“WIR SIND DIE LUNGE DER NACHBARSCHAFTEN”
In Argentinien legt die Pandemie die strukturelle Ungleichheit offen
Enteignung jetzt! Argentinien ist einer der Hauptgläubiger des klammen Agrarunternehmens Vicentin
(Foto: Organización Corriente Clasista Renee Salamanca)
Alles ist still in der Tiefe der Peripherie von Buenos Aires. Die normalerweise belebten Straßen sind wie ausgestorben. Nur einige Lebensmittelgeschäfte haben geöffnet, aber sie verkaufen aus den Fenstern heraus oder von improvisierten Theken in den Türeingängen. Keine Cumbia-Musik ist zu hören, ein unverkennbares Signal, dass sich die Stimmung in der Bevölkerung verändert hat.
Nach mehr als 100 Tagen Quarantäne, spürt man die Müdigkeit und die Verzweiflung von Tausenden, die nicht wissen, was am nächsten Tag passieren wird. Die Mehrzahl der Corona-Infektionen (93 Prozent) konzentriert sich auf die Bundeshauptstadt und die Provinz Buenos Aires, zwei dicht besiedelte Regionen.
Für Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, stellt diese neue Situation eine immense Belastung dar. „Bleib zu Hause“ war das Motto der Kampagne, die von der Regierung initiiert wurde. Wer aber sind diejenigen, die tatsächlich zu Hause bleiben können? In einer Wirtschaft, die nach vier Jahren neoliberaler Politik unter der Vorgängerregierung von Mauricio Macri quasi am Boden liegt. Mehr als drei Millionen Menschen sind auf ihre Arbeit im informellen Sektor angewiesen.
In vielen informellen Siedlungen in der Peripherie von Buenos Aires, aber auch in der Hauptstadt selbst, gibt es große Infrastrukturmängel, häufig gibt es kein Leitungswasser und keine Kanalisation. Viele Familien leben auf engem Raum, was im Krankheitsfall eine Isolierung zu Hause unmöglich macht. Die große Sorge, dass sich die Pandemie in diesen Armenvierteln rasch ausbreitet, scheint sich zu bewahrheiten. Darüber hinaus durchlebte Argentinien in den letzten Jahren regelmäßig eine weitere Epidemie: Das von Mücken übertragene Denguefieber.
Die in Argentinien seit vielen Jahren strukturell bedingte Prekarität, wird historisch von den sozialen Bewegungen bekämpft. Territoriale Organisationen haben in Argentinien besonders seit Ende der 90er Jahre eine enorme Bedeutung. Volksküchen, die Verteilung von Lebensmitteln und Spendenkampagnen sind in solchen Krisenmomenten entscheidend für das Überleben in den barrios, wo staatliche Hilfe nicht ausreichend oder erst sehr verspätet ankommt. „Seit vier Jahren organisieren wir uns in der Vereinigung der Bauern von Varela. Jetzt, in der Zeit der Pandemie, spenden wir Gemüse an unsere compañeros in den Suppenküchen”, erzählen Horacio Navarro und seine Genoss*innen, welche die Bauerngewerkschaft Florencio Varela vertreten. Die Vereinigung setzt sich hauptsächlich aus bolivianischen Migrant*innen zusammen, die eine große Gemeinschaft in einer ländlich geprägten Region im Süden der Provinz Buenos Aires bilden.
Mehr als drei Millionen Menschen arbeiten im informellen Sektor
„Politisch gesehen gibt die Gesellschaft vor, dass man schwächer ist, als man ist. (…) Ich verlange nicht mehr als meinen Anteil. Manchmal will ich mich nicht aufregen, wenn ich für ein Recht schreie oder trete, aber ich habe das Gefühl, dass es nicht falsch ist, es zu tun, wenn es notwendig ist. Heute verstehe ich, dass man nicht gehört wird, wenn man nicht rausgeht und schreit.“, erzählte Ramona Medina in einem Interview mit der Zeitschrift La Garganta Poderosa. Ramona war Sozialreferentin der Villa 31 (Padre Mugica). Das Viertel ist ein informeller Stadtteil im Herzen von Buenos Aires und aktuell einer der Brennpunkte der Infektionen mit dem Coronavirus. Dort leben rund 60.000 Menschen in sehr prekären Verhältnissen mit fehlender Infrastruktur und vielen Tagen ohne Zugang zu Wasser. Ramona war auch das Gesicht des Protests gegen den Wassermangel inmitten der Corona-Pandemie. Die Hauptstadt ist eine Bastion der vorherigen Macri-Regierungskoalition und wird auch von ihr regiert. Entgegen aller Warnungen vor den katastrophalen Folgen eines Ausbruchs der Pandemie an diesem dicht besiedelten Ort, wurde nichts unternommen, stattdessen die ständige Forderung nach ausreichend hygienischen Bedingungen und Wasserversorgung ignoriert. Ramona starb am 17. Mai an den Folgen des Coronavirus. Ihr Tod wurde bekannt, weil sie einige Tage zuvor im Fernsehen zu sehen war, um von der Hauptstadtregierung eine Lösung für die prekäre Situation zu fordern und weil viele Menschen der Villa 31 seit Jahren politisch aktiv sind und Strukturen geschaffen haben, um ihre Lage sichtbar zu machen. Nach Ramona folgten weitere Tote unter den Sozialreferent*innen, die in diesem ungleichen Kampf gegen das Virus an vorderster Front standen, indem sie in Suppenküchen kochten oder Lebensmittel verteilten.
Die Frauen sind die treibende Kraft der Selbsthilfe
Auf dem Höhepunkt der Pandemie mit Hunderten von Infizierten in den ärmsten Vierteln von Buenos Aires veröffentlichten konservative Kreise einen offenen Brief mit dem Titel „Die Demokratie ist in Gefahr“ und prangerten die „infectocracia“ (Diktatur der Infektiologen) der Regierung an. Interessanterweise sind es dieselben Intellektuellen, die für den freien Markt und minimale staatliche Interventionen in Bereichen wie Bildung, Gesundheit oder Wohnen eintraten und somit die Katastrophe, insbesondere im Gesundheitssystem, hervorgerufen haben: Die neoliberale Politik hat Millionen in die Armut getrieben. Sie haben keinen Zugang zu Gesundheit, Bildung und Arbeit.
Häufig gibt es kein Leitungswasser und keine Kanalisation
Der Schritt der Regierung löste ein großes Spektakel in allen Medien aus, die mit der ehemaligen Macri-Regierung in Verbindung stehen. Sie starteten eine Kampagne, in der sie der Regierung von Fernández Populismus und Kommunismus vorwarfen. Die Ankündigung der Verstaatlichung des Unternehmens traf ins Herz eines Landes mit einem starken Agrarexportmodell, das sich in den Händen von Oligopolisten befindet, die das Eindringen ausländischen Kapitals in den vergangenen Jahrzehnten noch begünstigt haben. Die argentinische Verfassung sieht eine Enteignung zugunsten öffentlicher Versorgungsleistungen gegen Entschädigung vor. Einer der Hauptgläubiger von „Vicentin“ ist der argentinische Staat (Es wird also günstiger, weil der Staat sich selbst entschädigt, Anm. d. Red.). Der Fall „Vicentin” wäre in einem Post-Pandemie-Szenario sehr nützlich. Die Enteignung würde einen Präzedenzfall auf dem Weg zur Ernährungssouveränität und zur Lösung des Problems des Hungers in Argentinien darstellen. Für die nahe Zukunft wird prognostiziert, dass 52,2 Prozent der Haushalte von Armut betroffen sein werden.
Die entscheidende Frage ist, wer für die Krise bezahlt. Werden es die großen Unternehmen wie „Vicentin”, internationale Oligopole und Großgrundbesitzer sein, die von den vier Jahren der Vorgängerregierung Mauricio Macris profitiert haben? Das ist die große Diskussion und die Schlacht, die jetzt in Argentinien geschlagen wird.
Zu Beginn der Pandemie handelte die Regierung schnell und ergriff konkrete und restriktive Maßnahmen. Die Wachstumskurve der Infektionen flachte ab. Die konservative Opposition nutzt die Situation, um die neue Regierung von Alberto Fernández zu schwächen. Auch seitens der Märkte und von Wirtschaftsvertreter*innen geht ein sehr großer Druck aus, die obligatorische Quarantäne zu beenden. Zudem stellen sie die Maßnahmen der Regierung in Frage. Der Druck zahlt sich aus, die Regierung scheint geneigt, auf eine Steuer auf große Vermögen zu verzichten.
Der Fall „Vicentin” wäre in einem Post-Pandemie-Szenario sehr nützlich
Das Virus diskriminiert nicht, aber der Neoliberalismus tut es. Die prekären Voraussetzungen, die schon vor dem Ausbruch der Pandemie geschaffen wurden, sorgen jetzt dafür, dass Orte wie die Villa 31 zum Brennpunkt der Pandemie in Argentinien werden.