Erinnerung | Nummer 363/364 - Sept./Okt. 2004

„Wir bauen an einem Zentrum der Erinnerung“

Interview mit der chilenischen Menschenrechtsaktivistin Paz Rojas Baezas

Zwei wichtige Ereignisse zur Erinnerung an die Militärdiktatur fanden in diesem Jahr in Chile statt. Die UNESCO erklärte das umfangreiche Archiv der CODEPU (Vereinigung zur Verbreitung und Verteidigung der Rechte des Volkes) und sieben weiterer chilenischer Menschenrechtsorganisationen zum Dokumentarischen Erbe der Menschheit. Außerdem wurde die Kommission für Folter und Politische Gefangenschaft von der Regierung einberufen und führte eine nur sechs Monate dauernde Anhörung unter überlebenden Opfern der Repression durch. Die CODEPU-Vorsitzende und Psychiaterin Paz Rojas Baezas berichtet im Interview, wie dies in der chilenischen Gesellschaft aufgenommen wurde. Insbesondere beleuchtet sie dabei die Rolle der Medien im Umgang mit der Erinnerung, die zur Zeit der Diktatur zum Thema Menschenrechtsverletzungen geschwiegen oder aber durch geschickte Präsentation von Informationen unterschwellige Unsicherheit und Angst produziert haben.

Elke Stefanie Inders

Das Archiv der CODEPU ist im Rahmen des UNESCO-Programms „Memory of the World“, zum „Dokumentarischen Erbe der Menschheit“, erklärt worden. Woraus besteht das Archiv der CODEPU? Wie wurde das Material zusammengetragen?

Nach dem Staatsstreich protestierten zuallererst die Kirchen gegen die schrecklichen Dinge, die passierten. Im so genannten Komitee für den Frieden organisierten sich viele Menschen zu ehrenamtlicher Arbeit. Mit diesem Komitee arbeitete ich als Ärztin zusammen und eröffnete mit zwei Psychiaterinnen eine private Sprechstunde. Im Geheimen begannen wir Menschen zu behandeln, die gefoltert worden waren. Wir schrieben also alles auf, was uns die Menschen erzählten, die zu uns kamen. Oft brachten sie auch Briefe mit oder Fotos von ihren Angehörigen. Genau wie wir arbeiteten auch viele andere Gruppen beispielsweise als juristischer Beistand für Opfer der Repression. Fast seit Beginn der Diktatur wurde von zivilen Einrichtungen und Menschenrechtsorganisationen dokumentiert, was überhaupt geschah. Die gesammelten Informationen gingen an die Vereinten Nationen, woraufhin der Sonderberichterstatter über die Menschenrechtssituation in Chile benannt wurde.
Von damals bis heute haben Menschenrechtsorganisationen so viele Daten und Akten wie möglich gesammelt und bewahrt. Und eine unter ihnen ist die nicht-kirchliche CODEPU. In der Organisation wurde medizinische, juristische und soziale Arbeit für die Opfer der Repression geleistet und CODEPU war an der Organisation der Bevölkerung beteiligt.
Während der Diktatur wurde mehrfach versucht, alle Unterlagen zu rauben oder zu zerstören. 1981 brannte das Gebäude ab, in dem wir arbeiteten und wir verloren viel Material. Und 1985 wurde unser Vorsitzender ermordet. Damals wurde auch unser Gebäude aufgebrochen und viele Unterlagen gestohlen. Die Unterbringung der vielen Dokumente war immer ein Problem. Zeitweise musste alles in Privathäusern auf engstem Raum aufbewahrt werden.

Was bedeutet für die CODEPU die Anerkennung des Archivs als Dokumentarisches Erbe der Menschheit?

Die Ernennung bedeutet für uns eine große Herausforderung. Zunächst einmal ist es natürlich eine unglaubliche Anerkennung unserer Arbeit, dass die Entscheidung nach einem langen Auswahlverfahren auf unser Archiv, zusammen mit den Archiven anderer Menschenrechtsorganisationen, fiel. Jetzt müssen zuallererst die Bestände richtig geordnet und digitalisiert werden. Wir haben jetzt eigene Räumlichkeiten im Zentrum von Santiago. Trotz allem fehlen uns die Mittel an allen Ecken. Inzwischen konnten wir immerhin Regale aufstellen, um die Dokumente zu lagern.
Wenn die Dokumente erst einmal thematisch geordnet und digitalisiert sind, können die verschiedenen Informationen auf ganz andere Weise zusammengeführt werden. Beispielsweise im Fall der geraubten Kinder. Die Informationen über sie wurden von einer Menschenrechtsorganisation gesammelt. Wir hingegen haben Akten über die Eltern und juristische Unterlagen, die sich gegenseitig ergänzen und neue Erkenntnisse ermöglichen. Unser Ziel ist, mit allen zusammen ein Zentrum der Erinnerung aufzubauen. Es soll einen Ort in Chile geben, an dem die Erinnerung an die Repression während der 17 Jahre Diktatur aufbewahrt wird.

Wie waren die Reaktionen innerhalb der chilenischen Gesellschaft?

Die Reaktion war praktisch gleich Null. Der Erziehungsminister rief an und teilte uns mit, dass das Archiv anerkannt worden sei. Am nächsten Tag wurde eine Pressekonferenz einberufen, zu der alle Medien kamen, die Fernsehkanäle, die Zeitungen. Als dann die Nachrichten ausgestrahlt wurden, sah man ohne weitere Erklärungen unsere Gesichter im Fernsehen. Auch in den Zeitungen wurde nahezu nichts berichtet. Auch die von uns mitorganisierte Ausstellung zum 30. Jahrestag des Putsches, mit Zeitzeugenberichten, Fotos und Dokumenten aus der Zeit der Diktatur und wöchentlichen Konferenzen zu verschiedenen Themen fand in den Medien nicht das geringste Echo – einfach gar nichts. Allerdings, und das hat uns sehr gefreut, kamen viele Schulklassen. Die Besucherzahl nahm aber in den ersten zwei Monaten schnell ab.

Wie erklärt sich das?

Menschenrechte und Vergangenheit sind in Chile immer noch ein lästiges Thema und das Vergessen wird systematisch gefördert. Der Übergang zur Demokratie war zwischen den Militärs und den politischen Kräften vereinbart. Das Thema der Menschenrechte wurde außen vor gelassen.
Nach der Verhaftung Pinochets und der Auslieferungsforderung durch einen Richter entwickelte sich ein größerer internationaler Diskurs über die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen. Hatte das bedeutende Auswirkungen in der chilenischen Gesellschaft?
Nein, es sind immer noch nur kleine Gruppen, die sich mit der Vergangenheit und Menschenrechtsverletzungen auseinander setzen. Natürlich weiß die Gesellschaft über vieles Bescheid. Bei der Verhaftung Pinochets gingen Hunderte ChilenInnen auf die Straße. Als er verhaftet wurde, haben 72 Prozent der Bevölkerung – auch aus der Rechten – in Meinungsumfragen gesagt, dass sie ihn für schuldig halten würden, dass er bestraft werden müsse. Trotzdem wählt ein Großteil der ChilenInnen die Rechte, weil sie für ein bestimmtes ökonomisches Modell steht. Das von der Rechten etablierte neoliberale Modell hat die Gesellschaft durchdrungen, zusammen mit der Diktatur der Angst und des Misstrauens, die auch nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie die Gesellschaft weiterhin kennzeichnet. Vor der Diktatur war Chile progressiv und demokratisch weit entwickelt. In der Gesellschaft herrschte ein gewisser Gemeinschaftssinn und Solidarität. Mit der Diktatur ist ein neues, soziales Subjekt entstanden. Die Menschen sind mehr auf sich konzentriert und auf ihre privaten Interessen: auf das neue Auto, auf den Fernseher oder die Reisen durch Lateinamerika oder Europa. Dinge, die sich die meisten ChilenInnen zuvor nie erträumt hatten.

Worin drückt sich die „Diktatur der Angst und des Misstrauens“ aus, die immer noch in der chilenischen Gesellschaft wirkt?

Angst und Misstrauen sind von der Bevölkerung stark internalisiert worden. Das macht sich in ganz normalen Unterhaltungen oder insbesondere in meinen psychologischen Behandlungen bemerkbar. Zum Beispiel haben viele Menschen in diesem Jahr vor der Kommission über politische Gefangenschaft und Folter nicht ausgesagt – aus Angst, sich an Szenen der Folterungen zu erinnern, an das Bild des Folterers. Es gibt eine vitale, internalisierte Angst in den Opfern, die weiter besteht.
Und die Diktatur nutzte die Medien geschickt, um zum Beispiel unterschwellige Botschaften an die chilenische Bevölkerung weiterzugeben, die immer eine direkte oder indirekte Drohung enthielten. Und das ist heute noch genauso. Sämtliche Printmedien und das Fernsehen verbinden Informationen mit implizit bedrohlichen Nachrichten. Ein ganz banales Beispiel: Die Landstraße Panamericana führte mitten durch das Zentrum der Stadt Temuco. Also bauten sie im Rahmen eines großen Infrastrukturprojektes die Straße außen um die Stadt herum, was eigentlich ein Fortschritt ist. Die Nachricht dazu in der rechten Zeitung Mercurio lautete folgendermaßen: „Die Panamericana führt jetzt nicht mehr nach Temuco.“ Anstatt zu sagen, dass glücklicherweise die Straße jetzt außen um die Stadt herum führt und so die AnwohnerInnen nicht mehr belästigt, wird die Information auf eine Weise präsentiert, die nahe legt, dass die Stadt zukünftig von der wichtigen Verkehrsanbindung abgeschnitten sein wird. Die Militärs haben diese Art Information zu manipulieren, von den USA gelernt und diese Technik hat einen gewissen Beitrag dazu geleistet, dass Allende gestürzt wurde. In der Psychiatrie nennen wir das doublebinding.
Die rechte Presse – heute gibt es fast ausschließlich rechte Presse in Chile – nutzt diese Form zu kommunizieren wie eh und je und produziert damit eine unterschwellige Angst.

Du hast von einer Nichtbeachtung, von einem bewussten Verschweigen Eurer Arbeit und der Verbrechen der Vergangenheit in den Medien gesprochen, also von einer „negativen“ Macht der Medien. Sind die Medien gleichzeitig auch wichtig für die Produktion eines bestimmten Bildes der Vergangenheit? Gibt es in Bezug auf den Umgang mit der Vergangenheit in der Berichterstattung auch dieses Phänomen des doublebinding, oder liegt die Macht der Medien in Chile heute hauptsächlich in der Ignoranz?

Sagen wir so, die chilenischen Medien interessieren nur ganz bestimmte Geschichten, die etwas mit den Verbrechen der Vergangenheit zu tun haben – meistens wenn sie eine sexuelle Komponente haben, denn das verkauft sich. Dabei produzieren sie ein bestimmtes Bild der Vergangenheit und Gegenwart. Ich kann von einem Fall erzählen, in den ich selbst involviert war.
Eine Frau, Odette Alegría, beschuldigte kürzlich öffentlich den leitenden Direktor der Untersuchungspolizei Nelson Mery, der von der ersten „demokratischen“ Regierung berufen worden war, ein Folterer und Vergewaltiger zu sein und dass er sie sexuell missbraucht habe. Das wurde dann begierig von den Medien aufgenommen, nicht zuletzt wegen der Details des sexuellen Missbrauchs. Es war ein riesiger Skandal und wurde in allen Fernsehkanälen ausgestrahlt. Letztendlich hat Mery Frau Alegría wegen Verleumdung angezeigt. Es gab eine Anklage und ihr drohte eine enorme Geldstrafe und eine mehrjährige Gefängnisstrafe. Meine MitarbeiterInnen und ich erinnerten uns, dass sie damals bei uns gewesen war und ihren Fall vorgetragen hatte. Wir suchten in unserem Archiv und wurden fündig. Sie war zusammen mit ihrem Bruder in unsere Sprechstunde gekommen. Er war auch schrecklich gefoltert worden. In der Akte war alles verzeichnet, was sie damals über die Verhaftung und Verschleppung erzählt hatte. Sie benannte uns gegenüber vier Personen, die an den Verhören und Folterungen beteiligt waren – unter anderem Mery. Ich übergab alles der Anwältin, die Frau Alegría verteidigte und sagte zu, eine Aussage zu machen.
Die rechte Zeitung Mercurio druckte ein Foto von mir ab und schrieb: Paz Rojas muss vor Gericht! Weiter wurde nichts erklärt: warum ich vors Gericht gehe, was ich dort aussagen werde, gar nichts. Später machte der Mercurio dann ein telefonisches Interview mit mir und veröffentlichte meine Aussage. Zum Schluss schrieben sie, dass ich Odette Alegría damals nicht mehr weiter behandelt hätte, weil sie kein Geld gehabt habe, um mich zu bezahlen. Wir haben nie von irgendjemandem Geld verlangt!
Frau Alegría wurde zu drei Millionen Pesos Geldstrafe und einigen Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Sie wird Revision einlegen. Die ganze Geschichte hat einen großen Wirbel gemacht, auch mit einigen positiven Effekten. Sie hat eine Reihe von Menschen veranlasst, eine Sammelklage gegen die Verantwortlichen der Militärschule einzureichen, in der auch Odette Alegría und ihr Bruder gefoltert wurden. Doch dieser Fall legt vor allem Zeugnis davon ab, wie durch die juristische Verurteilung und mediale Aufbereitung von Nachrichten ein Opfer von Folter und Vergewaltigung ein zweites Mal erniedrigt und ein Geschichtsbild produziert wird, in dem die TäterInnen zu Opfern verkehrt werden.

In diesem Jahr führte die Kommission für politische Gefangene und Folter eine Befragung durch, zu der sich ChilenInnen melden sollten, die während der Diktaturzeit Opfer der staatlichen Repression geworden waren. Wie bewertest Du die Arbeit der Kommission?

Es ist gut, dass es die Kommission gegeben hat. Immerhin haben sich 25 000 Menschen gemeldet und ausgesagt. Ihre Geschichten sind damit als Teil der chilenischen Geschichte anerkannt worden. Die große Zahl der Überlebenden war bisher nicht in den Untersuchungen zur Diktatur berücksichtigt worden. Die „Kommission für Wahrheit und Versöhnung“, die es vorher gab, hatte nur Opfer, die an den Folgen der Folter gestorben waren, berücksichtigt. Jetzt wird die Kommission immerhin die Geschichten der Menschen festhalten, die ausgesagt haben.
Allerdings sind die Kritikpunkte an der Kommission zahlreich: Die Untersuchung der Kommission ist viel zu kurz und unbemerkt verlaufen. Nur ein Bruchteil der Betroffenen hat ausgesagt. Außerdem waren die Fragebögen absolut unzureichend, da wichtige Fragen nicht gestellt wurden. Es wurden zwar Orte und Zeiten von Verbrechen abgefragt, aber zu den TäterInnen sollten keinerlei Angaben gemacht werden. Das Gesetz, das auf der Basis der Ergebnisse der Kommission erlassen wurde, zielt nicht darauf ab, Gerechtigkeit zu schaffen. Es ist ausschließlich auf die Opfer fixiert. Für die Verantwortlichen wird es keinerlei Konsequenzen geben, obwohl sie in vielen Fällen durchaus eindeutig benennbar sind. Der Bericht zur Straflosigkeit der Vereinten Nationen hingegen nennt und begründet verschiedene Reparationsrechte: darunter das Recht auf Wissen, das Recht auf Wahrheit, das Recht auf Gerechtigkeit, das Recht auf Reparation.
Die angekündigten Reparationen der chilenischen Regierung erfüllen nicht den Artikel 14 der Konvention gegen Folter, der bestimmte handfeste Kriterien vorgibt. Das neue Dekret faselt etwas von symbolischen Reparationen, von denen keiner weiß, was das überhaupt sein soll. Vielleicht werden sie überhaupt nichts zahlen. Präsident Lagos hatte die Kommission gegründet, um allen Opfern von politischer Verfolgung finanzielle oder psychologische Hilfe zu garantieren. Wenn der Staat seine Pflicht jetzt nicht erfüllt, dann werden die verschiedenen Menschenrechtsorganisationen Anzeige erstatten und selbstverständlich weiter kämpfen.


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