Kolumbien | Nummer 286 - April 1998

“Wir mußten alles zurücklassen“

Über eine Million Menschen sind in Kolumbien auf der Flucht

Stündlich werden in Kolumbien vier Familien vertrieben. Täglich fallen zehn Personen der politischen Gewalt zum Opfer, so der errechnete Durchschnitt. Doch was sagt das aus über die Situation der über eine Million internen Flüchtlinge und all derer, gegen die die Paramilitärs und die staatliche Armee Krieg führen? Während das Phänomen der Vertreibung in Kolumbien der Weltöffentlichkeit weitgehend unbekannt ist, suchen
Tausende Opfer nach neuen Lebensperspektiven.

María Margarita Daza, Tom Kucharz

Früher erlebten wir keine Gewalt. Wir waren arme Leute, aber wir haben von der Landwirtschaft, vom Fischfang und von der Viehzucht gelebt. Ausreichend Werkzeuge und medizinische Versorgung hatten wir. Gekauft haben wir das, was benötigt wurde.“ So beschreiben Familien aus 49 Gemeinden der Region Medio y Bajo Atrato Chocoano y Antioqueño ihre Vergangenheit. Vor zwei Jahren begann dort eine ökonomische Blockade durch paramilitärische Gruppen, so daß die Menschen keine Möglichkeit mehr hatten, weiter Handel zu treiben. Die Massaker durch Paramilitärs und Operationen der Armee, wie massive Bombardements dieses Gebietes, führten dazu, daß alle dort Lebenden in den Urwald flüchteten. „Wir mußten verschwinden, mit unseren Kindern, und alles zurücklassen. Frauen mit Babies, die nicht sofort fliehen konnten, wurden mit Waffengewalt davongejagt. Frauen wurden vergewaltigt, ihre Genitalien verstümmelt, die Brüste abgeschnitten…“ – so die Frauenorganisation La Ruta Pacífica de Las Mujeres. Selbst die Gewaltstatistik der lokalen Behörden vom Mai 1996 bestätigt, daß die Mehrzahl der Frauen in der Region Urabá Antioqueño vergewaltigt wurden.

Zwei Wochen ohne Essen

In den Bergen konnten die Vertriebenen jedoch nicht lange überleben, also mußten sie zum nächstgelegenen Dorf ziehen. „Wir mußten manchmal mehr als zwei Wochen ununterbrochen laufen, weil die Armee hinter uns her war und weiterhin auf uns schoß. Viele von uns haben die Strapazen nicht überlebt.“ Allein 3.000 Menschen aus den erwähnten 49 Gemeinden flüchteten nach Mutatá (Bezirk Urabá). Eine Vertreterin von La Ruta Pacífica de Las Mujeres vergleicht die Zustände im Flüchtlingslager Pavarando (Mutatá) mit denen eines Konzentrationslagers. Das Flüchtlingslager ist von der Armee eingekreist – niemand kann rausgehen, arbeiten oder dergleichen. Nahrung von Bienestar Familiar, der staatlichen Sozialversorgung, erhalten nur schwangere Frauen, Kinder und alte Leute. Alle anderen müssen manchmal zwei Wochen ohne Essen ausharren. Die Regierung schaut weg, als gäbe es keine Vertriebenen. Vor kurzer Zeit kamen noch einmal 600 bis 700 Vertriebene – die meisten von ihnen Frauen mit Kindern – ins Lager nach Mutatá. Repression und direkte Androhung von Gewalt durch die Armee sind ständig präsent. „Im Dezember wurde ein Mann von Soldaten aus dem Lager geführt, gefoltert und gezwungen wegzulaufen, mit der Aufforderung zu schweigen, ansonsten würde seine Frau bald Witwe sein.“
Solche Aufforderungen muß man in Kolumbien sehr ernst nehmen. Denn wer offen sagt, daß die Ursache für die Vertreibungen diejenige politische Gewalt ist, die von den Paramilitärs ausgeht und von staatlicher Seite unterstützt wird, oder wer gar versucht, die Zustände zu verändern und sich beispielsweise für die Vertriebenen einsetzt, der hat mit Gefängnis, Folter, Exil oder Mord zu rechnen. Der Staat läßt unter dem Vorwand der Guerillabekämpfung Menschen aus dem Weg schaffen, die unbequem werden könnten, wenn es darum geht, die eigene Macht und den Wohlstand der politischen und wirtschaftlichen Elite zu sichern.
Die massiven Abwanderungen sind laut eines Berichtes der „Gruppe zur Unterstützung der Organisationen der internen Vertriebenen“ hauptsächlich auf die Intensivierung des bewaffneten Konflikts zwischen Armee, paramilitärischen Gruppen und der Guerilla zurückzuführen, in den zunehmend die Zivilbevölkerung hineingezogen wird.
Die Einrichtung von „Sonderzonen für öffentliche Ordnung“, die in großen Teilen des Landes existieren, ordnet die Zivilbehörden den Militärkommandos unter, wodurch bürgerliche und politische Rechte stark eingeschränkt und somit die Bevölkerung den Repressalien von Militär und Paramilitärs schutzlos ausgeliefert sind.
Ein weiterer Grund ist der seit Jahren anhaltende Drogenkrieg in Form einer meist militärisch betriebenen Rauschgiftbekämpfung, bei der die Coca- und Schlafmohnpflanzer wie militärische Gegner behandelt werden. Mit der chemischen und mechanischen Vernichtung der Anbaufelder wird die Bevölkerung gezwungen, neue Gebiete zu besiedeln. Dabei dringen die Menschen immer weiter in den Regenwald vor, was dessen Zerstörung vorantreibt.

Das paramilitärische Projekt

Die kolumbianische Pazifikküste ist eine der ärmsten Regionen des Landes. Dieses Gebiet soll zukünftig für Megaprojekte herhalten, wie dem Bau des „Interozeanischen Kanals“, zur Erschließung von Rohstoffquellen (Erdöl, Uran u.a.) sowie zur Nutzung der enormen Genreservoirs des Tapón del Darién (Edelhölzer, Rohstoffe für die Gentechnologie, reiche Fischbestände). Die schwarze und indigene Bevölkerung dieser Region hat in diesen Plänen keinen Platz. „Wenn man die nationalen und internationalen Interessen an diesem Gebiet in Betracht zieht, so versteht man, warum wegen dieser Interessen die jetzige Bevölkerung ermordet und vertrieben wird. Man begreift, warum die Wirtschaftsinteressen sich auf dieses Gebiet konzentrieren und der Paramilitarismus hierher vordringt“, so die örtlichen Organisationen auf die Frage nach den Gründen der gewaltsamen Vertreibungen.
Laut kolumbianischen Sozialwissenschaftlern bewegt sich das paramilitärische Projekt in seiner 15jährigen Entwicklung innerhalb eines autoritären Modells eines agrarkapitalistischen Modernisierungsprozesses, das mehrere Etappen umfaßt. Zuerst dringen die Paramilitärs in ein Gebiet ein und „reinigen“ es von der Guerilla und deren sozialer Basis mit militärischem Terror und Vertreibungen. Dann beginnt ein Prozeß der Bodenkonzentration in den Händen von Großgrundbesitzern, Drogenbaronen und multinationalen Unternehmen, die die Infrastruktur und die öffentlichen Dienstleistungen modernisieren. In einigen Gebieten wird das Land unter 50 Prozent des eigentlichen Wertes verkauft, so daß dieses fast gratis an neue Eigentümer übergeht.
Die nächste Phase stützt sich auf Sozialmaßnahmen und Landverteilungen an SiedlerInnen, um das Projekt zu konsolidieren. Bei diesen Personen handelt es sich oft um Angehörige paramilitärischer Gruppen, die für ihre Dienste mit billig abgegebenem oder geschenktem Land von ihren militärischen Chefs belohnt werden. Nach dem Aufbau von Selbstverteidigungsgruppen gilt die Kontrolle dieses Gebietes als abgesichert.
Die letzte Etappe ist die Legitimation. Mit der brutalen Umstrukturierung für eine kapitalistische Expansion auf dem Land werden die Paramilitärs praktisch überflüssig und ziehen in das nächste Gebiet. Nun steht das Land dem Privatsektor nach den Anforderungen des internationalen Marktes und der neoliberalen Wirtschaftsentwicklung zur Verfügung, ohne daß Gewerkschaften oder linke Bewegungen die Pläne von Unternehmen behindern können.
Die Zahl interner Flüchtlinge – inzwischen über eine Million (etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung) – hat ein Ausmaß wie in Ruanda oder Burundi angenommen. Aber mit der kolumbianischen Regierung lassen sich gute Geschäfte machen, und so rügt man sie wegen „angeblicher“ Verbrechen nicht. Obwohl gerade jene internen Vertriebenen Schutz und Unterstützung bräuchten, überläßt die Weltöffentlichkeit sie ihrem Schicksal – einer brutalen Logik von Gewaltherrschaft, ausgeführt von den Paramilitärs, deren erklärtes Ziel es ist, Aufstände und Widerständler wie Guerillaorganisationen und Oppositionsgruppen zu bekämpfen, sämtliche Basisorganisationen und -projekte zu eliminieren und den Plänen des Staates im Sinne des „Fortschritts und der Entwicklung“ einen „sauberen Platz“ zu hinterlassen. Eine brutale Logik, die von Seiten der USA technisch und finanziell unterstützt, von der kolumbianischen Armee forciert und gedeckt und von der staatlichen Bürokratie durch ihr Leugnen getragen wird.

“Operación returno“

Bis jetzt konnten Pläne zur Rückkehr der Vertriebenen nicht umgesetzt werden, weil es keine Garantien seitens der Regierung gibt, daß die Armee die Zivilbevölkerung nicht angreift. Alle Versuche, neue Gemeinden für die Vertriebenen zu errichten, wurden von den Soldaten im Keim erstickt. Die Vertreterin von La Ruta Pacífica de Las Mujeres weist auf ein Dokument hin, in dem die Vertriebenen ihre Forderungen darstellen: „(…) Wir wollen keine Gewalt mehr – weder den offenen Krieg, noch die psychische Gewalt. (…) Wir wollen eine Garantie dafür, daß ab sofort internationale Beobachter und Menschenrechtsorganisationen zum Schutz aller Menschen zugelassen werden und daß NGOs wie zum Beispiel das Internationale Rote Kreuz sowie Diözesen und internationale Beobachter die Rückführung der Vertriebenen begleiten. (…) In unseren Regionen wollen wir nach der Rückkehr frei arbeiten, Landwirtschaft betreiben, fischen, Tiere halten sowie materielle und finanzielle Entschädigung bekommen. (…) Wir benötigen psychologische Unterstützung, um über die Schmerzen, Traurigkeit und Angst zu sprechen. Wir wollen die Möglichkeit haben, der ganzen Welt bekannnt zu machen, was mit uns passiert.“


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