Aktuell | Chile | Feminismus | Nummer 551 - Mai 2020 - Onlineausgabe

„WIR HABEN UNS DIE IDEE DES LEBENS ZU EIGEN GEMACHT“

Interview mit Javiera Manzi über feministische Organisierung in Zeiten von Corona

Javiera Manzi ist eine von vielen Sprecherinnen der Coordinadora 8M. Das Bündnis organisiert jedes Jahr Streiks und Mobilisierungen zum Internationalen Frauentag sowie das Plurinationale Treffen derer, die kämpfen. Die Coordinadora 8M versteht sich als Zusammenschluss feministischer und sozialer Bewegungen und Organisationen, die sich gegen die Prekarisierung des Lebens stellen. Was das grundsätzlich und während der Coronakrise im Besonderen bedeutet, erzählt Manzi im Interview mit den LN.

Interview und Übersetzung: Jana Flörchinger, Caroline Kim, Susanne Brust & Sonja Schmidt

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„Fuera el temor (Weg mit der Angst)” Gegen Angst und für kollektive Sorgearbeit: Javiera Manzi (Foto: privat)

LN: Auf was für Bedingungen trifft die Corona-Krise aktuell in Chile?
JM: Wir durchleben gerade nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern auch eine wirtschaftliche, politische und soziale Krise. In Chile im Besonderen erleben wir sie im Kontext eines Aufstands, eines offenen Prozesses. Der Großteil der Bevölkerung ist gegen die Vertiefung der neoliberalen Politik der letzten 30 Jahre und das Erbe der Diktatur, wie die Verfassung, aufgestanden. Vieles hat sich seitdem verändert: Der soziale Zusammenhalt ist wiederbelebt worden – das ist etwas sehr Starkes. In den Vierteln ist eine Zusammenarbeit über nachbarschaftliche Versammlungen, die asambleas, entstanden. Es gibt einen grundlegenden Wandel im gesellschaftlichen Leben und ein kritisches offenes Bewusstsein. Diese Art der politischen Organisierung greift sowohl direkt die Regierung von Sebastián Piñera als auch alle vorherigen Übergangsregierungen an. Über allem steht ein kritisches Bewusstsein gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens, der Bildung, der Renten, für die fehlende soziale Sicherheit. Das hat einem radikalen Protest den Weg bereitet. Es ist ein Aufstand gegen die Prekarisierung des Lebens. So sehen wir diesen kritischen Moment aus einer ganz eigenen Perspektive.

Im Interview mit der argentinischen Tageszeitung Página 12 hast du gesagt, dass die Maßnahmen der Regierung „Verachtung dem Leben gegenüber“ ausdrücken. Warum?
Diese Verachtung bezieht sich auf das Leben der einfachen Leute. Nicht alle Leben sind es wert, in dieser Krise versorgt, geschützt oder anerkannt zu werden. Wir haben diese Regierung schon seit ihrem Antritt als kriminell bezeichnet – wegen der Menschenrechtsverletzungen, für die sie verantwortlich ist. Die Regierung und die Unternehmerschaft haben sich nochmal radikalisiert. Eine Koexistenz ihrer kapitalistischen Wirtschaft und einem Leben, in dem wir alle leben können, wird damit immer unmöglicher. Gleichzeitig werden andere Leben überproportional beschützt. Als feministische Bewegung haben wir nicht nur die Idee verfolgt, dass das Leben unser Kampf ist, wir haben uns die Idee des Lebens zu eigen gemacht.

Das Konzept des Lebens im Mittelpunkt ist grundlegend für lateinamerikanische Feminismen. Wie wird das in der Krise deutlich?
Wir haben als 8. März-Bündnis die Frage nach dem Leben ausführlich besprochen. Unsere Demonstrationen drehen sich um die Prekarisierung des Lebens. Dabei sprechen wir nicht nur von Arbeit, sondern von einer breiteren Prekarisierung des Lebens in seiner Gesamtheit. Was wir in all den Jahren diskutiert haben, ist die Frage, wie wir unser Leben als politisches Problem greifbar machen, um uns Möglichkeiten vorzustellen, wie wir es verändern können. Welchen Wert nimmt das Leben in dieser Gesellschaft ein? Welche Alternative kann der Feminismus bringen?

Diese Fragen sind nun drängender geworden, viele unserer Befürchtungen werden nach und nach Wirklichkeit. Die Möglichkeit einer Alternative ist von einem Wunsch zu einer Notwendigkeit geworden. Heute konzentrieren wir uns darauf, wie wir eine strukturelle Veränderung verstehen, die das gut gelebte Leben in den Mittelpunkt stellt: Buen Vivir. Das stellt für uns notwendigerweise die kapitalistische und patriarchale Organisierung in Frage.

Vor diesem dunklen Panorama hat die Coordinadora 8M einen feministischen Notfallplan entwickelt. Wie kam es zu der Idee?
Am 8. März haben wir die größte Demo in der Geschichte Chiles organisiert. Allein in Santiago waren wir zwei Millionen Menschen. Das ist wichtig, um sich klar zu machen, aus welcher Position wir diese möglichen Alternativen entwickeln und die Verantwortung, die wir dafür übernommen haben. Die Demo, die ein feministischer Generalstreik war, hatte drei zentrale Themen:

Zuerst die Idee der primera línea (erste Reihe der Demonstrationen, Anm. d. Red.) gegen den Staatsterrorismus. Die primera línea ist ein Puffer gegen die Polizeirepression. Ihre Kriminalisierung ist etwas sehr Mächtiges. Die Konfrontation, der direkte Kampf wurde von den sozialen Bewegungen eingefordert.

Die zweite Idee war die des Lebens als politisches Problem. In Chile haben wir den Feminismus in seiner Vielfalt aufgebaut, mit der Diversität unserer Körper, von dort aus, woher wir kommen. Für den Streik gibt es Sprecherinnen von Umweltbewegungen, aus dem Bildungssektor, dem Kampf der Mapuche, Transfrauen, Migrantinnen, Opfer von Polizeigewalt, die ihre Augen verloren haben.

Und drittens die Idee der Prekarisierung des Lebens. Am 8. März haben wir den Aufstand feministisch wiedereröffnet. Der Feminismus kann das schaffen. Ein paar Tage danach kam die Quarantäne. Ein Teil der Aufgaben des Notfallplans hat mit diesen drei direkten Verantwortungen zu tun.

Worum geht es in dem Plan genau?
Der Plan hat vier grobe Linien.

Die erste besteht im Aufbau von Sorgenetzwerken in den Nachbarschaften. Wir dürfen die vielen asambleas, die sich gegründet haben, jetzt nicht fallenlassen. Wir müssen vermeiden, dass die physische Distanz in soziale Isolierung übergeht.

Die zweite Linie verfolgt den Aufbau einer feministischen Vernetzung gegen patriarchale Gewalt. In Kürze starten wir dazu eine Kampagne. Wir wollen nicht nur die staatlichen Antworten, sondern vor allem die der sozialen Bewegungen in den Mittelpunkt stellen. Das schließt auch Formen der Gewalt ein, die der Staat nicht als politische Probleme sieht.

Drittens gibt es Maßnahmen, die wir „unsere Sorge gegen eure Profite“ genannt haben. Wenn gesellschaftliche Rechte mehr und mehr privatisiert werden, wie wir es in Chile erleben, werden sehr schnell Dinge zu Privilegien erklärt, die in Wirklichkeit fundamentale Rechte sind: ein gesicherter Arbeitsplatz, gesundheitliche und hygienische Bedingungen, der Zugang zu Wasser. Es gibt komplette Nachbarschaften ohne fließendes Wasser. Wie wäscht man sich da die Hände? Die Regierung versteht Sorge als individuelle Aufgabe und nicht im transformatorischen Sinn. Doch Sorge muss kollektiv gedacht werden, es ist Arbeit, die organisiert und sozialisiert werden muss.

Viertens braucht es ein radikales politisches Vorstellungsvermögen: Wie stellen wir uns Aktionen in der Krise vor? Normalerweise machen wir Demos, Straßenblockaden, Kochtopfproteste (cacerolazos). Aber im Lockdown? Jetzt müssen wir bedenken, dass der öffentliche Raum eingeschränkt ist und dass es Menschen gibt, die nicht in Quarantäne sein können, weil sie arbeiten müssen. Derzeit gibt es so viele Kündigungen, dass es schwierig ist, auf dem Arbeitsplatz überhaupt Forderungen zu stellen oder zu protestieren. Deswegen rufen wir zum Streik für das Leben auf.

Lauter Protest für die Würde Mit dem Kochtopf in der Hand (Foto: FM La Tribu)

Was wollt ihr bestreiken und wen ruft ihr dazu auf, Arbeiten niederzulegen?
Dieser Streik ist ein produktiver Streik, da die reproduktive Arbeit und Sorgearbeit nicht stillsteht. Es ist also mehr eine Unterbrechung nicht nur im produktiven Sinne der Arbeit, sondern auch in den Vierteln. Gerade arbeiten wir zusammen mit den asambleas, mit den organisierten Oberstufenschüler*innen, denen, die für die Befreiung von politischen Gefangenen kämpfen, Gesundheitsbewegungen und queeren Organisationen. Ein solches Netz ist erst durch den Aufstand möglich geworden. Wir haben Aktionen in sozialen Netzwerken organisiert, Kochtopfproteste von zu Hause aus und Nachrichten in die Fenster und Arbeitsstellen gehängt, damit dort minimale Hygienestandards gewährleistet werden. Während des Aufstandes gingen wir immer freitags auf die Plaza de la Dignidad („Platz der Würde“, ehemals Plaza Italia und liegt im Zentrum von Santiago, siehe LN 547, Anm.d.Red.). Würdevolle Zustände zu fordern bedeutet nicht nur „Quarantäne jetzt” zu sagen, sondern auch die Bedingungen dafür zu schaffen. Die Freitage sind noch immer die Tage der Demonstrationen, die Freitage für das Leben und die Freitage für die Würde.

An wen richtet sich der Notfallplan?
In erster Linie soll der Plan kollektive Aktionen auslösen. Er dient auch uns selbst zur Orientierung. Wir suchen in unseren Nachbarschaften Strategien, um die gegenseitige Unterstützung und kollektive Sorgearbeit in der eigenen Umgebung anzustoßen. Wir haben es geschafft, dieses Netzwerk stetig zu vergrößern. Trotz aller Schwierigkeiten, die jetzt auf uns zukommen, wollen wir nicht das verlieren, was uns während des Aufstands vereint hat. Auch die Kämpfe gegen die Straflosigkeit und politische Haft sind immer noch aktuell. In den Versammlungen wird eine neue politische Stimme geschaffen.

Die asambleas sind sozialer Kitt, den es in Chile nicht mehr gab, seitdem die Diktatur und die Neoliberalisierung in den 90ern dieses Geflecht zerstört hatte. Wie werden nun diese asambleas zu Versammlungen von kollektiver Sorge? Als Feministinnen hinterfragen wir immer die Unterscheidung des Öffentlichen und des Privaten. Mit welchen Strategien können wir Sorgearbeit kollektivieren? Zum Beispiel, indem wir das Einkaufen, die Versorgung der Alten und Kinder oder die Beschaffung von Medikamenten gemeinsam organisieren. Wir wollen aus den asambleas Instanzen gegen die Bedrohungen machen, denen wir gegenüberstehen. Virtuell ist das schwierig, aufrechtzuerhalten. Die wichtigste Aufgabe ist, zu verhindern, dass wir uns wieder verlieren, jetzt, da wir uns gefunden haben.

Wo lang führt der Weg aus der Krise?
Ich komme immer wieder zum Aufstand zurück, weil es für uns sehr wichtig ist, diese Kontinuität aufzuzeigen. Wir sehen uns heute global mit einer Situation konfrontiert, in der es kein Zurück gibt. Wir können diese Phase nicht einklammern oder zu einem Davor zurückkehren. Während des Aufstands haben wir gesagt: Die Normalität war schon immer das Problem. Der Notfallplan greift das auf. Wir müssen eine eigene Exitstrategie für diese Pandemie herausarbeiten und verbreiten, eine Strategie, die das Leben der Mehrheit der Bevölkerung ins Zentrum stellt, ganz besonders das Leben der am meisten Prekarisierten. Dafür müssen wir Alternativen aufbauen, die unsere langjährigen Formen der Produktion und Akkumulation radikal verändern. Im Notfallplan findet sich der tiefgreifende und radikale Wunsch wieder, dass wir ab jetzt die Bedingungen und Regeln verändern müssen – nicht nur in Chile, denn das hier ist eine globale Krise. Wir müssen die Art, wie sich der neoliberale Kapitalismus in diesen Jahren manifestiert hat, verändern. Am Ende verfolgt der Plan die Strategie, aus dem Aufstand heraus eine internationale feministische Zusammenarbeit zu schaffen, die grenzüberschreitend ist, einen feminismo transfronterizo (zum ersten grenzüberschreitenden Aufruf an diesem 8.März siehe LN 549, Anm.d.Red.). Dort sprechen wir mit feministischen Organisationen aus der ganzen Welt, vor allem aber aus Lateinamerika, über mögliche Formen der Organisierung, die es uns erlauben, gemeinsam aus dieser Krise herauszugehen, das System zu verändern und das Leben zu transformieren. Noch vor wenigen Tagen war die Frage, welche Möglichkeiten der Internationalismus dafür hat. Heute sehen wir, dass der Feminismus das stärkste Werkzeug ist, uns in diesem Moment zu organisieren.

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