Wie Wissen Wege öffnet
Das Bewußtsein des Seins
Mein Ausgangspunkt ist der folgende: Nur jene Wesen, die sich selbst als historisch begreifen, sind in der Lage, auf die Realität einzuwirken. Zweifellos ist der jabuticabeira-Baum in meinem Garten auch klimatischen Bedingungen (der Kälte, der Hitze, dem Regen) unterworfen und seine Existenz wird von vielen oder wenigen Vögeln in seiner Krone beeinflußt. Er ist der Gewalt seiner eigenen Biologie ausgesetzt. Er weiß dies alles nur nicht. Der jabuticabeira-Baum versteht sich nicht als ein denkendes Wesen, das seine Bedingtheit durch die Geschichte, das Klima, und vieles mehr reflektiert. Er paßt sich nur an die Umweltbedingungen an.
Wir jedoch, wenn wir uns als von der Familie, der Kultur, der Wirtschaft, der Biologie, der Gene beeinflußte Wesen erkennen, können uns an diese Verhältnisse bewußt anpassen. Wir können in Zusammenhängen handeln und auf sie einwirken. Hieraus folgt, daß nur die Menschen, die sich als fremdbestimmt wahrnehmen, die Verhältnisse verändern können. Wir können Fremdbestimmung in bewußtes, selbstbestimmtes Handeln verwandeln.
Erziehung des Seins
Der Erziehung kommt aus dieser Perspektive eine grundlegende Bedeutung zu. Erziehung wirkt auf das Handeln ein. Sie schafft vielleicht die Voraussetzungen für gesellschaftlichen Wandel und eröffnet neue Wege, die in der Welt eine Wirkung hinterlassen. Allein kann sie diesen Wandel jedoch nicht herbeiführen.
Landlosenbewegung
Wenn Sie mit der Führung der Landlosenbewegung sprechen, werden Sie sehen, welch große Bedeutung diese der Erziehung beimißt. Das ist sehr beeindruckend. (…) Die Landlosen wissen sehr gut, daß Erziehung allein nicht die Landreform herbeiführt. Sie wissen aber, daß es ohne Erziehung keine Reformen geben wird, und daß die Reformen sich ohne Erziehung „verheddern“, sich in ihrem Prozeß an den Hindernissen aufreiben würden. Die Landlosenbewegung hätte nicht die große Bedeutung, wenn ihr das nicht bewußt wäre. Ein Bauer sagte einmal: „Ich bin zufrieden, weil ich heute weiß, daß ich unterdrückt werde und das verändern kann und muß“.
Heute, nachdem die Bewegung seit zwanzig Jahren existiert, veranstalten die Landlosen große Demonstrationen und neunzig Prozent der öffentlichen Meinung sind auf ihrer Seite. Sie machen Geschichte. Dies drückte ein favelado (Bewohner eines Elendsviertels) folgendermaßen aus: „Früher schämte ich mich, ein favelado zu sein; heute muß sich derjenige schämen, der nicht gegen die Verhältnisse der Verelendung ankämpft.“ Diese Zunahme an kritischem Bewußtsein ist fundamental, und es ist denkbar, daß es in zehn Jahren viele mit den Landlosen vergleichbare Bewegungen geben wird.
Schule
Wenn ich über Erziehung rede, dann spreche ich stets davon, den „Status Quo“ zu verändern. Meine Option ist, zu intervenieren. Ein konservativer Erzieher will erhalten. Die Schule ist wie eine Bühne, auf der er und ich gestalterisch arbeiten. Die Schule ist deshalb nicht nur ein Ort des Festhaltens am Gegebenen, sondern auch ein Ort des Widerspruchs, der Auflehnung gegen die Reproduktion des Gegebenen.
Als Lehrer und Erzieher verstehen wir uns in einer permanenten Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, mit der gegebenen Situation, die wir zunächst als solche anerkennen. (…) Wir sind jedoch auch ständig damit beschäftigt, uns mit dem Neuen, mit dem Anderen auseinanderzusetzen, um zu wachsen und zu lernen. Wir müssen die Veränderung, das Neue
akzeptieren, komme was wolle. (…)
Der Tod
Es ist schwierig, für die Erhaltung der Natur und einer universellen Ethik des Menschen zu kämpfen. Geschichte wird nicht außerhalb des menschlichen Lebens, nicht außerhalb Deines oder meines Lebens gemacht. Manchmal werden Veränderungen erst nach hundert oder zweihundert Jahren deutlich. Ich kann deshalb mein eigenes, individuelles Handeln nur in einer historischen Dimension erfassen.
Ich schreibe gerade ein Buch. Vielleicht denkst Du, daß ich dieses Buch erst dann schreiben könnte oder dürfte, wenn ich den Anfang der Verwirklichung der Umsetzung meiner Gedanken, die ich dort verteidige, erkennen könnte? Auf keinen Fall! Ich sterbe vielleicht in fünf, sechs oder höchstens zehn Jahren. Vielleicht kann und wird das Buch erst in fünfzig Jahren diskutiert werden. Aber möglicherweise ist es auch nicht so. Die historische Dimension meines und unseres Werdens ist für uns fundamental. Das ist nicht leicht zu verwirklichen.
Übersetzung: Ilse Schimpf-Herken