Nummer 396 - Juni 2007 | Sachbuch

Wege in die Vergangenheit – und aus ihr heraus

Drei sehr verschiedene „Geschichten Lateinamerikas“

Eine befriedigende Geschichte des ungeheuer komplexen lateinamerikanischen Subkontinents zu schreiben, scheint ein aussichtsloses Vorhaben zu sein. Binnen weniger Monate sind drei derartiger Versuche erschienen. Und obwohl jedes der Bücher für sich ausgesprochen lesenswert ist, bleiben auch nach der Gesamtlektüre genügend Fragen offen.

Valentin Schönherr

Ist es Zufall, dass in kürzester Folge hintereinander drei Überblicksdarstellungen zur Geschichte Lateinamerikas auf den Markt kommen? Das dröhnende Schweigen, das in hiesigen Großmedien in Sachen Lateinamerika herrscht, lässt angesichts solcher verlegerischer Entscheidungen schon verwundert die Augen reiben. Sicherlich, die Wahlerfolge linker Parteien und PräsidentInnen in den vergangenen Jahren bilden hier eine Ausnahme und mögen Anlass sein, den einen oder anderen Titel zu produzieren. Aber wer sucht die Antworten auf aktuelle Fragen, die Lula, Chávez und Co. aufwerfen, gerade in einer allgemeinen Geschichtsdarstellung?
Naheliegend sind diese Bücher allerdings dann, wenn man bedenkt, dass die letzten derartigen Werke vor über einem Jahrzehnt veröffentlicht worden. In erster Linie ist das dreibändige „Handbuch der Geschichte Lateinamerikas“ zu nennen, das von Walther L. Bernecker und anderen herausgegeben wurde. Da ist also eine große Lücke zu schließen, und dies unternehmen Hans-Joachim König, Romeo Rey und Norbert Rehrmann auf jeweils sehr eigene Art und Weise, deren Unterschiedlichkeit trotz aller Nüchternheit in der Materie geradezu unterhaltsam ist. Um es also vorwegzunehmen: Am besten liest man alle drei.
In seiner „Kleinen Geschichte Lateinamerikas“ geht Hans-Joachim König, einer der Nestoren der Lateinamerika-Historiographie in Deutschland, recht konventionell ans Werk. Konventionell heißt hier vor allem: Wir erhalten einen zuverlässigen, chronologisch geordneten, ereignisgeschichtlich orientierten und überhaupt nicht „kleinen“, sondern mit 800 (Reclam-)Seiten recht raumgreifenden Überblick. Die großen Epochen (Kolonialzeit, Staatenbildung 1800-1830, Konsolidierung bis 1900 sowie das 20. Jahrhundert) erhalten jeweils genügend Aufmerksamkeit, wobei zwei Dinge auffallen, die dann doch wieder unkonventionell sind. Erstens fehlt die präkolumbische Zeit ganz. König nimmt also die Bezeichnung „Latein“-Amerika wörtlich, schließlich wurden vor 1492 jenseits des Atlantik keine romanischen Sprachen gesprochen. Anders ist diese Auslassung heute aber kaum zu rechtfertigen. Sie legt vielmehr die nun doch skandalös eurozentristische Interpretation nahe, die Geschichte des Kontinents habe erst mit der Ankunft der Spanier begonnen. Im Vorwort, wo eine solche Entscheidung plausibel gemacht werden müsste, fällt kein Wort dazu.
Das Zweite, was – allerdings positiv – auffällt, ist das Kapitel, das sich mit der Zeit zwischen 1750 und 1800 beschäftigt; König überschreibt sie „Erste Autonomiebestrebungen in den Kolonien: Patriotismus und neuer kolonialer Zugriff“. Dass diese Reform- und Kritikphase innerhalb der Kolonialgeschichte eine Sonderwürdigung erhält, ist Resultat der jüngeren Forschung und sehr zu begrüßen. Denn die Lehrmeinung über die spanische Kolonialherrschaft hat sich in den letzten Jahren gründlich ausdifferenziert. Das verbreitete Bild von der dümmlich-brutalen Administration ist für den Anfang und viel mehr noch für das Ende der Kolonialzeit einer Würdigung des reformorientierten, rationalen politischen Handelns gewichen und hat die spanische Kolonialpolitik der englischen oder französischen vergleichbarer gemacht, als das bis dahin denkbar gewesen war.
Aber auch für das 20. Jahrhundert bietet König Überzeugendes. Zum Beispiel ein Modell, wie die vielfältigen Herrschaftsformen – von revolutionärer Aufstandsbewegung über stabile parlamentarisch-demokratische Ordnung bis hin zu den diversen Diktaturformen – zu ordnen und zu beschreiben wären. Als Revolutionen im engeren Sinn lässt er nur vier gelten: die mexikanische, die bolivianische (von 1952), die kubanische und die nicaraguanisch-sandinistische Revolution, und zwar weil nur sie erfolgreich das Ziel erreichten, einen Herrschaftswechsel auf Massenbasis und „eine Veränderung der sozioökonomischen Gesamtstruktur der Gesellschaft“ zu bewirken. Er grenzt sie damit von anderen Reform- oder Umsturzphänomenen ab, von Chiles Unidad-Popular-Regierung genauso wie vom argentinischen Peronismus und natürlich auch von den Militärputschs, selbst wenn sie von linken Militärs kamen wie in Peru 1968 und soziale Reformen durchführten. Solche begriffliche Genauigkeit ist hilfreich und zieht sich durch das ganze Buch – ein großer Gewinn also.
Wünsche bleiben bei einer solchen politikgeschichtlich orientierten Darstellung dennoch offen. So vermisst man das eine oder andere Wort etwa zur Kultur.

Mexiko und Argentinien – exemplarische Leitstaaten?

Davon findet sich um so mehr bei der Konkurrenz: in Norbert Rehrmanns „Lateinamerikanischer Geschichte“. Rehrmann, Kulturwissenschaftler zu Spanien und Lateinamerika an der Technischen Universität Dresden, geht ebenfalls chronologisch vor. Er beginnt selbstverständlich in der präkolumbischen Geschichte und legt den ereignisgeschichtlichen Stoff bis ans Ende des 20. Jahrhunderts in gleichmäßigen Abschnitten dar. Seine Schwerpunkte sind anderer Art. Zum einen heißen sie von der Unabhängigkeit an „Mexiko“ und „Argentinien“, die als einzige Länder detaillierter vorgezeigt werden; die übrigen Staaten werden nur mehr im raschen Überblick behandelt. Zum anderen, und dafür macht diese radikale Raffung Platz, hat Rehrmann einen spannenden Parallelüberblick zur lateinamerikanischen Geistes- und Identitätsgeschichte geschrieben, der mit der Politik- und Wirtschaftsgeschichte hervorragend zusammenpasst.
Der Text ist dort am besten, wo Rehrmann nicht allzu stark reduziert. Beeindruckende Passagen sind ihm bei der Kolonialwirtschaft ebenso gelungen wie bei der Erklärung, warum und wie die eben unabhängig gewordenen Staaten unter die „informale“ Herrschaft Großbritanniens gerieten. Solcherart Probleme zeichnet Rehrmann mit großer Genauigkeit bis in die Gegenwart nach, die argentinische Diskussion um Barbarei und Zivilisation aus der Mitte des 19. Jahrhunderts findet ihre Würdigung ebenso wie die Identitätsreflexionen von José Enrique Rodó, José Martí und Rubén Darío um 1900 oder Texte von Octavio Paz und Carlos Fuentes zur mexicanidad im 20. Jahrhundert.

Schweigen über Costa Rica

Der Autor zeigt ein sicheres Gespür für die wesentlichen Fragen. Auf nur 25 Seiten einen Überblick über Azteken, Mayas und Inkas zu erhalten und zudem noch mit Tsvetan Todorovs „Problem des Anderen“ und der Kunsttheorie Paul Westheims vertraut gemacht zu werden, und am Ende das befriedigende Gefühl von Vollständigkeit genießen zu können – das hat was. Je komplexer allerdings die lateinamerikanischen Verhältnisse, je detaillierter die Quellenlage, je vielgestaltiger das Erscheinungsbild, desto lückenhafter wird zwangsläufig diese Art der Geschichtserzählung. Was schließlich in der Absurdität mündet, dass in dieser „Lateinamerikanischen Geschichte“ die Staaten El Salvador und Costa Rica nicht ein einziges Mal auftauchen.
Als Schwäche erweist sich auf die Dauer zudem Rehrmanns Stil: Er schätzt Formulierungen, die vom nüchternen Standard abweichen und verwendet – leider viel zu viele – Metaphern, die nicht immer richtig treffen. Was soll man von der „geographisch-politischen Wunde“ halten, als die der Konflikt zwischen Buenos Aires und den argentinischen Provinzen bezeichnet wird? Warum spricht er vom „Virus der antisemitischen Pest“, die den Ozean überquert habe, als handele es sich um eine Krankheit, an der man selbst stirbt oder die man günstigenfalls selbst überlebt? Auch Ungenauigkeiten schleichen sich ein, Che Guevara stirbt eigentlich nicht im „Kugelhagel der Regierungstruppen“, sondern durch die MG-Salve eines Soldaten. Und der „Bogotazo“ bezeichnet in Kolumbien nicht den „zehnjährigen Bürgerkrieg“ ab „1949“, sondern den viele Todesopfer fordernden Aufruhr in Bogotá am 9. April 1948, der dem Bürgerkrieg vorausging.
Rehrmanns Darstellung ist – anders als die von König – besonders für diejenigen geeignet, denen die Materie nicht fremd ist. Dann kann man die Andeutungen verstehen und die vielen pointierten Stellungnahmen des Autors auch würdigen. Da sie in der Reihe „rowohlt enzyklopädie“ erschienen ist, müsste man sagen: falsch etikettiert, denn gerade hier sollte Allgemeinverständlichkeit und zuverlässige Vollständigkeit zu erwarten sein.
Romeo Reys „Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ hingegen hält auf diesen Ebenen keinerlei Hürden parat. Ganz im Gegenteil: Rey hat über dreißig Jahre lang als Korrespondent der „Frankfurter Rundschau“ und des Zürcher „Tagesanzeigers“ in Südamerika gelebt und mit seinen gut lesbaren, bestens informierten Berichten und Reportagen wohl das Wissen und die Meinung vieler Lateinamerika-Interessierter mitgeprägt.

Die Geschichte als Fragenbeantworterin

Dieses Buch unterscheidet sich fundamental von den beiden bisher besprochenen. Ziel ist erklärtermaßen nicht eine akademische Gesamtdarstellung, sondern die Klärung einer Dauerbrennerfrage: Warum kommt Lateinamerika nicht vom Fleck? Wo liegen Entwicklungshemmnisse in Sachen wirksamer Armutsbekämpfung, politischer Stabilität, befriedigender Bildungssysteme, ernstzunehmender Mitbestimmungsmöglichkeiten für alle? Zur Erklärung dieser Entwicklungshemmnisse greift Rey vor allem in den ersten zwei Dritteln des Buches weit in die Geschichte aus (mit Schwerpunkt im 20. Jahrhundert, nur sporadisch geht er weiter zurück). Gegen Ende dann drängt sich ein anderer Zungenschlag in den Vordergrund, der eigentlich für historische Monographien völlig unüblich, ja verpönt ist: Der Autor formuliert ein Programm, wie die historisch ungelösten Probleme angegangen werden könnten. Und obwohl beides – Geschichtsschreibung wie Lösungsansätze – eng zusammengehört und jeweils für sich recht gut gelungen ist, lesen wir hier doch mindestens zwei Bücher in einem.
Wie schon bei Rehrmann müsste man das Etikett „Geschichte Lateinamerikas“ ignorieren (und die Stilblüte im Titel „… vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ natürlich wegdenken), um nichts Falsches zu erwarten. Denn eine so spezifische Fragestellung geht automatisch auf Kosten der Vollständigkeit. Vor allem solche Phänomene, die sich der Antwort schlecht zuordnen lassen, die also in Sachen politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Entwicklung weder positiv noch negativ ins Gewicht fallen, drohen unterbelichtet zu bleiben. Von den Identitätsdiskursen, die bei Rehrmann – mit Recht – als Teil lateinamerikanischer Geschichte behandelt werden, ist bei Rey also wenig zu lesen.
Dennoch muss Reys Spagat insgesamt als sehr gelungen, ja geradezu beeindruckend bezeichnet werden. In seiner Darlegung hält er sich nicht an die Chronologie – vorangestellt ist nur ein kleines Kapitel, in dem ein äußerst grober Überblick vermittelt wird –, sondern geht problemorientiert vor. Zunächst: die Verschuldung! Das ist schon überraschend. Sie gilt Rey als das Krebsübel der Benachteiligung schlechthin, wobei die Übeltäter nicht allein in den Gläubigerländern bzw. –banken, sondern auch in verantwortungslosen und leichtsinnigen lateinamerikanischen Regierungen verortet werden. Des Weiteren wird die Geschichte lateinamerikanischer Staatlichkeit und staatlicher (Wirtschafts-)Kontrolle erzählt, werden die Strukturen der Einbindung in den Weltmarkt, die Dominanz der USA und die spezifische Rolle der Armeen in den einzelnen Staaten untersucht. Jeweils unter faktengesättigter Analyse historischer Phänomene, aber mit sprachlicher Klarheit und prägnanter Argumentation. Stünde nicht die große Frage der Entwicklungshemmnisse (und die Suche nach Möglichkeiten, die Hemmnisse zu überwinden!) dahinter, eine Frage persönlichen Engagements des Autors, würde diese Darstellung wohl kaum so packend zu lesen sein.
Das Schlusskapitel, das der Zukunftsempfehlungen, hat es wiederum in sich. Nicht nur die Verschuldungsverhältnisse, die Partizipation der Bevölkerung, die Qualität des Bildungssystems oder die Rolle des Militärs seien von Grund auf neu zu gestalten. Nein: „Langfristig scheint es unvermeidlich zu sein, dass diese Region das Heil früher oder später in einem bestimmten Grad der Abkoppelung vom kapitalistischen Entwicklungsmodell suchen muss.“ Für das Wie bietet Rey keine vollumfänglichen Rezepte. Für das Warum hingegen, soweit es sich aus der Geschichte Lateinamerikas herauslesen lässt, bleibt er kein Argument schuldig.
Bleibt schließlich ein Desiderat zu benennen, das in keinem der drei Bücher auch nur Erwähnung findet: Man vermisst Überlegungen zur Quellenlage. Auf welche Quellensituation kann man sich heute eigentlich stützen, wenn man sich mit lateinamerikanischer Geschichte beschäftigt? Was ist aus der „visión de los vencidos“, der Perspektive der Besiegten, geworden? Was aus der stellvertretenden Geschichtsschreibung in Form großer historischer Romane? Wie zugänglich und wie ergiebig sind Archive? Wie steht es um die kritische, modernen Ansprüchen genügende Geschichtswissenschaft in den einzelnen
Ländern, wie um das Geschichtsbewusstsein der breiten Bevölkerung? Wie um die Geschichtspolitik, den Umgang mit Denkmälern, Symbolen, Feiertagen? Im Hinblick auf die bevorstehenden 200-Jahr-Feiern zu den vielen Ereignissen der Unabhängigkeit zwischen 1810 und 1824 oder dem 100. Jahrestag der Mexikanischen Revolution im Jahre 2010 wäre dazu viel zu schreiben gewesen.
Für den Herbst ist bereits die nächste „Lateinamerikanische Geschichte“ angekündigt (von Renate Pieper bei UTB). Seien wir gespannt, welche Fragen dann offenbleiben.

Hans-Joachim König: Kleine Geschichte Lateinamerikas. Reclam Verlag, Stuttgart 2006, 815 Seiten, 26,90 Euro.
Norbert Rehrmann: Lateinamerikanische Geschichte. Kultur, Politik, Wirtschaft im Überblick, Rowohlt Verlag, Reinbek 2005, 320 Seiten, 14,90 Euro.
Romeo Rey: Geschichte
Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. C.H.Beck, München 2006, 284 Seiten, 14,90 Euro.

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