Kirche | Nummer 437 - November 2010

// DOSSIER: GLAUBE HOFFNUNG MACHT

Christliche Kirchen prägen das gesellschaftliche und politische Leben Lateinamerikas

Von LN Redaktion

(Download des gesamten Dossiers)

Foto: Sub Coop

Kleine Altare am Wegesrand, körperteilgroße Kruzifix-Tätowierungen, betende Fußballteams, Gott lobende Staatspräsidenten, mit Heiligenbildern bemalte Busse, Taxis und Lastwagen – leicht finden sich unzählige Beispiele von der Präsenz des christlichen Glaubens im Alltag Lateinamerikas. Im Sprachgebrauch sind Floskeln wie „Gott möge dich segnen“ oder „so Gott es will“ so allgegenwärtig, dass deren religiöser Ursprung schon fast nicht mehr auffällt.

Im vorliegenden Dossier der Lateinamerika Nachrichten soll kritisch hinterfragt werden, wo, wie und warum christliche Religionen in Lateinamerika Einfluss auf politische, gesellschaftliche und auch private Entwicklungen nehmen. Dabei möchten wir sowohl ergründen, wie die (katholische) Kirche so bedeutend wurde und wo sie es heute noch ist, als auch beleuchten, an welchen Stellen andere Akteure aktiv werden und warum. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die zunehmende Bedeutung evangelikaler Kirchen auf dem Subkontinent. Ergänzend gehen wir auch der Frage nach der historischen und aktuellen Bedeutung der Befreiungstheologie nach.

Seit der Eroberung Lateinamerikas durch Spanien und Portugal haben katholische Missionare den christlichen Glauben gepredigt und – teils auch gewaltsam – verbreitet. Zwar konnten indigene Religionen nie gänzlich ausgelöscht werden, doch die Bedeutung des christlichen – noch immer größtenteils katholischen – Glaubens ist bis heute ungleich höher. Die Unabhängigkeit der Länder Lateinamerikas von den Kolonialmächten schwächte die Macht der katholischen Kirche zwar in einigen Ländern, wie beispielsweise in Uruguay, doch sie hat noch immer unter allen Glaubensrichtungen auf dem Subkontinent die größte Anhängerschaft. Ihre Macht hat die katholische Kirche historisch wie auch heute stets sehr unterschiedlich genutzt. War sie während der Militärdiktaturen in einigen Ländern Handlanger der Diktatoren, so bot sie in anderen Ländern oppositionellen Bewegungen Raum und Schutz für den Widerstand. Und während auf der einen Seite vielerorts Bischöfe mit ultra-konservativen Moralvorstellungen Einfluss auf Bildungspolitik und Sexualmoral nahmen und nehmen, so hat auch die Befreiungstheologie ihren Ursprung in Lateinamerika und wirkt dort bis heute fort. Diese zwiespältige Einflussnahme katholischer Institutionen und Gemeinden spiegelt sich bis heute überall in Lateinamerika.

Während die Verflechtung von Kirchenführung und Staatsapparat beispielsweise in Nicaragua höchst kritisch betrachtet werden muss, so leistet an anderen Orten die Kirche oftmals (die einzige) gesellschaftliche und soziale Arbeit gerade für diejenigen Menschen, die in Armut und Ausgrenzung unter den Folgen der neoliberalen Politiken unserer Zeit am meisten leiden. Hier wirkt die Kirche oft nicht nur karitativ sondern auch sinnstiftend.
Diese Unterschiede im gesellschaftlichen Handeln finden sich auch in den Kirchen evangelikaler Glaubensrichtungen wieder. Während ihre teils ausbeuterische und oftmals streng konservative Glaubenspraxis immer wieder in die Kritik gerät, leisten viele Gemeinden Arbeit in Bereichen, die von staatlichen Institutionen längst vergessen wurden.

Das Dossier bietet mit Artikeln zu sehr unterschiedlichen Beispielen der Einflussnahme sowohl katholischer als auch evangelikaler Kirchen einen Einblick in das komplexe Feld der christlichen Religiosität Lateinamerikas.
Für die Bebilderung des Dossiers wurden zwei Fotoreportagen des Kollektivs Cooperativa Sub ausgewählt, die Beispiele der Präsenz des christlichen Glaubens im argentinischen Alltag zeigen. Dabei erheben weder die Artikel- noch die Bildauswahl Anspruch auf Vollständigkeit. Wir möchten mit dem Dossier vielmehr Denkanstöße liefern. Für Informationen und Hintergründe über unsere Artikelauswahl hinaus haben wir am Ende des Dossiers eine Literaturliste zusammengestellt.

Die Fotoreportagen in diesem Dossier
Die ausgewählten Fotoreportagen stammen von dem argentinischen Kollektiv Cooperativa Sub. Die jungen FotografInnen aus Buenos Aires teilen sich neben ihrer Leidenschaft fürs Fotografieren auch ihr Büro, eine Internetseite als Portal für ihre Arbeit und ihre Einnahmen. Cooperativa Sub möchte mehr sein als eine Fotoagentur: „Wir sind Menschen, die an gemeinsamen und individuellen Projekten arbeiten; wir sind Professionelle, die ihre Kontakte austauschen und Freunde, die sich an unserem Arbeitsplatz im Zentrum von Buenos Aires treffen, um ein bisschen mehr zu sein, als all diese Teile zusammen genommen.“
Die erste Reportage zeigt die AnhängerInnen von„Gauchito Gil“, dem „Heiligen der Armen” im Norden Argentiniens. Nach dessen gewaltsamen Tod durch die Polizei in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Provinz Corrientes, breitete sich sein Ruhm als Beschützer der einfachen Leute, der Illegalisierten und Abenteurer durch Mund-zu-Mund-Propaganda rasend schnell aus. Und er wird bis heute verehrt: Jeden 8. Januar versammeln sich im Ort Mercedes 200.000 AnhängerInnen, um Gauchito Gil zu feiern. Die Fotos zeigen, dass die Bewunderung für den Heiligen der Armen unter und auf die Haut geht.
Die folgende Fotostrecke wurde im Gefängnis Nr. 25 in La Plata nahe der argentinischen Hauptstadt aufgenommen. Es ist das einzige evangelikale Gefängnis der Welt. Um im „Paradies unter den argentinischen Knästen“ inhaftiert zu werden, muss man Mitglied einer evangelikalen Gemeinde sein. Heute gibt es in ihr rund 250 Insassen. Wie auch in den vorliegenden Artikeln zur Ausbreitung der Pfingstkirchen in Lateinamerika beschrieben, ist der evangelikale Alltag von Ekstase beim Gebet geprägt – auch oder gerade im Gefängnis. Es wird deutlich, dass evangelikale Kirchen heute viele gesellschaftliche Bereiche abdecken, die der Staat gar nicht oder nur unzureichend ausfüllt.
Diese und weitere Reportagen der Kooperative sind unter http://sub.coop zu finden.


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