Identität | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000 | Surinam

Wo liegt Surinam?

Das Land zwischen Karibik, Südamerika und Europa ist ein globaler Mikrokosmos

Surinam ist für die LN-Redaktion im Wesentlichen terra incognita. Ein Blick in die Indizes der vergangenen Jahre zeigt, dass kein einziger Artikel über Surinam publiziert wurde. Der in Heidelberg lebende Dozent für französische und spanische Literaturwissenschaft Gerhard Frey, der in Surinam geboren wurde und sich intensiv mit diesem Land befasst hat, zeigt im folgenden Beitrag auf, dass in Surinam auf die Frage nach der Identität interessante Antworten zu finden sind.

Gerhard Frey

In Kapitel 19 des Candide von Voltaire gelangt der Held nach Surinam und trifft dort einen schwarzen Sklaven, dem wegen Fluchtversuchs ein Bein (natürlich ohne Betäubung) abgesägt wurde. In meinem Seminar über den Candide und andere Erzählungen Voltaires am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg saßen zwei Studenten aus Südamerika. Entsetzt über das Gelesene fragten sie: „Wo liegt Surinam?“ Diese Frage verwundert bei einem Deutschen nicht, aber sie erschien mir auch bei Südamerikanern als symptomatisch, denn Surinam liegt zwar im Nordosten des südamerikanischen Kontinents, aber die Beziehungen Surinams zu Südamerika einerseits und Südamerikas zu Surinam andererseits sind geradezu inexistent.

Dies hat zunächst geographische Gründe: Surinam ist durch eine über 300 Kilometer breite Regenwaldzone vom Inneren Südamerikas isoliert. Kulturell und ökonomisch orientiert es sich nach den Niederlanden, ökonomisch in geringerem Maße auch nach Japan, Korea und China. Surinam ist gewissermaßen eine Insel auf einem Kontinent. Dieser Isolation entspricht, dass an den Schulen – Surinam verfügt über ein beachtlich gutes Bildungssystem – neben Niederländisch als erste Fremdsprache Englisch gelehrt wird. Spanisch und Portugiesisch dagegen sind vollkommen unterrepräsentiert. Das einige hundert Kilometer südlicher gelegene Brasilien ist viel schwerer zugänglich als das 7700 Kilometer entfernte Holland. Die Frage lautet also nicht nur: „Wo liegt Surinam?“, sondern auch: „Wohin mit Surinam?“

In der Literatur gingen die Ansichten über die Zuordnung Surinams zu Südamerika oder zum karibischen Raum bislang auseinander. Inzwischen ist die Entscheidung zugunsten der Karibik gefallen. Die Größe Surinams steht dagegen immer noch nicht fest. Nach dem englischen Times Atlas of the World (1972) hat es bezeichnenderweise eine Fläche von nur 143.265 Quadratkilometern, nach eigenen und niederländischen Angaben dagegen von 163.820. Das ist ein Unterschied von der Größe Hessens! Die südwestlichen und südöstlichen Grenzgebiete, in denen viele Bodenschätze vermutet werden, werden einerseits auch von Guayana, andererseits von Frankreich beansprucht. Hier schlummern zukünftige Konflikte. Der Grund für die Differenzen liegt darin, dass dort alle Grenzen von Flüssen gebildet werden, deren wirkliche Verläufe bei Grenzziehung unzureichend bekannt waren. Surinam wurde im Friedensvertrag mit England 1667 niederländische Kolonie und, was selbst vielen US-Amerikanern unbekannt ist, gegen das damalige Nieuw Amsterdam, das heutige New York, ausgetauscht. In Surinam lockte gewinnbringende Plantagenwirtschaft mit Sklavenarbeit, Manhattan dagegen war damals eine bedeutungslose, fast unbewohnte felsige Landzunge. Das indianische Wort Guayana („wasserreiches Land“) hat diesem Gebiet Südamerikas den Namen gegeben. Surinam trägt ebenfalls einen indianischen Namen, und zwar den des Hauptstromes des Landes. An dem Fluss Suriname liegt die Hauptstadt des Landes: Paramaribo (von den Surinamern Paramáribo, von den Hispanoparlantes Paramaríbo ausgesprochen). Seit Erlangung der Unabhängigkeit am 25. November 1975, der das surinamische Parlament mit nur einer Stimme Mehrheit zustimmte, trägt das Land offiziell den Namen „Republiek Suriname“. Im Deutschen und Englischen hält sich nach wie vor Surinam, nur das Auswärtige Amt benutzt die Bezeichnung Suriname.

Wer ist Surinamer?

Surinam hat bis heute die Unabhängigkeit nicht verkraftet, und sehr viele Surinamer würden sie am liebsten ungeschehen machen. Wirtschaft und Währung gehen beständig bergab. Einst einer der wichtigsten Zucker- und Kaffeeproduzenten, importiert Surinam heute Zucker und Kaffee. An sich ist das Land sehr reich: riesige Bauxitvorkommen, Gold, Erdöl im Küstenbereich, Edelhölzer, aber es fehlt an Menschen und an Kapital. Entgegen weit verbreiteten Meinungen gibt es Gebiete in der Welt, die an Unterbevölkerung leiden.

Die Suche nach der surinamischen Identität ist wie eine Fahrt durch den Dschungel: faszinierend, aber mühsam. Ein Identitätsbewusstsein konstituiert sich bekanntlich auf der Grundlage sehr vieler Faktoren: geographische Lage, ethnische Herkunft, Geschichte, Religion, Wirtschaft, Sprache und Literatur, um nur die wichtigsten zu nennen. Gleich zu Anfang sei auf ein gravierendes Problem hingewiesen, das eine Identitätsfindung erschwert: Surinam hat „zwei Bevölkerungen“. Es ist das einzige Land der Erde, dessen Bevölkerung zur Hälfte in einem anderen Land, nämlich den Niederlanden, lebt. Die Einwohnerzahl beruht auf Schätzungen: circa 352.000 (ungefähr die Einwohnerzahl von Mannheim), das heißt gerade zwei Menschen auf einem Quadratkilometer. Eine etwas geringere Zahl von Surinamern lebt dagegen in den Niederlanden. Die einen identifizieren sich „ganz“, die anderen nur „halb“ mit Surinam. Diese Aussage muss allerdings relativiert werden: In Surinam selbst stellt die Tatsache, dort geboren zu sein, noch keine starke identifikatorische Bindung zwischen allen her; das Identitätsgefühl hängt vielmehr stark von der Volksgruppe ab, der jeder angehört. Jede Volksgruppe hat wiederum ihre eigene Tradition, Geschichte, Sprache und Kultur. Es gibt, sieht man einmal von den vielen „Mischformen“ ab, grosso modo allein acht solcher Gruppen!

Erstens: In den Savannengebieten des Inlands leben die eigentlichen Ureinwohner, verschiedene Indígena-Ethnien, die zum Teil eine Steinzeitkultur haben. Zweitens: Wegen der unerträglichen Arbeitsbedingungen flohen viele Sklaven in den Urwald und siedelten sich an den Oberläufen der Flüsse an, wo sie vor der niederländischen Kolonialmacht einigermaßen sicher waren. Sie selbst bezeichnen sich als „boes’ nengre“ („Buschneger“) und legen Wert auf diese Bezeichnung, weil sie immer daran erinnert, dass sie Afrikaner sind, die unter größten Gefahren und Verfolgungen die Freiheit des Urwaldes gegen das Sklavendasein eintauschten. Inzwischen wird aber immer mehr der französische Ausdruck „marrons“, deutsch „Marronen“, verwendet, weil man allzu ängstlich Diskriminierungen vermeiden will. Surinam ist das einzige Land der Welt, wo sich außerhalb Afrikas ein intaktes afrikanisches Stammesleben mit eigener Religion (Winti, Voodoo, Animismus) behaupten konnte. Diese Marronen empfinden sich mindestens so stark als Afrikaner wie als Surinamer. Man wird diese Tatsache umso mehr bewundern, als die Sklaven aus den verschiedensten Gegenden und Stämmen Afrikas kamen. Obendrein haben sie sich gleichsam aus dem Nichts eigene Sprachen geschaffen.

Drittens: Sephardische und deutsche Juden. Von ihnen gibt es nur noch wenige, weil sie in der surinamischen Gesellschaft aufgegangen sind. Die sephardischen Juden haben aber im 17. und 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle in der Kolonie gespielt, erst als Plantagenbesitzer (meist als etwas weniger grausam bekannt als die meisten Plantagenbesitzer), dann als Anwälte, Ärzte und Kaufleute.
Viertens: Kurz vor der Aufhebung der Sklaverei 1863 und danach holte die niederländische Kolonialmacht chinesische Vertragsarbeiter ins Land, die aber bald die Plantagen verließen und in den Handel abwanderten; fünftens: zwischen 1873 und 1916 wurden 34.304 indische Kontraktarbeiter ins Land geholt; sechstens: zwischen 1890 und 1939 wurden 32.956 Indonesier (Javanen) ins Land gebracht. Diese drei asiatischen Bevölkerungsgruppen machen heute bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus, was neue Probleme für die Identitätsbildung aufwirft. Siebtens: die niederländischen Boeren, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts einwanderten, anfangs zwar durch Krankheiten, Klima und Desorganisation furchtbar dezimiert wurden, aber doch zu einigen Tausenden überlebten.

Last, but not least, die Kreolen. Sie empfinden sich als die eigentlichen Surinamer; die Vertreter der anderen Ethnien haben zwei, oft drei Seelen in ihrer Brust und empfinden sich als Afrikaner und Surinamer, als Inder, Surinamer und Niederländer, als Chinese zuerst und oft nur als Chinese und so weiter. Zwar keimt ganz zaghaft ein eigenes Nationalgefühl und eine surinamische Identität auf, aber bis zu einer einheitlichen Identität ist es noch ein langer Weg, wenn diese denn überhaupt erreichbar und wünschenswert ist.

Babylonische Sprachenvielfalt

Die Kreolen sprechen mindestens zwei Sprachen (Niederländisch und Sranan). Es ist immer wieder bewundernswert, wie sich die Surinamer in dem Sprachengewirr zurechtfinden. Das so genannte Sranan Tongo, kurz Sranan (aus Surinam und englisch Tongue) ist die Lingua franca, nicht das Niederländische, das lediglich Amtssprache ist. Das Sranan und die Boes’ nengre-Sprachen (Saramacaans, Matawai, Boni, Aukaans) stellen ein regelrechtes „Sprachwunder“ dar. Wie war es möglich, dass in den nur 20 Jahren der englischen Herrschaft vor 1667 unter den Sklaven eigenständige Sprachen entstehen und sich behaupten konnten, die zum größten Teil aus (veränderter) englischer Lexik und aus spanischen, portugiesischen und afrikanischen Elementen bestehen? Insgesamt zählt man mindestens 23 Sprachen (Chinesisch, Hindi und so weiter). Unnötig zu sagen, dass bei so vielen Zungen ein Surinamer Probleme hat zu sagen, wohin er wirklich gehört.

Eine ähnliche Vielfalt herrscht bei den Religionen: die Herrnhuter Brüdergemeine als eigentliche Volkskirche (1735 begann die Mission, die sich vor allem Verdienste um den Aufbau eines Bildungssystems erwarb), die Katholische Kirche, mehrere niederländische Kirchen, Hinduismus, Animismus, Judentum, vor allem aber der Islam. Moscheen schießen in Surinam wie Pilze aus dem Boden.
Ein ähnlich breites Spektrum gibt es bei den Parteien. Sie konstituieren sich bis auf wenige wie die NPS (Nationale Partij Suriname) und die SPA (Surinaamse Partij van de Arbeid) in ethnischer Bindung: so die VHP (Verenigde Hindoestaanse Partij) und die KTPI (Kaum Tani Persatuan Indonesia, Vereinigte Indonesische Bauernpartei), um nur vier Parteien zu nennen. Seit Mai 2000 stellen diese die Regierungskoalition mit Venetiaan als Präsidenten.

Surinam ist geradezu ein Eldorado für Feldforschung auf dem Gebiet von Identitätsproblemen – unter soziologischen, ethnologischen, soziolinguistischen, kreolistischen, politologischen oder wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellungen. Das Land ist wie der Globus in der Retorte, ein Laboratorium. Surinam redet nicht von Globalisierung: Es praktiziert sie schon längst.

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