Argentinien | Nummer 322 - April 2001

„Wir brauchen die deutsche Justiz“

Interview mit dem argentinischen Rechtsanwalt Rodolfo Yanzón

Fast auf den Tag genau 25 Jahre nach dem Militärputsch in Argentinien reichten Angehörige der Opfer am 21. März 2001 in Berlin Strafanzeige wegen Völkermord ein. Beschuldigt werden 20 Militärs der Diktatur, darunter die führenden Junta-Generäle Videla und Massera. An dem sich anschließenden Hearing im Reichstag zur Völkermordanzeige der „Koalition gegen Straflosigkeit“ nahm auch der argentinische Rechtsanwalt Rodolfo Yanzón teil.

Niels Müllensiefen

Anfang März hat der argentinische Bundesrichter Gabriel Cavallo in einem Verfahren gegen zwei ehemalige Polizisten die beiden Amnestiegesetze des „Befehlsnotstands“ von 1986 und des „Schlusspunktes“ von 1987 wegen Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärt. Welche Auswirkungen hat dieser Richterspruch auf die argentinischen Verfahren wegen Verbrechen während der Militärdiktatur?

Bisher hat diese Entscheidung keinerlei rechtliche Wirkungen. Denn sie muss noch von zwei höheren Instanzen, zuletzt vom Obersten Gerichtshof Argentiniens, bestätigt werden. Sollte es tatsächlich zu einer Bestätigung kommen, so wirkt die Nichtigkeitserklärung zudem allein in dem beim Richter Cavallo anhängigen konkreten Verfahren und hat nicht etwa Bindungswirkung im Hinblick auf andere Verfahren in Argentinien. In dem konkreten Prozess, der bisher nur wegen Kindesentführung – ein Delikt, das ja nicht unter die Amnestiegesetze fällt – geführt wurde, könnte Richter Cavallo dann die beiden ehemaligen Polizisten auch wegen der Ermordung der Eltern des entführten Kindes anklagen. Die übrigen auf Grund der Amnestiegesetze eingestellten Verfahren können nur dann neu aufgerollt werden, wenn der jeweils zuständige Richter die Verfassungswidrigkeit der Amnestiegesetze feststellt. Da aber viele argentinische Richter – gerade bei den Gerichten höherer Instanzen – noch zu Diktaturzeiten bestellt wurden und später oft die Amnestiegesetze bereits für verfassungsmäßig erklärt haben, bin ich da recht skeptisch. Eines darf man nämlich nicht vergessen: Die argentinische Justiz war Komplize des Militärregimes, und diese Rolle wirkt leider bis in die heutige Rechtsprechung zu den Verbrechen während der Diktatur fort. Trotz allem hat die Entscheidung des Richters Cavallo natürlich große Signalwirkung.

Welche Ziele verfolgen Sie und die „Koalition gegen Straflosigkeit“ mit der am 21. März beim Bundesjustizministerium eingereichten Völkermordanzeige gegen argentinische Militärangehörige?

Was unsere Ziele und Möglichkeiten angeht, können wir uns sehr gut an den Prozessen orientieren, die Gerichte anderer europäischer Länder in den letzten Jahren gegen argentinische Militärangehörige vorangetrieben haben. Hervorzuheben ist dabei der Prozess, den der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón bereits 1996 begann – wie wir jetzt in Deutschland wegen der Verbrechen Völkermord, Folter und Staatsterrorismus. Diese Gerichtsverfahren in Europa haben sehr viel bewegt, und zwar sowohl in juristischer, als auch in politischer Hinsicht. Juristisch gesehen haben sie jedenfalls dazu geführt, dass Argentinien insoweit zu einem großen Gefängnis für Menschenrechtsverbrecher geworden ist, als dass sie das Land auf Grund der internationalen Haftbefehle, die französische, italienische und eben der spanische Richter Garzón erlassen haben, nicht mehr verlassen können.
Das hat zuletzt deutlich der Fall des in Mexiko festgenommenen Ex-Fregattenkapitäns Miguel Angel Cavallo gezeigt: Er verließ Argentinien und muss nun ernsthaft mit seiner Auslieferung an Spanien rechnen. Außerdem wurden als Reaktion auf die Aktivitäten der europäischen Justiz in Argentinien einige Verfahren wegen Verbrechen während der Diktatur wiedereröffnet. Politisch gesehen haben die Prozesse vor den europäischen Gerichten vor allem ein neues internationales Bewusstsein für das geschaffen, was in Argentinien während der Militärdiktatur geschehen ist. Alles in allem kann man sagen: Es ist gelungen, die Mauer der Straflosigkeit in Argentinien ein wenig einzureißen.
Unser eigentliches Ziel ist und bleibt die Gerechtigkeit durch die nationale Justiz in Argentinien. Da diese aber bis zum heutigen Tage weder zu erwarten noch zu erreichen ist, müssen wir auf der internationalen Ebene agieren, um die Verbrechen der Militärdiktatur, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit die gesamte Menschheit angehen, zu verfolgen und abzuurteilen. Und dafür brauchen wir eben auch die deutsche Justiz.

Gibt es im Zusammenhang mit der Völkermordanzeige in Deutschland nach wie vor juristisch-argumentative Probleme im Hinblick auf die Definition von Völkermord, oder hat sich die Ansicht, dass in Argentinien Völkermord stattgefunden hat, mittlerweile weitgehend durchgesetzt?

Ich denke schon, dass man diesbezüglich von einem recht breiten Konsens sprechen kann. Wir Anwälte der Familienangehörigen und viele anerkannte Völkerrechtler legen die Definition des Völkermordtatbestandes in der UN-Völkermordkonvention so aus, dass die Verfolgung der dort genannten „nationalen“ Gruppe auch die Verfolgung einer politischen Gruppe, wie sie in Argentinien vom Militärregime betrieben wurde, beinhaltet. Außerdem gibt es parallel zur vertragsrechtlichen Definition in der UN-Völkermordkonvention einen zweiten völkergewohnheitsrechtlichen Begriff des Völkermordes, der weiter ist und jedenfalls die systematische Tötung einer Gruppierung von „Oppositionellen“ umfasst. Doch ohnehin beschränkt sich die Strafanzeige, die wir nun vor der deutschen Justiz eingereicht haben, nicht auf das Delikt des Völkermordes: wir zeigen die argentinischen Militärangehörigen auch wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Folter und „Verschwindenlassen“ an. Insbesondere auf das Delikt der Folter ist das deutsche Strafrecht nach dem Weltrechtsprinzip anwendbar.

Wie viele argentinische Militärangehörige werden im Rahmen der Völkermordanzeige angezeigt?

Vorerst zeigen wir nur etwa dreißig Militärangehörige beim Bundesjustizministerium an. Es handelt sich um alle Mitglieder der verschiedenen Militärjuntas sowie die verschiedenen Chefs der Militärzonen, in die Argentinien zur Zeit der Militärdiktatur eingeteilt war. Natürlich ließe sich diese Liste ohne weiteres auf mehr als 1.500 mutmaßliche Verantwortliche für die Menschenrechtsverbrechen erweitern. Denn bereits damals, als in Argentinien die Verfahren auf Grund der so genannten Schlusspunktgesetze eingestellt wurden, war gegen etwa 1.500 mutmaßliche Täter strafrechtlich ermittelt worden. Und die reale Zahl der Verantwortlichen erschöpft sich bei weitem nicht in dieser Ziffer.

Viele Menschen in Argentinien werden Ihnen im Hinblick auf die Bemühungen vor der deutschen Justiz vorhalten, dass es in der derzeitigen politischen und wirtschaftlichen Situation in Argentinien anderes zu tun gäbe.

Ohne Zweifel ist dem ja auch so: natürlich hat die argentinische Gesellschaft andere Sorgen, gerade wirtschaftlicher Art. Nur darf man dabei nicht aus den Augen verlieren, dass es in vielerlei Hinsicht eine enge Verknüpfung zwischen dem Völkermord während der Militärdiktatur, den wir in Deutschland zur Anzeige bringen, und dem heutigen wirtschaftlichen System Argentiniens gibt. Denn die ultraliberalen Ideen, die auch unter der jetzigen angeblich fortschrittlichen Regierung des Präsidenten de la Rúa weiterverfolgt werden, wurzeln in der Zeit der Militärdiktatur. Für unseren Kampf gegen die Straflosigkeit ist es sehr wichtig, den Menschen diesen Zusammenhang offen zu legen: Wenn wir von den „Verschwundenen“ sprechen, dann sprechen wir gleichzeitig von der ökonomischen Krise Argentiniens. Die Straflosigkeit in Argentinien ist ein absolut gegenwartbezogenes Problem. Sie prägt das Land und seine Demokratie. Ein Beispiel: Zwischen 1994 und 1997 gingen beim Menschenrechtssekretariat der argentinischen Regierung über 400 Anzeigen wegen Folterungen durch die Polizei ein. Obwohl die Folterungen in ihrer Mehrzahl durch medizinische Atteste bewiesen waren, kam es zu keiner einzigen Verurteilung durch die argentinische Justiz. Die Straflosigkeit erlaubt es also der Polizei als ehemaligem Exekutivorgan der Repression, mit den Methoden der Vergangenheit auch in der Gegenwart fortzufahren.

Welche Aufgabe haben Sie bei den Ermittlungen in der deutschen Botschaft von Buenos Aires über das Schicksal der deutschen Opfer der Militärdiktatur?

Im Rahmen der Ermittlungen auf Antrag der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth haben die Zeugen, die geladen werden, nach deutschem Recht Anspruch auf rechtlichen Beistand. Diesen leiste ich ihnen. Ich bin daher sowohl als Anwalt der Zeugen, als auch der Familienangehörigen anwesend. Während der Vernehmungen versuche ich den Zeugen dabei zu helfen, ihr Gedächtnis voll auszuschöpfen und auch kleine – für sie oftmals unwichtige – Details zu schildern, damit uns nichts an relevanten Informationen verloren geht. Der deutsche Konsul, der die Vernehmungen durchführt, lässt mir dabei glücklicherweise weitgehend freie Hand.

Sind Sie zufrieden mit dem bisherigen Verlauf der Ermittlungen?

Allein die Tatsache, dass die deutsche Botschaft in den Fällen der deutschen und deutschstämmigen Opfer ermittelt, sehe ich als einen großen Schritt bei der Aufklärung dieser Fälle. Im Laufe des letzten Monats sind bereits zehn Überlebende aus Gefangenen- und Folterzentren der Diktatur als Zeugen vernommen worden. Wir rechnen mit etwa dreißig weiteren Zeugen im Zuge der Ermittlungen. Es könnten allerdings noch mehr werden, weil die Zeugen, die bisher ausgesagt haben, in der Regel die Namen weiterer Personen nannten, die die Opfer vor ihrem „Verschwinden“ noch gesehen haben. Die Vernehmungen sind sehr aufwendig und arbeitsintensiv: jeder von den bisher vernommenen Zeugen sagte sechs bis sieben Stunden aus. Dies liegt vor allem daran, dass die Zeugen große Bereitschaft zur Aussage gezeigt und glücklicherweise eine sehr gute Erinnerungsfähigkeit bewiesen haben. Daher haben wir viele Informationen erhalten, die wir bis heute nicht kannten.

Gilt das auch für den Fall Mercedes Benz?

Ja. Im Fall Mercedes Benz haben wir durch die Vernehmungen bereits jetzt umfangreiches neues Beweismaterial gewonnen, um vor der deutschen Justiz der argentinischen Werksleitung und insbesondere dem Werksleiter Juan Tasselkraut, die Beteiligung an der Ermordung von Gewerkschaftsmitgliedern nachzuweisen. Vor allem die beiden ehemaligen Betriebsratsmitglieder Aníbal Ratto und Juan José Martín haben Tasselkraut, der ja immer noch bei Mercedes in Argentinien tätig ist, in ihren Zeugenaussagen schwer belastet.

Sind im Zuge der Vernehmungen auch bisher noch unbekannte Namen mutmaßlicher Täter bekannt geworden?

Es ist so, dass die Verantwortlichen auf der höheren Hierarchieebene des argentinischen Repressionsapparates weitgehend individualisiert sind. Was uns noch viel Ermittlungsarbeit kosten wird, ist auch die Täter der unteren Ebene, deren Gesichter die Zeugen gesehen haben und die etwa an den Entführungen und den Folterungen unmittelbar beteiligt waren, zu individualisieren. Aber auch dann, wenn wir die Namen der Täter bereits kennen, fehlt es oftmals an Beweisen für die Tatbeteiligung im konkreten Fall. Neben der Individualisierung der Täter zielt unsere Arbeit also ganz wesentlich darauf, konkrete Beweise gegen die Verantwortlichen zusammenzutragen.

Sie sprachen bereits den Fall des in Mexiko festgenommenen argentinischen Ex-Offiziers Miguel Angel Cavallo an. Erstmals in der Geschichte des Völkerrechts droht hier einem Menschenrechtsverbrecher die Auslieferung an ein „Drittland“, nämlich Spanien. Wie ist die Haltung der argentinischen Regierung in diesem politisch höchst brisanten Fall?

Offiziell heißt es von Seiten der Regierung Fernando de la Rúas, dass es sich um eine juristische Angelegenheit allein zwischen den beteiligten Staaten Mexiko und Spanien handele. Entsprechend enthält sich de la Rúa einer öffentlichen Beurteilung des Falles Cavallo. Allerdings kann man selbstverständlich davon ausgehen, dass er die Angelegenheit bei seinem Treffen mit dem mexikanischen Präsidenten Vicente Fox besprochen hat. Und es ist ganz klar, dass de la Rúa dabei unter nicht unerheblichen politischen Druck durch die argentinischen Streitkräfte und auch durch das Verteidigungsministerium stand. Beide hatten bereits öffentlich auf eine aktivere Rolle der argentinischen Regierung gedrängt und gefordert, dass Cavallo keinesfalls an Spanien ausgeliefert werden dürfe. Leider unterstützt ja das Verteidigungsministerium grundsätzlich die Streitkräfte in ihrer Haltung, jedes gegen einen argentinischen Militärangehörigen gerichtete Auslieferungsgesuch abzuwehren. Im Fall des Ex-Majors Jorge Olivera, der im letzten Jahr in Italien festgenommen worden war und auf Grund gefälschter Dokumente wieder freikam, hat sich gezeigt, wie weit diese Unterstützung für die Militärangehörigen geht: die Fälschung der offiziellen Dokumente der Stadt Buenos Aires konnte – wie später auch bewiesen wurde – in so kurzer Zeit nur mit staatlicher Hilfe gelingen. Entgegen den gegenteiligen Beteuerungen der argentinischen Regierung gibt es also ganz offensichtlich auch auf Regierungsebene eine Kampagne zur Aufrechterhaltung der Straflosigkeit. Nach außen hin wird diese Kampagne allerdings oftmals als Versöhnungsprojekt verkauft. So wird die katholische Kirche in Argentinien nicht müde, die vollständige Einstellung von Prozessen wegen der Verbrechen während der Militärdiktatur zu fordern, damit ein für alle Mal die nationale Versöhnung gelänge. Als ob in Argentinien eine Versöhnung ohne Justiz möglich wäre.

KASTEN

Zur Person: Rodolfo Yanzón

Der argentinische Rechtsanwalt Rodolfo Yanzón beteiligte sich in den letzten drei Jahren an der Arbeit der deutschen „Koalition gegen Straflosigkeit”, die zwölf Fälle von deutschen und deutschstämmigen Opfern der argentinischen Militärdiktatur bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth zur Anzeige brachte. Als Anwalt der Familienangehörigen nimmt er seit Februar an den Ermittlungen zum Schicksal der deutschen Opfer in der deutschen Botschaft von Buenos Aires teil. Yanzón ist Mitglied des Rechtsausschusses der Argentinischen Liga für die Menschenrechte, in dem er vor allem im Bereich des Rechtsschutzes für politische Gefangene zuständig ist. Seit 1998 ist der heute 40-jährige Anwalt Mitglied der Menschenrechtskommission im Rechtsanwälteverband von Buenos Aires. Yanzón reiste nach Berlin, um am 21. März bei dem Hearing im Reichstag zur Völkermordanzeige der „Koalition gegen Straflosigkeit“ gegen argentinische Militärangehörige teilzunehmen.

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