Brasilien | Nummer 269 - November 1996

“Zu unbequem für die lokale Elite”

Interview mit Ivana Nobre de Acevedo Gasparim über den politischen Mord an Reijane

Ivana Nobre de Acevedo Gasparim arbeitet als Koordinatorin für die Frauenorganisation MMNEPA (Movimento de Mulheres do Noreste Paraense). Das MMNEPA setzt sich seit 1993 für die Bürgerrechte der Frau ein und hat heute Vertretungen in 13 Gemeinden der Region. Inhaltliche Schwerpunkte liegen in der Eroberung des öffentlichen Raumes für Frauen durch gezielte Unterstützung ihrer Organisationen, sowie im Bereich der gesundheitlichen Versorgung. Neben anderen sozialen Bewegungen setzt sich das MMNEPA für die Demokratisierung der Region und eine Verbesserung der sozio-ökonomischen Verhältnisse der kleinbäuerlichen Familienwirtschaft ein und ist im Forum de Mulheres da Amazônia Paraense vertreten.

Elisabeth Schumann

LN: Welche Stellung hat das MMNEPA im regionalen Kontext sozialer Bewegungen?

Ivana Gasparim: Das MMNEPA versteht sich als eine Organisation, die sich für die spezifischen Belange der Frauen in der Region einsetzt. Es handelt sich dabei aber nicht um einen isolierten Kampf der Frauen, vielmehr ergänzt das MMNEPA die Arbeit gewerkschaftlicher Organisationen, der Arbeiterverbände und der Kooperativen für eine Verbesserung der Situation kleinbäuerlicher Familienwirtschaften in der Region. Die Erstarkung sozialer Bewegungen im Nordosten von Pará in den letzten Jahren steht in engem Zusammenhang mit dem Kampf der Gewerkschaften für den Zugang zu Agrarkrediten. Aber es ist offensichtlich, daß in der Gewerkschaft, genau wie auch in den Kooperativen und Kleinbauernverbänden eine gewisse Abwesenheit von Frauen vorherrscht. Und genau da setzt das MMNEPA an: Frauen müssen stärker mit diesem Raum der Organisationen verbunden sein, um tatsächlich am eigentlichen Kampf teilnehmen zu können. Natürlich gibt es bereits Frauen, die gewerkschaftlich organisiert sind, und das ist ein Indiz dafür, das Frauen beginnen, in diese Bereiche vorzudringen, aber der Weg ist noch sehr weit. Nichtsdestotrotz glaube ich, das MMNEPA hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, den Frauen die Notwendigkeit dieses Engagements zu verdeutlichen.

Welche Position hatte Reijane Guimaraes innerhalb des MMNEPA?

Reijane war seit dem ersten Kongreß des MMNEPA 1995 aktives Mitglied der Bewegung. Sie begann, die Frauen im Munizip Mae do Rio zu mobilisieren. Mae do Rio ist im Vergleich zu anderen Munizipien eine sehr aktive Gemeinde. Auf dem Kongreß des MMNEPA haben wir den Kampf für die Gesundheit als unseren inhaltlichen Schwerpunkt für 1996 und 1997 bestimmt, und Mae do Rio hat dieses Ziel noch stärker als andere Munizipien verinnerlicht.

Welche politische Bedeutung hat die Arbeit des MMNEPA in Mae do Rio?

Reijane und die anderen Frauen des MMNEPA in Mae do Rio stellten Forderungen auf hinsichtlich der Verbesserung gesundheitlicher Betreuung und arbeiteten in diesem Punkt mit anderen sozialen Bewegungen zusammen: mit den Gewerkschaften, den Kleinbauernverbänden, den Jugendorganisationen, Parteien. Auf diese Weise konstituierte sich eine politische Kraft in Mae do Rio: der Kampf für die Gesundheit, Zugang zu Krediten, für die Preise einzelner Produkte wurde zu einer gemeinsamen Stoßrichtung.

Ist speziell das Munizip Mae do Rio besonders geprägt von Landkonflikten?
Nein, eigentlich nicht in besonderem Maße. Naja, aber Mae do Rio liegt halt strategisch wichtig an der Belém-Brasilia. Insofern ist es ein Ort, den viele Leute kennen und besuchen, dort vorbeifahren. Ich habe den Eindruck, daß die Kraft der sozialen Bewegungen dort akzentuierter ist. Ja, vielleicht ist das der Unterschied.

Was bedeutete das Massaker an Landlosen in Eldorado de Carajás im April für die Zielsetzung und den Einsatz der sozialen Bewegungen hier in der Region?

Die Idee der fruchtbaren Nutzung des Bodens hat durch die Ereignisse in Eldorado de Carajás nochmal einen ganz neuen Stellenwert bekommen, daran besteht kein Zweifel. Und die LandbesetzerInnen bekamen noch einmal ein ganz neues politisches Gewicht. Eigentlich waren die Landbesetzungen etwas aus dem öffentlichen Blickfeld verschwunden, sie schienen fast aufgehört zu haben. Ich glaube, daß Eldorado de Carajás dem Wunsch, unseren Raum für uns zu beanspruchen, neuen Auftrieb gegeben hat. Die Gruppen, die sich in letzter Zeit auf die Besetzung von Land vorbereitet haben, bekamen Unterstützung von den Gewerkschaften, vom MMNEPA und anderen. Und zwar Unterstützung in Form von juristischer Beratung beispielsweise.

Welche Interessen stehen hinter dem Attentat auf Reijane Guimaraes am 6. September?

Der Mord an Reijane hat verschiedene Gründe. Ich bin fest überzeugt davon, daß es sich um einen politischen Mord handelt, der mit der Rolle dieser Gruppe organisierter sozialer Bewegungen in Mae do Rio zu tun hat. Sie stellen heute eine wichtige Kraft dar, die für die lokalen Machthaber sehr unbequem ist, da sie es geschafft haben, die zentrale politische Achse in Mae do Rio zu verschieben. Für die lokalen Machthaber stehen nun Macht und Prestige auf dem Spiel, sie fühlen sich in ihrer Stellung bedroht. Dieser Aspekt steht an erster Stelle, wenn es darum geht, Motive für den Mord zu benennen.
Ein weiterer Punkt ist die Arbeit von Reijane im IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística) in den letzten Monaten. Die Zahl der EinwohnerInnen war im letzten Zensus auf absurde Weise erhöht worden, um dadurch zusätzliche staatliche Mittel zu erlangen. Reijane hatte den Betrug in einigen Fällen nachweisen können und weitere Enthüllungen angekündigt, was sicherlich ebenfalls in engem Zusammenhang mit dem Attentat steht.
Und speziell ihr Einsatz für Frauenfragen war dem Präfekten ein Stein im Schuh, da sie ihn immer wieder mit Forderungen belagerte, Vereinbarungen aushandelte, daß war zu einer heftigen Auseinandersetzung herangereift. Und sie hatte seine leeren Versprechungen auch immer wieder lautstark öffentlich kritisiert.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Mord an Reijane Guimaraes für die sozialen Bewegungen der Region und insbesondere für das MMNEPA?

Der Schock über die Ereignisse sitzt sehr tief. Gleichzeitig glaube ich, daß wir eine ungeheure Verantwortung tragen, diesen Kampf weiterzuführen. Reijane war eine so offene und gutherzige Person. Ich denke, wir müssen in Zukunft professioneller arbeiten um diesen Leuten die Stirn bieten zu können, in manchen Fällen mißtrauischer sein statt hilfsbereit und offen. In jedem Fall werden wir das MMNEPA neu strukturieren, unsere Strategien überprüfen, unsere Methoden diskutieren. Viele Frauen haben jetzt Angst, und gerade deshalb müssen wir präsent sein und andere mitreißen. Für Oktober ist ein großer Marsch auf Belém geplant, und auch in Brasilia werden wir unserer Forderung nach Gerechtigkeit und Agrarreform für Pará durch Aktionen Nachdruck verleihen.

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