“Wir sind keine Politiker, die Kunst spielen”
Interview mit José Chamalé und Fernando López
LN: Als erstes natürlich die Frage: Was ist “das neue guatemaltekische Lied?”
Fernando: Am besten, ich erkläre das mal an meinem Beispiel: Ich bin eigentlich zufällig dazu gekommen. Zuerst waren da die südamerikanischen Vorbilder: Victor Jara, Violeta Parra, später die kubanischen Trovadores Silvio Rodríguez und Pablo Milanés und die Nicaraguaner, Luis Enrique und Carlos Mejía Godoy. Und Mitte der 70er Jahre hatte die Studentenbewegung in Guatemala einen großen Aufschwung. Also gründeten wir Kulturgruppen zu ihrer Unterstützung, und ich begann wie viele an der Universität zur Gitarre zu singen. Ich erinnere mich an eine berühmte Gruppe, die kopierte den Kubaner Carlos Puebla und sang: “Se acabó la diversión. Llegó el comandante y mandó a parar, param, param, param!” (Schluß mit dem Vergnügen, der Kommandant ist aufgetaucht und hat Befehl gegeben aufzuhören).
José: Das war die erste Etappe des “neuen Liedes”. Wir imitierten die lateinamerikanischen Vorbilder, und die Lieder waren reine Pamphlete, reine Propaganda. Anfang der 80er Jahre zerschlug das Militär mit der Aufstandskampagne die Volks- und Guerillabewegung. Die meisten Liedermacher mußten ins Exil gehen. Seit einige von uns Mitte der 80er Jahre wieder zurückgekehrt sind, wollen wir musikalisch und politisch unabhängig sein. Trotz der politischen Veränderungen gibt es in der Volksbewegung immer noch die gleiche Engstirnigkeit wie früher. Die linken Organisationen haben uns benutzt, und das hat die Entwicklung des Liedes in Guatemala gebremst. Wir wurden so lange von der Linken gegängelt, daß wir jetzt unsere eigene Bewegung aufbauen wollen: eine Interessenvertretung der Künstler als Arbeiter. Wir wollen nicht mehr nur spielen, um die Leute zu einer politischen Veranstaltung zusammenzuholen und uns die Seele aus dem Leib singen ohne Mikrofon und Verstärker. Wir wollen bezahlt werden und die Anerkennung unserer intellektuellen Arbeit. Auch wir wollen die Gesellschaft verändern, aber nicht hinter Parteifahnen. Wir sind Künstler, nicht Politiker, die ein bißchen Kunst spielen. Die Kunst hat eigene Kriterien und eine eigene Ästhetik und das ist eine große Chance, denn die Leute sind den immergleichen politischen Diskurs leid.
Was bedeutet die musikalische Unabhängigkeit, von der Du sprachst?
Fernando: Sie bedeutet, unsere guatemaltekischen und individuellen Wurzeln zu finden. Musikalisch heißt das, traditionelle guatemaltekische Rhythmen, Harmonien und Instrumente einzusetzen, ohne folkloristisch mit ihnen umzugehen. Wir haben hier den Son Guatemalteco, den Reggae und die Salsa. Wir wollen zeigen, daß die Marimba und indianische Percussioninstrumente keine Instrumente der Großväter sind. Wir spielen die Marimba auch in einer Rockballade. Über die Texte kann José etwas sagen.
José: Wir schreiben eigene Texte, früher haben wir bereits vorhandene vertont. Die Themen sind urbane, weil wir in der Stadt lebende Ladinos sind. Wir singen über Straßenkinder, Bettler, über Homosexualität. Manchmal werden wir kritisiert, weil wir nicht über die Indígenas singen. Aber wir stehen zu unserer Identität. Indígenas können in unseren Liedern ein Symbol für Veränderungen sehen, auch wenn sie ihre eigene Lebensweise nicht darin wiederfinden. Wir nehmen Themen aus den alten Mythen der Maya auf. Aber wir wollen uns weder opportunistisch ihrer Kultur bedienen noch sie kopieren, sondern in den Liedern unsere Gesellschaft individuell verarbeiten.
Ich finde es immer wieder erstaunlich, mit welchem Stolz ihr Guatemalteken sagt: “Ich bin Künstler”. Wenn Deutsche das sagen, klingt es anders. Man sagt eher: “Ich spiele Klavier”, oder “Ich male”, aber bei Euch klingt es wie ein Lebenskonzept. Vielleicht ist die Auffassung hier individualistischer.
José: Ich glaube, das ist durch unterschiedliche politische Erfahrungen geprägt. Ich weiß nicht, wie sich die Künstler der Elite verstehen; ich kenne sie nicht, obwohl ich sie respektiere. Die Volkskünstler (artistas populares) mußten immer dagegen kämpfen, hinter die politische Sache zurückgestellt zu werden. Auch der Solidaritätsbewegung haben wir sagen müssen: Wir sind keine Politiker. Und das haben sie manchmal falsch verstanden. Aber wenn Du mich nach Europa einlädst, wenn Du ein Interview mit mir machst, dann mach es über meine Arbeit! Nicht, weil ich irgendeiner linken Organisation angehöre. Deswegen sagen wir mit solchem Nachdruck: “Ich bin Künstler”. Ich kann Dir Informationen über Guatemala geben, aber ich will von meiner Arbeit ausgehend über Guatemala reden. Anfang der 80er Jahre, als der Krieg tobte, da war es egal, ob ein Kirchenmensch oder Gewerkschafter ins Ausland reiste, er wurde nach dem Krieg gefragt. Und ich glaube, hier behauptete jeder, er sei Comandante der Guerilla und lieferte die gefragten politischen Analysen.
Fernando: Wenn Du Gelegenheit hattest, guatemaltekische Gewerkschafter zu interviewen, wirst Du gemerkt haben, daß auch sie sich so definieren: “Ich bin Gewerkschafter!”. Es gibt einfach unterschiedliche Rollen innerhalb einer politischen Bewegung. Auch ich habe wegen der Ungerechtigkeit angefangen zu singen, bin deswegen Künstler geworden, aber meine Rolle ist eben die des Künstlers.
Es gibt einen Unterschied zu Deutschland: Wenn hier jemand sagt: Ich spiele Klavier oder ich male, dann sagen sie das vor dem Hintergrund der Musikschulen, die jederman besuchen kann. Hier arbeite ich sechs Monate hart in einer Cafeteria und kann mir ein Musikinstrument kaufen, in Guatemala nicht. Bisher heißt Künstler sein bei uns, fast zusammenzubrechen, auf ein unwürdiges Niveau herabzufallen, damit die Leute dich als Künstler ernstnehmen und sagen: “Wie konsequent!”
José: “Geh bis zum Tod, damit sie dir glauben!”
Fernando: Aber die Jünger der Märtyrer müssen verschwinden! Wir wollen ein würdigeres Konzept von “Künstler”, auch wenn wir unser Geld mit etwas anderem verdienen müssen.
Welche Erfahrungen habt Ihr bei Euren Konzerten hier gesammelt?
Fernando: Das waren sehr eindringliche Erfahrungen. Wir sind mit unserem sozialen und künstlerischen Anliegen hierhergekommen, das in Guatemala große Anerkennung genießt. Aber hier ist der gesellschaftliche Kontext ein anderer, und die Leute verstehen unsere Texte nicht. So wurden wir auf einmal nur noch an ästhetischen Kriterien gemessen. Vielleicht kommen auch kulturelle Gründe hinzu, aber in Guatemala ist der Kontakt zum Publikum wärmer, sie klatschen und schreien und pfeifen. Das war hier ein großer Kontrast.
José: Diese Tournee war ein Traum und eine ästhetische Herausforderung für uns. Wir wollten keinen Applaus aus politischer Solidarität. Früher hätte es Applaus gegeben, weil der Kampf um die Revolution in Guatemala brannte. Aber wir dachten uns vorher: Wenn sie nicht klatschen, dann taugen wir hier nichts, dann funktioniert der Kontext nicht.
In Eurem Konzert bemerkte ich zweierlei: Erstens das ernste Publikum und zweitens mein unwiderstehliches Bedürfnis, Euch in Guatemala singen zu hören. Eben wegen des Kontextes. Und ich begann über politische Lieder nachzudenken und darüber, daß sie in Deutschland eine sehr widersprüchliche Rolle spielen. Hier haben auch die Nazis politische Lieder und Volkslieder benutzt, um die Herzen und Köpfe leichter zu fangen, als mit politischen Parolen. Ich denke, daß es seither in Deutschland keine leicht zugänglichen, schönen, politischen Lieder mehr geben kann, sondern daß sie mit inhaltlichen und musikalischen Brüchen arbeiten müssen, um Denkprozesse anzuregen. Das ging mir bei Eurem Konzert durch den Kopf. Nicht nur, daß der guatemaltekische Kontext fehlte, sondern Eure Lieder prallten auch noch auf den spezifisch deutschen Kontext.
Fernando: Jetzt wird mir einiges klar. Aber ich fühle mich darin bestärkt, daß es unterschiedliche Realitäten sind. Daß unsere Lieder nur hier nichts taugen, wenn die Leute hier nicht klatschen. Jemand erzählte uns, daß die Utopien hier vorbei sind. Da wurde uns klar, daß Utopien für uns sich ständig erneuernde Ideale sind. Sie sind das Licht am Ende des Tunnels, weswegen wir weitermachen. Hier war es ein Ziel, das erreicht wurde oder nicht, und jetzt ist keine Hoffnung mehr und Schluß. Aber das geht bei uns nicht. Wir müssen mehr vom Leben erwarten.
Ein weiterer grundlegender Unterschied ist die Auffassung von Volk. In Deutschland ist “Volk” ein rechtes Wort. Im Augenblick wird es sogar wieder mit faschistischen Konnotationen benutzt. In Guatemala glaubt die Linke an das Volk, und wenn Ihr von einem Wandel in Guatemala singt, dann singt ihr mit einer Vision von Eurem Volk, die es hier nicht gibt. Auch das ist etwas sehr Deutsches, denn in anderen europäischen Ländern gibt es andere geschichtliche Konzepte von Nationalismus oder Volk.
Fernando: Dann hoffe ich, daß unsere Lieder einigen Deutschen klarmachen, daß ihr Konzept von Volk relativ ist. Bei uns ist Volk beinahe ein verbotenes Wort! Wir benutzen es mit dem Gedanken an soziale Veränderungen. Und die Herrschenden wissen, daß das Volk das Volk ist.
José: Aber natürlich diskutieren auch wir darüber. Denn manche setzen bei uns “Volk” mit “populär” gleich. Aber die Lieder in den Radios sind auch populär. Dann gibt es einige Radikale, die uns sagen: Deine Texte haben nichts mit der Realität des Volkes zu tun, sie sagen nichts.
Fernando: Was ich für mich privat komponiere, kann ich im Augenblick in Guatemala nicht singen. Es wäre zu merkwürdig. Mir gefällt der Existentialismus. Wenn ich damit ankäme, würden die Leute sagen: “Der ist abgehoben!” Für viele der Lieder, die ich 1986 komponiert habe, ist auch jetzt noch der richtige Moment. Es gibt einen Schriftsteller, der uns sagt: “Hört auf, dieses soziale Zeug zu singen, macht Liebeslieder!” Ich habe es ein paar Mal versucht, und peng! merke ich, wie mich die Realität wieder einholt. Auch unser Konzept von Liebe ist nicht individualistisch, sondern Liebe ist ein weiter Begriff von Menschlichkeit. Und außerdem können wir nicht ruhig lieben, wenn über uns der Schatten des Krieges schwebt!
José: Und nun ist Schluß mit dem Interview und ich habe einen Haufen neuer Fragen.