Nachruf | Nummer 276 - Juni 1997

Wie Wissen Wege öffnet

In einem Interview, das Paulo Freire 16 Tage vor seinem Tod dem israelischen Journalisten Ethan Bronstein gab, spricht er einige seiner wichtigsten Lebensthemen noch einmal kurz an. Es folgen einige Auszüge, die in der Folha da Manhâ am 4. Mai abgedruckt waren.

Aus: Folha da Manhâ

Das Bewußtsein des Seins

Mein Ausgangspunkt ist der folgende: Nur jene Wesen, die sich selbst als historisch be­greifen, sind in der Lage, auf die Realität einzuwirken. Zwei­fellos ist der jabuticabeira-Baum in meinem Garten auch klimatischen Bedingungen (der Kälte, der Hitze, dem Regen) unterworfen und seine Exi­stenz wird von vielen oder wenigen Vögeln in sei­ner Krone beein­flußt. Er ist der Gewalt seiner ei­genen Biologie ausgesetzt. Er weiß dies alles nur nicht. Der jabuticabeira-Baum versteht sich nicht als ein denkendes Wesen, das seine Bedingtheit durch die Geschichte, das Klima, und vieles mehr re­flek­tiert. Er paßt sich nur an die Umweltbedin­gungen an.
Wir jedoch, wenn wir uns als von der Familie, der Kultur, der Wirtschaft, der Bi­o­logie, der Gene be­ein­flußte Wesen erken­nen, kön­nen uns an diese Ver­hältnisse bewußt an­pas­sen. Wir können in Zu­sam­menhängen han­deln und auf sie einwirken. Hie­raus folgt, daß nur die Men­schen, die sich als fremd­be­stimmt wahrneh­men, die Ver­hältnisse ver­än­dern können. Wir kön­nen Fremdbestimmung in bewußtes, selbst­be­stimm­tes Handeln verwandeln.

Erziehung des Seins

Der Erziehung kommt aus die­ser Perspektive eine grundle­gende Bedeutung zu. Erziehung wirkt auf das Handeln ein. Sie schafft vielleicht die Vor­aussetzungen für gesellschaft­lichen Wandel und eröffnet neue Wege, die in der Welt eine Wirkung hinterlassen. Allein kann sie diesen Wandel jedoch nicht herbeiführen.

Landlosenbewegung

Wenn Sie mit der Führung der Landlosenbewe­gung sprechen, werden Sie sehen, welch große Be­deu­tung diese der Er­ziehung beimißt. Das ist sehr be­eindruckend. (…) Die Land­losen wissen sehr gut, daß Er­ziehung allein nicht die Landre­form her­bei­führt. Sie wis­sen aber, daß es ohne Erziehung kei­ne Reformen ge­ben wird, und daß die Reformen sich ohne Er­zieh­ung “ver­hed­dern”, sich in ihrem Pro­zeß an den Hin­der­nis­sen auf­reiben würden. Die Land­lo­sen­be­we­gung hät­te nicht die große Be­deu­tung, wenn ihr das nicht be­wußt wäre. Ein Bauer sagte einmal: “Ich bin zu­frie­den, weil ich heute weiß, daß ich un­terdrückt werde und das verändern kann und muß”.
Heute, nachdem die Bewegung seit zwanzig Jahren existiert, veranstalten die Landlosen große Demonstrationen und neunzig Prozent der öffentli­chen Meinung sind auf ihrer Seite. Sie machen Ge­schichte. Dies drückte ein favelado (Bewohner eines Elendsviertels) folgendermaßen aus: “Früher schämte ich mich, ein favelado zu sein; heute muß sich derjenige schämen, der nicht gegen die Verhältnisse der Verelendung ankämpft.” Diese Zunahme an kritischem Bewußtsein ist fundamen­tal, und es ist denkbar, daß es in zehn Jahren viele mit den Landlosen vergleichbare Bewegungen ge­ben wird.

Schule

Wenn ich über Erziehung rede, dann spreche ich stets davon, den “Status Quo” zu verändern. Meine Option ist, zu inter­venieren. Ein konservativer Er­zieher will erhalten. Die Schule ist wie eine Bühne, auf der er und ich gestalterisch arbeiten. Die Schule ist deshalb nicht nur ein Ort des Festhaltens am Gegebenen, sondern auch ein Ort des Wider­spruchs, der Auflehnung gegen die Repro­duktion des Gegebenen.
Als Lehrer und Erzieher ver­stehen wir uns in einer per­manenten Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, mit der gegebenen Situation, die wir zu­nächst als solche anerken­nen. (…) Wir sind je­doch auch ständig damit beschäftigt, uns mit dem Neu­en, mit dem Anderen auseinanderzusetzen, um zu wachsen und zu lernen. Wir müssen die Verän­de­rung, das Neue
akzeptieren, komme was wolle. (…)

Der Tod

Es ist schwierig, für die Erhaltung der Natur und einer universellen Ethik des Men­schen zu kämpfen. Geschichte wird nicht außerhalb des men­schlichen Lebens, nicht außerhalb Deines oder meines Lebens gemacht. Manchmal wer­den Ver­änderungen erst nach hundert oder zweihundert Jah­ren deutlich. Ich kann deshalb mein eigenes, individuelles Handeln nur in einer histo­rischen Dimension erfassen.
Ich schreibe gerade ein Buch. Vielleicht denkst Du, daß ich dieses Buch erst dann schrei­ben könnte oder dürfte, wenn ich den Anfang der Ver­wirklichung der Umsetzung mei­ner Gedanken, die ich dort verteidige, erkennen könnte? Auf keinen Fall! Ich sterbe vielleicht in fünf, sechs oder höchstens zehn Jahren. Viel­leicht kann und wird das Buch erst in fünfzig Jahren disku­tiert werden. Aber möglicher­weise ist es auch nicht so. Die his­torische Dimension meines und unseres Werdens ist für uns fundamental. Das ist nicht leicht zu verwirklichen.
Übersetzung: Ilse Schimpf-Herken

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