Brasilien | Nummer 417 - März 2009

Widerstand, Agrarreform und Sozialismus

In den Zeiten der Krise setzt die Landlosenbewegung MST in Brasilien offensiv auf ihr alternatives Entwicklungsmodell

Auf der Nationalversammlung anlässlich ihres 25-jährigen Bestehens gibt sich die Landlosenbewegung Brasiliens MST kämpferisch und selbstbewusst. Nach internen Problemen in den letzten Jahren ist die aktuelle Wirtschaftskrise eine Chance für die Bewegung, sich wieder besser zu positionieren. Zudem sieht sie aufgrund der weltweiten Verunsicherung über kapitalistische Wirtschaftsmechanismen die Notwendigkeit ihres alternativen Entwicklungsmodells für die Armen bestätigt, das vor allem auf Subsistenzwirtschaft basiert. Die MST gibt sich optimistisch, die brasilianische Linke in einer Zeit nach Lula wieder einigen zu können, an dem sich zur Zeit die Geister scheiden.

Benjamin Bunk

An der Straße vor den Toren der Fazenda Anoni, wo die Jubiläumsfeier stattfand, hat schwer bewaffnete Militärpolizei Stellung bezogen und kontrolliert die TeilnehmerInnen. Unter stärkster staatlicher Beobachtung fand die Nationalversammlung zum 25-jährigen Jubiläum der brasilianischen Landlosenbewegung MST statt. Zu dieser waren Ende Januar knapp 2.000 Delegierte aus ganz Brasilien angereist. Trotz der Militärpräsenz wurde der feierliche Rahmen des Treffens gewahrt. Es begann mit einer speziellen Form der Selbstdefinition der MST, einer Reise durch die Geschichte Brasiliens und seiner größten sozialen Bewegung vor dem Hintergrund der für die Anwesenden zentralen Frage: die Landverteilung.
Die Wahl des Tagungsortes – die Fazenda Anoni in Rio Grande do Sul, im Süden Brasiliens – ist symbolträchtig: Hier fand 1985 die erste erfolgreiche Landbesetzung unter dem Banner der MST statt. Nach vielen Monaten Zeltlager unter Plastikplanen am Straßenrand hatten mehr als 8.000 Menschen über Nacht diesen Großgrundbesitz besetzt. Dies sollte der Ausgangspunkt für die Erfolgsgeschichte der Landlosenbewegung werden. Die Fazenda Anoni ist der Ort, an dem ihre Organisationsprinzipien erprobt wurden. Es ist auch der Ort, an dem sie den Grundstein für die zentrale Rolle der Ausbildung von MST-Mitgliedern und deren Angehörigen legte, als dort noch im Zeltlager am Straßenrand die erste Schule eingerichtet wurde. Aber es ist auch ein Ort voller Geschichten über Schikanen und Übergriffe der Militärpolizei sowie der Ort der ersten Toten der Bewegung: Roseli Nunes, Mutter und Führungsfigur. Während einer Demonstration wurde sie von einem Lastwagen überrollt, der im Auftrag eines benachbarten Großgrundbesitzers in die Menschenmenge raste.
Aber auch aktuelle Konflikte mit den Regierenden spielen sich in der Region um die Fazenda Anoni ab: Über Jahrzehnte war der Bundesstaat Rio Grande do Sul Vorbild für eine enge Zusammenarbeit zwischen MST und der regierenden Arbeiterpartei PT. Seit Yeda Crusius von der Brasilianischen Sozialdemokratischen Partei PSDB im Jahre 2007 Gouverneurin des Bundesstaats wurde, ist die Atmosphäre wieder angespannt.
Anfang Februar wurden sogar mehrere Schulen der Landlosenbewegung geschlossen, da sie angeblich die nationale Sicherheit gefährdeten. „Diese Regierung verfolgt eine antidemokratische Strategie, die MST in Rio Grande do Sul zu kriminalisieren“, sagt der Kapuzinerbruder Frei Pilato Pereira. „Mehr als zwei Jahrzehnte nach Ende der Militärdiktatur herrschen in den Köpfen der Regierung Yeda sowie bei Teilen der Justiz immer noch Vorstellungen aus dieser Zeit vor“, erbost sich Pereira.
Die MST hat trotz des zeitweiligen Gegenwinds im Verlauf der Jahre viel erreicht: Erfolgreiche Landbesetzungen und Ansiedlungen ebenso wie auch Bildung und Alphabetisierung. Und so wurde auf der viertägigen Versammlung schnell deutlich, dass die MST bereit ist, für weitere 25 Jahre Kampf und Widerstand – auch wenn das Ringen um eine gerechte Landreform in Brasilien heute schwerer denn je erscheint. Angesichts der auch in Brasilien bemerkbaren Wirtschafts- und Finanzkrise gibt sich die MST aber kämpferisch und selbstbewusst. „Es ist Zeit, die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen wieder gemeinsam in Angriff zu nehmen“, so João Pedro Stédile, eine der zentralen Führungsfiguren der MST.
Für Stédile ist der Zusammenbruch des vorherrschenden kapitalistischen Entwicklungsmodells vielmehr eine Chance, die zuletzt verunsicherte und zersplitterte Linke in Brasilien wieder unter dem Banner des Sozialismus vereinen zu können. Mit solch kämpferischen Aussagen wird klar: Strategisch bereitet sich die MST bereits auf eine Zeit nach Lula vor – in der Erwartung, dass sich die parteipolitische Landschaft Brasiliens nicht wandeln wird. Vielmehr werden die Differenzen mit der nachfolgenden Regierung zunehmen. Ohne den allseits beliebten, aber von den Bewegungen gleichwohl heftig kritisierten Lula werde es jedoch wieder leichter, die linken Strömungen zusammen zu bringen und eine eindeutige und damit einflussreiche Position in der brasilianischen Gesellschaft einzunehmen, so Stédiles Hoffnung. Auch für die Umverteilung von Land, das zentrale Anliegen der MST, stelle die internationale Finanzkrise eine Chance dar. „Während weltweit Ratlosigkeit und Verunsicherung herrscht“, argumentiert er, „kommt gerade jetzt unser nachhaltiges Modell einer Agrarreform zum Tragen.“
Die MST setzt auf eine Landwirtschaft, in welcher ein großer Teil der Bevölkerung von der Subsistenzwirtschaft lebt. Statt auf immense Sozialhilfeleistungen der Regierung angewiesen zu sein, sichert sich so die arme Bevölkerung die Ernährungssouveränität.
Gilmar Mauro, ebenfalls aus der Führungsriege der MST, macht deutlich, dass die MST dafür sogar ihr Konzept für eine Agrarreform geändert habe: „Ursprünglich galt es, die feudalen Strukturen auf dem Land zu überwinden. Ohne diese Aufgabe, die landwirtschaftlichen Flächen unter Vielen gerechter zu verteilen, ist eine Agrarreform auch heute nicht möglich. Aber die Agrarreform hat einen neuen Aspekt hinzu bekommen. Sie propagiert ein landwirtschaftliches Produktionsmodell ökologisch-gesunder Lebensmittel, ohne dabei die Umwelt zu zerstören.“
So sieht die MST auch für die Zukunft ihr ländliches Entwicklungsmodell bestätigt. Es ist nicht von knapper werdenden Ressourcen, steigenden Ölpreisen und der Konjunktur internationaler Konzerne abhängig, da es zum einen auf dem Ausbau regionaler Strukturen ohne lange Transportwege fußt und zum anderen nicht auf chemische Düngemittel, Herbizide und Pestizide angewiesen ist.
Doch auch an Kritik wird nicht gespart: Ein regionaler Leiter der Bewegung weist auf die oft mangelnde Bereitschaft der LandbesetzerInnen hin, sich auch nach dem Erwerb eines eigenen Stück Lands für die Bewegung einzusetzen.
Eine weiterführende aktive Mitgliedschaft, der Ausbau bewegungseigener Schulen und auch die Umsetzung der praktischen Ideen, wie zum Beispiel die kooperative Produktions- und ökologische Lebensweise, geraten ins Stocken, sobald die Landbesetzung erfolgreich war, meint er. Verantwortlich dafür ist in seinen Augen, dass Lula in seiner Politik eine gute Zusammenarbeit mit der armen Bevölkerung vortäusche.
„Der Präsident ist wegen seiner Sozialpolitik bei vielen niedergelassenen Mitgliedern der MST beliebt, obwohl seine Regierung gleichzeitig den Ausbau einer agroindustriellen und exportorientierten Agrarpolitik vorantreibt“, so der Regionalleiter weiter. Diese Argumentationslinie ist jedoch an die Mitglieder der Bewegung außerhalb der Zeltlager schwer vermittelbar.
Zum Abschluss der Veranstaltung werden demonstrativ die Macheten geschliffen und revolutionäre Lieder gesungen. Danach präsentieren Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder selbst produzierte ökologische Lebensmittel. Die MST hat eine klare Vorstellung von ländlicher Entwicklung, sie hat die Erfahrung, dass diese möglich ist – und sie ist weiterhin bereit und fähig, dafür zu kämpfen.
Während der Abschlusszeremonie sitzen auch GouverneurInnen, SenatorInnen, GewerkschaftsführerInnen und Intellektuelle auf dem Podium, klatschen Beifall und verdeutlichen den politischen Einfluss der MST. Auch wenn sie andernorts äußerst unbeliebt bleibt. Um sich noch einmal deutlich zu positionieren, fällt denn auch die Schlusserklärung deutlicher aus, als es das Versammlungsmotto „Agrarreform: Für soziale Gerechtigkeit und Selbstbestimmung des Volkes“ vermuten ließ. Die neue Parole der MST heißt: „Widerstand, Agrarreform und Sozialismus“.
//Benjamin Bunk

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