Argentinien | Nummer 493/494 - Juli/August 2015

„Wofür und für wen produzieren wir Energie?“

Der Politikwissenschaftler Diego Di Risio im Gespräch über die Konflikte um Fracking in Patagonien

Die Energiepolitik der Regierung zielt verstärkt auf den Ausbau der Förderung der sogenannten unkonventionellen Brennstoffe, also Gas oder Öl aus Schiefer- oder anderen bruchfähigen, tiefen Gesteinschichten. Davon profitieren momentan vor allem der Staat und die beteiligten internationalen Konzerne. Währenddessen verteidigen die Anwohner*innen ihr Land und ihre Lebensformen und kämpfen um die Einhaltung grundlegender Menschenrechte. Die LN sprachen mit Diego Di Risio über die Strategien und Erfolge des Widerstands gegen Fracking, die Energiepolitik der Regierung und über die Bedingungen für eine alternative Organisation der Energieproduktion und -verteilung.

Interview: Friederike Winterstein

In der von konventioneller Erdöl- und Erdgasförderung geprägten Provinz Neuquén wurden nun die größten unkonventionellen Brennstoffvorkommen Argentiniens ausgemacht. Deren zunehmende Gewinnung mittels Fracking wird von staatlicher Seite stark gefördert, davon profitieren allerdings vor allem transnationale Konzerne wie Shell, Chevron und Total. Wie steht es um die Rechte der Anwohner*innen im Rahmen dieses „gemeinsamen Projekts“ von Staat und Wirtschaft?
Diego Di Risio: Die aktuelle Energiepolitik der Regierung bedeutet ganz klar eine weitere Beschränkung und Verletzung der Rechte der Anwohner. Auf dem Gebiet der Gesteinsformation Vaca Muerta (aussichtsreichstes Schieferölvorkommen Argentiniens, Anm. der Red.) beispielsweise gibt es eine ganze Reihe von Rechtsverletzungen und sozial-ökologischen Konflikten. Das einzige Projekt, das seit 2013 bereits in der Phase der Förderung ist und von dem größten argentinischen Öl- und Gaskonzern YPF (Yacimientos Petrolíferos Fiscales) und dem Multi Chevron durchgeführt wird, befindet sich unter anderem auf dem Gebiet der Gemeinde Campo Maripe, zugehörig zu den Mapuche. Laut Rechtslage hätte es vor dem Beginn der Förderung ein Konsultationsverfahren geben müssen. Dies wurde mit der Begründung der Nicht-Anerkennung des Indigenenstatus dieser Gemeinde einfach übergangen. Auch in der Peripherie der Städte gibt es Konflikte. Es geht dabei vor allem um die Landnutzung. Davon betroffen sind meist Gebiete wie Elendsviertel oder besetztes Land, in denen die Menschen sowieso schon in prekären Situationen leben. Dort gibt es nun zunehmend neue Bohrungen, die tonnenweie Wasser verbrauchen und verschmutzen, während gleichzeitig der Bevölkerung der Zugang zu Wasser und anderen grundlegenden Rechten verwehrt bleibt. Im Falle der Peripherie der Provinzhauptstadt Neuquén ist es besonders krass: Dort wird das Gebiet unter „Naturschutz” gestellt, um die Bewohner zu vertreiben und tief unten ungestört gebohrt.

Wie gehen die Behörden dabei vor?
Das Verfahren, um dieses Gebiet unter Naturschutz zu stellen, ist von Unregelmäßigkeiten gezeichnet. So wurde die gesetzlich notwendige Studie zu sozialen und ökologischen Folgen der Bohrungen von Mitarbeiterinnen der für Naturschutz zuständigen staatlichen Behörde infrage gestellt und die „Umweltlizenz“ verwehrt. Der Leiter der Behörde leitete jedoch ein innerbehördliches Verfahren gegen die Kolleginnen ein und vergab die „Umweltlizenz“. Grundsätzlich wird jedwede Infragestellung und Widerstand gegen den Ausbau der Förderung nicht-konventioneller Brennstoffe kriminalisiert und unterdrückt.

Auf welcher Grundlage ist es denn überhaupt möglich, in einem Naturschutzgebiet Brennstoffe zu fördern?
Es gibt unterschiedliche Klassifizierungen innerhalb der Naturschutzgebiete. In einigen ist es erlaubt, wirtschaftliche Aktivitäten in Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung durchzuführen. Dabei ist die Frage, ob die Förderung von Brennstoffen wirklich als nachhaltig verstanden werden kann. Im Fall von Auca Mahuida ist das Problem, dass die Landesregierung sich einer legalen Leerstelle bezüglich der Gründung des Naturschutzgebiets bedient. Der Gouverneur enthält seit Jahren seine Zustimmung zu dem Raumnutzungsplan. Darin sind einige „grüne“ Zonen vorgesehen, deren Durchsetzung die Aktivitäten von Shell und Total beeinträchtigen würde. Generell wird die Extraktion als strategisch für die nationale Entwicklung definiert und damit die Förderung gerechtfertigt.

Neuquén hat eine lange Geschichte der Förderung von Erdöl und -gas und von Konflikten um das Land der indigenen Gemeinden. Abgesehen von der neuen Förderungsmethode des Frackings unter teilstaatlicher Kontrolle – ist die Situation anders als vorher?
Der Konflikt an sich ist nicht neu, aber er hat sich ausgedehnt und verschärft und stellt uns deshalb vor eine noch ernstere Situation. Gleichzeitig gibt es einige Sektoren, vor allem indigene, die einen hohen Organisationsgrad erreicht haben. Der letzte Expansionsprozess der Öl- und Gasförderung fand während der neunziger Jahre statt, seitdem haben sich die Mapuche in Neuquén in verschiedenen Organisationen und mit unterschiedlichen Forderungen zunehmend organisiert. Sie sind in der Lage, ihren Forderungen Sichtbarkeit zu verleihen und haben es geschafft, eine gesellschaftliche Debatte über das Thema Energie anzustoßen. Die Kleinbauern sind weniger organisiert, gemein haben sie mit den Indigenen die Forderung nach der Anerkennung des ihnen rechtmäßig zustehenden Eigentums an dem Land, das sie seit Jahrzehnten beziehungsweise Jahrhunderten bewirtschaften. Der Höhepunkt des aktuellen Konflikts in Neuquén war Ende 2013. Am 29. August jenen Jahres ratifizierte die Abgeordnetenkammer der Provinz den Vertrag zwischen YPF und Chevron. Chevron erhält im Gegenzug für seine Investitionen das exklusive Förderungsrecht zweier aussichtsreicher Gebiete in Vaca Muerta. An diesem Tag demonstrierten 5.000 Menschen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und sozialer Organisationen vor dem Provinzparlament und wurden zehn Stunden lang brutal nieder geschlagen, es gab sogar einen Toten.

Abgesehen von der direkten Gegenwehr gegen die von Staat und Unternehmen ausgehende Gewalt, bei Demonstrationen ebenso wie bei „Räumungen“ von Land beispielsweise, wie wehren sich die Anwohner*innen gegen Fracking?
Ein Instrument, das wir mithilfe einer holländischen Organisation im Fall von Shell durchsetzen konnten, ist, auf die Erfüllung der „sozialen Verantwortung“ der Unternehmen zu bestehen. Auf dieser Grundlage konnte ein Dialog zwischen Anwohnern und Unternehmen eröffnet werden. Selbst die Regierung Neuquéns fordert die Erfüllung dieser Verantwortung für den Fall YPF-Chevron und hat bei der Neuregulierung des Gesetzes zur Extraktion fossiler Brennstoffe einen festen Anteil an Ausgaben hierfür festgelegt. Natürlich begünstigt dies die Anwohner, auf lokaler Ebene gibt es mehr Geld für Schulen, Gesundheit und andere soziale und gemeinschaftliche Einrichtungen. Allerdings wird der Abbau dieser Rohstoffe damit in gewisser Weise legitimiert und Konflikte beschwichtigt. Wir befürchten, dass die Menschen aufgrund der kurzfristigen – natürlich wichtigen – Erfüllung grundlegender Bedürfnisse den Blick auf die Zukunft verlieren. Denn die Förderung von Erdöl und -gas ist irgendwann erschöpft, dann ziehen die Unternehmen ab und die Anwohner stehen erneut ohne strukturelle Versorgung da.

Außerdem gibt es über 30 Gemeinden in ganz Argentinien, die sich „frei von Fracking“ erklärt haben. Wie kam es dazu?
2012 gab es die erste lokale Initiative von einem Mitglied der kommunistischen Partei in der Provinz Río Negro (Patagonien, Anm. der Red.), der in einem Artikel Fidel Castros von den Gefahren des Fracking gelesen hatte und es schaffte, auf kommunaler Ebene eine Verfügung zum Verbot dieser Technologie durchzusetzen. Daraufhin gab es eine Welle ähnlicher Initiativen verschiedener Gruppen im ganzen Land, die auf Grundlage des im nationalen Umweltrecht enthaltenen Präventivprinzips in den jeweiligen Gemeinderäten lokale Verbote durchsetzen konnten. Außerdem wurde die gesellschaftliche Debatte auf nationaler Ebene beflügelt. Dieses Instrument hat sich allerdings nur als sehr wirksam in den Gebieten erwiesen, in denen es noch keine Förderung der Vorkommen gibt. Dort, wo der Abbau schon besteht, beispielsweise in der Gemeinde Allen in Neuquén, hat die Provinzregierung in dem Verbotsprozess interveniert und der Oberste Gerichtshof die kommunale Verordnung für ungültig erklärt.

Wie erklärt sich der jüngste Aufschwung der Förderung der unkonventionellen Brennstoffe?
Derzeit werden 90 Prozent der Energienachfrage Argentiniens mit fossilen, nicht erneuerbaren, Brennstoffen bedient. Die Spitzenproduktionswerte für Erdöl und Erdgas wurden 1998 und 2004 erreicht, seitdem fällt der Produktionsrhythmus dieser beiden Rohstoffe. Dabei spielt einerseits die strukturelle Neuausrichtung der Erdöl und -gasförderung während der neunziger Jahre eine zentrale Rolle. Steuervorteile zugunsten der Unternehmen führten dazu, dass der Großteil der Produktion exportiert wurde und gleichzeitig keine neuen Explorationsvorhaben durchgeführt wurden. Andererseits steigt kontinuierlich die inländische Nachfrage. 60 Prozent dieser geht allein von der Wirtschaft aus, wobei der Transport – vor allem von Waren – und die Industrie die größten Konsumenten sind. 2011 kam es dann erstmals zu einem Defizit in der Energiebilanz, es wurde mehr Energie importiert als exportiert. In diesem Rahmen erschien der Regierung die Möglichkeit, unkonventionelle Energievorhaben zu fördern, als optimale Lösung. Durch den Export dieser Brennstoffe wurde erhofft, sowohl die fehlenden Divisen zu beschaffen, als auch die interne Nachfrage zufrieden zu stellen.

Wie genau unterstützt die Regierung die Förderung unkonventioneller Brennstoffe?
Im Mai 2012 wurden 51 Prozent der Anteile des Unternehmens YPF gegen den Willen des damaligen Eigentümers Repsol enteignet und wieder verstaatlicht (s. LN 455). Ziel dieser Teil-Wiederverstaatlichung war es, die Kontrolle über die Förderung und den Export von Erdöl und -gas wieder zu erlangen und den Ausbau der Förderung der unkonventionellen Brennstoffe voran zu treiben. Aufgrund der hohen Kosten, nach Schätzungen von YPF um die 200 Milliarden US-Dollar in den nächsten zehn Jahren, kann dieser Ausbau nur durch ausländische Investitionen möglich werden. Die Regierung hat deshalb verschiedene Maßnahmen getroffen, um diese Investitionen ins Land zu holen. Angesichts des aktuellen Preisverfalls von Erdöl wird außerdem versucht, die negativen Folgen für die Unternehmen abzufedern. So werden auf verschiedene Weise die juristische und steuerliche Sicherheit der Unternehmen, sowie die von ihnen geforderten Gewinnspannen, versucht zu garantieren. Dabei gibt es Steuerreduzierungen, Lockerungen bestimmter Import- und Exportzölle, höhere Subventionen und seit 2011 staatlich garantierte graduelle Preissteigerungen. Außerdem wurden bilaterale Verträge und Absichtserklärungen mit den USA, der EU, China und Russland abgeschlossen, die auch das Erscheinen neuer Firmen, z.B. der holländisch- britischen Shell und der malaysischen Petronas, bewirkt haben. Ein weiterer wichtiger Punkt sind die öffentlichen Investitionen zum Aufbau der Infrastruktur, die in erster Linie der Förderung der Rohstoffe dient und den Unternehmen zu Gute kommt.

Der Ausbau der Förderung unkonventioneller Brennstoffe hängt also großteils von ausländischen Investitionen ab. Wie steht es um die notwendige Technologie? Welche Rolle spielen die ausländischen Unternehmen in dem Produktionsprozess von Erdöl und -gas?
Fracking ist nicht eine Technik, sondern eine Kombination verschiedener Techniken, die die wirtschaftlich rentable Förderung der unkonventionellen Erdöl- und Erdgasvorkommen erlaubt.
Dieses „technologische Paket“ impliziert sehr spezifisches Wissen, das vor allem von den drei großen US-amerikanischen Konzernen Schlumberger, Halliburton und Baker Hughes kontrolliert wird. Die Unternehmen, die dieses Wissen zur Verfügung stellen, sind Serviceanbieter. Sie sind vor Ort nicht direkt sichtbar und bekannt, sondern übernehmen punktuelle Aufgaben in der Wertschöpfungskette. Weiterhin gibt es die Unternehmen, die vor Ort die Vorkommen erkunden, dann gegebenenfalls fördern und weiter verarbeiten, wie beispielsweise das deutsche Unternehmen Wintershall (Tochterfirma des Chemiekonzerns BASF, Anm. der Red.). Dieser Teil des Produktionsprozesses ist, wie auch die Investitionen, durch die Zusammenarbeit staatlicher und privater Konzerne geprägt. Wintershall führt seine Vorhaben beispielweise zusammen mit dem neuquenschen Unternehmen Gas y Petróleo del Neuquén (GyP) aus, Chevron arbeitet mit YPF zusammen.

Sie sprachen davon, dass durch den hohen Grad an Organisation und Sichtbarkeit derjenigen, die Widerstand leisten, eine gesellschaftliche Debatte um das Thema Energie angestoßen wurde. OPSur spricht außerdem von der Notwendigkeit, die „Souveränität über die Energie“ zurückzugewinnen. Worum geht es dabei?
Eine grundlegende Frage, die wir uns als Gesellschaft stellen müssen, ist, wofür und für wen wir Energie produzieren. Es geht also nicht nur um nachhaltigere Quellen der Energiegewinnung, sondern um das gesellschaftliche Entwicklungsmodell, in dem diese Energie auf bestimmte Weise produziert und zu bestimmten Zwecken genutzt wird. Dabei ist für uns ein zentraler Punkt, dass der stark privatisierte und konzentrierte Prozess der Energiegewinnung und -nutzung demokratisiert werden muss. Dafür brauchen wir eine starke Basisorganisation vor Ort aber auch Transparenz, beispielsweise über die Verträge mit (ausländischen) Konzernen. Nur auf diese Weise werden wir uns die kollektive Kontrolle der Entscheidungsstrukturen wieder aneignen und eine gerechte Verteilung der Gemeingüter, unter anderem Energie, erreichen können. In diesem Sinne ist es für uns genauso wichtig, die konkreten Widerstände vor Ort zu unterstützen und voranzubringen, als auch Bildungsarbeit zur Energiefrage zu leisten.

Wie können wir in Europa die Kämpfe gegen Fracking in Argentinien unterstützen?
Das Wichtigste ist, die fatalen Auswirkungen vor Ort und die Rolle der europäischen Unternehmen dabei auch in Europa sichtbar zu machen. Über die Zusammenhänge zu berichten und mit verschiedenen Aktionen das Handeln dieser Unternehmen so weit wie möglich zu stoppen. Sinnvoll ist, in den Aktionärsversammlungen kritisch zu intervenieren oder gerichtliche Instanzen zu nutzen und so die lokalen Widerstände zu unterstützen.Diese Strategie, auf verschiedenen Ebenen und global vernetzt Widerstand zu leisten, ist fundamental.

Diego Di Risio
ist Politikwissenschaftlicher und Mitglied der argentinischen gemeinnützigen Organisation Observatorio Petrolero del Sur (Beobachtungsstelle für das Erdöl des Südens, OPSur). Seit 2008 forschen deren Mitglieder in Buenos Aires und Neuquén zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Förderung konventioneller und unkonventioneller Brennstoffe und der Energie als Menschenrecht. Mit dem Ziel, dass die Energieproduktion und der Konsum „gerecht, demokratisch, gesund und nachhaltig“ werden sollen, arbeiten sie in Forschung und Bildungsarbeit eng mit lokalen Aktivist*innen, aber auch nationalen und regionalen Netzwerken zusammen.

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