O’Higgins und Luis Arenal Grafiken im Zeichen des Widerstands als Informationsmedium gegen politischen Machtmissbrauch und soziale Ungleichheit ein.

In diesem Sinne ist der wichtigste Erfolg der Papiermanufaktur DeLirio sicherlich die innige Allianz von Handwerker*innen und Künstler*innen, die wegen einer überlebenswichtigen Angelegenheit zusammengefunden haben: zur Rettung des Lago Pátzcuaro sowie der Menschen und Umwelt, die von ihm abhängig sind.

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