Nummer 427 - Januar 2010 | Peru

Zur Ablenkung Gruselgeschichten

Reale und fiktive Begebenheiten aus Peru

Ein peruanisches Horrormärchen geriet weltweit in die Schlagzeilen. Im Inneren des Landes sorgen inzwischen eher Polizeiwillkür, Justizskandale und Korruption für Fassungslosigkeit und Entsetzen.

Rolf Schröder

Aus Legenden und Erzählungen sind pishtacos als weißhäutige Bösewichter bekannt, die einst im Gebiet des oberen Amazonas ihr Unwesen trieben. Sie steuerten nachts mit Booten die Siedlungen der Indígenas an, schlichen sich unter die Pfahlbauten und zapften mit riesigen Spritzen, die sie durch die Bretterritzen führten, das Körperfett der schlafenden Bevölkerung ab. Der Polizist Eusebio Félix Murga träumte womöglich schon als Kind davon, einmal einem solchen Unhold eine Falle zu stellen. Am 19. November schien es soweit zu sein. Murga, inzwischen General und oberster Chef der landesweiten Kriminalpolizei Dirincri, berief an diesem Tag eine Pressekonferenz ein, die Fettleibige im ganzen Land in Angst und Schrecken versetzte. Denn Murga meldete nicht weniger als die Festnahme von gleich vier leibhaftigen pishtacos im Gebiet des Huallaga, einem der Zuflüsse des Amazonas.
Die gefassten pishtacos, so Chefermittler Murga, stünden im dringenden Verdacht, 60 Menschen ermordet, deren Körperfett abgeschöpft und leere Flaschen des Nationalgetränks Inca Kola damit aufgefüllt zu haben. Für jeden Liter des in der Kosmetikindustrie überaus begehrten Menschenfetts hätte die Bande einen Marktpreis von 15.000 US-Dollar erzielt. Als Beweis präsentierte Murga Fotos der Überreste eines Mordopfers. Innenminister Octavio Salazar bestätigte die Ermittlungsergebnisse, die sich über die Ticker der Nachrichtenagenturen in Windeseile auf der ganzen Welt verbreiteten. Sehr schnell stellte sich heraus, dass Murgas Leute nur eine einzige Leiche gefunden hatten und die Fettgeschichte medizinischer Unfug war.
Märchenerzähler Murga wurde inzwischen gefeuert. Doch nicht nur die peruanische Kriminalpolizei hat sich mit dieser phantastischen Geschichte bis auf die Knochen blamiert, sondern auch das Innenministerium und die Regierung. Daher bleibt die Frage nach Murgas Motiv. Vieles spricht dafür, dass die Gruselstory nur lanciert wurde, um die Aufmerksamkeit von einem anderen Polizeiskandal abzulenken: In Trujillo, der drittgrößten Stadt des Landes, soll nach Recherchen der Zeitschrift Poder eine von der Polizei geführte Todesschwadron in den letzten beiden Jahren um die 50 vermeintliche StraftäterInnen liquidiert haben. Die Leichen der Opfer wiesen zum Teil Nackenschüsse, Abdrücke von Handschellen oder Foltermerkmale wie abgetrennte Gliedmaßen auf. Dazu gibt es diverse Zeugenaussagen über reguläre Festnahmen von Tätern, die später von der Polizei als tödliche Opfer eines Schusswechsels präsentiert wurden. Die Todesschwadron, so die Zeitschrift Poder, soll von UnternehmerInnen der Stadt finanziert und von Regierungsstellen gut geheißen worden sein.
Aufgrund der außerordentlich hohen Quote erschossener StraftäterInnen in Trujillo hatte die Staatsanwaltschaft bereits in der Vergangenheit Ermittlungsverfahren gegen die örtliche Polizeibehörde eingeleitet. Von 23 eingeleiteten Verfahren wurden jedoch 21 gleich wieder eingestellt, weil die örtliche Polizei immer wieder Waffen der vermeintlichen StraftäterInnen präsentieren konnte, aus denen angeblich auf sie geschossen wurde. Die Staatsanwältin Rosa María Vega klagte dennoch den Polizisten Elidio Espinoza und einige seiner KollegInnen an, in vier Fällen gemordet zu haben und beantragte eine lebenslange Freiheitsstrafe. Kurz darauf wurde Vegas Ehemann verhaftet und beschuldigt, Straftaten begangen zu haben. Als sich das als Irrtum erwies, erhielt die Staatsanwältin Morddrohungen. Rosa María Vega kapitulierte und gab den Fall ab. Elidio Espinoza dagegen wurde im Juni dieses Jahres aufgrund „außerordentlicher Verdienste“ von der damaligen Innenministerin Mercedes Cabanillas, einer engen Vertrauten von Präsident Alan García, zum Oberst befördert. Der Zeremonie wohnte auch der jetzige Innenminister Octavio Salazar bei. Salazar, der erst von den Gruselmärchen seines obersten Kriminalbeamten Murga abrückte, als dieser bereits der Lüge überführt war, kennt die Polizei in Trujillo aus eigener Anschauung. Zufällig saß er dort selbst auf dem Sessel des Polizeichefs, als das seltsame Sterben gefasster StraftäterInnen begann und die vermutliche Geburtsstunde der Todesschwadron schlug. Das war im August 2007.
Ob Zufall oder nicht: Genau einen Monat zuvor hatte die Regierung der Polizei mit der Verabschiedung des Gesetzesdekrets 982 offiziell eine Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch erteilt. Seitdem können PolizistInnen nicht mehr strafrechtlich belangt werden, wenn sie im Rahmen ihres Einsatzes Menschen töten. Welch eine Katastrophe der Schusswaffengebrauch der Polizei auslösen kann, zeigte sich bei der gewaltsamen Unterdrückung indigener Proteste in Bagua (siehe LN 421) im Juni dieses Jahres. Nachdem die Polizei dort unter Einsatz von Tränengas und Schusswaffen eine bis dahin friedliche Blockade einer Landstraße aufgelöst hatte, kam es zu Ausschreitungen, in deren Verlauf offiziellen Angaben zufolge 23 Polizisten und 10 Zivilisten getötet wurden. Die Indigenen zweifeln diese Zahlen allerdings an und sprechen von deutlich mehr Toten auf ihrer Seite. Unter den etwa 200 Verletzten wies knapp die Hälfte Schussverletzungen auf. Dafür wird sich gemäß Gesetz 982 kein einziger Polizist vor Gericht verantworten müssen. 84 Indigene werden dagegen verschiedener Straftaten angeklagt, die vom Mord bis hin zur Behinderung des öffentlichen Verkehrs durch Blockademaßnahmen reichen. Etliche von ihnen wurden von der Polizei gefoltert. Der Vorsitzende der Indigena-Dachorganisation AIDESEP Alberto Pizango und fünf weitere indigene Anführer sehen einer Anklage wegen Aufruhrs entgegen. Ihnen drohen zwischen fünf und zehn Jahren Haft. Pizango flüchtete mit zwei MitstreiterInnen ins nicaraguanische Exil.
Zuletzt saßen der Polizei in der nördlichen Provinz Huancabamba die Waffen locker. Dort hält das Minenunternehmen Rio Blanco – ehemals unter dem Namen Majaz in britischen, jetzt in chinesischen Investorenhänden – ohne gesetzliche Grundlage Gemeindeland besetzt und sieht sich seitdem mit protestierenden Bauern und Bäuerinnen konfrontiert. Bereits in den Jahren 2004 und 2005 hatte die Polizei dort den Tod zweier Demonstranten zu verantworten, über 20 Gemeindemitglieder wurden in einer konzertierten Aktion der Polizei und des von Rio Blanco angeheuerten Sicherheitsunternehmens FORZA gefoltert. Anfang November eskalierte der Konflikt erneut. Drei Angestellte des Bergbauunternehmens starben, als ein Minencamp auf Gemeindeland in Flammen aufging. Obwohl die Täter unbekannt sind, nahm die Polizei mehrere Gemeindemitglieder fest. Am 2. Dezember sollten weitere Festnahmen erfolgen. Als die Polizei dabei in Cajas Canchaque nach eigenen Aussagen auf Widerstand stieß, erschoss sie zwei Bauern und verletzte weitere.
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Präsident Alan García, der gern aus der Bibel zitiert, steuert vor allem dann einen harten Konfrontationskurs, wenn seine Regierung daran gehindert wird, bessere Investitionsbedingungen im Land zu schaffen. So ging es bei dem Konflikt in Bagua um Gesetzesdekrete, in denen die Rechte indigener Gemeinschaften beschnitten werden, wenn auf ihren Territorien ein Interesse an Rohstoffförderung besteht. Auch wenn die Regierung bemüht ist, Rechtssicherheit für Investoren zu schaffen, steht sie in der Praxis eher für Unrecht und Unordnung.
Da ist zum Beispiel der Skandal um die sogenannten Petroaudios, bei dem sich der Verdacht aufdrängt, dass staatliche Behörden Straftaten verschleiern, statt zu ihrer Aufklärung beizutragen. Zur Erinnerung: Im Oktober 2008 gelangten Mitschnitte von Telefongesprächen an die Öffentlichkeit, in denen Rómulo León, ein ehemaliger Minister Alan Garcías, einem norwegischen Unternehmen aufgrund seiner guten Regierungskontakte ohne die erforderliche Ausschreibung Konzessionen für Ölfelder beschaffte (siehe LN 416). Weitere veröffentlichte Tonaufnahmen bewiesen die Verwicklung verschiedener MinisterInnen in den Ölskandal und andere Korruptionsfälle. Die Abhöraktionen wurden von einer Firma namens Business Track (BTR) betrieben, die Spitzeldienste verkauft. Ihre Auftraggeber und deren Motive sind bis heute unbekannt. Der zuständige Richter gibt die beschlagnahmten Festplatten der Firma bis heute weder an die Staatsanwaltschaft noch an den Kongress weiter. Wenn etwas Neues über den Skandal durchsickert, dann nur aufgrund journalistischer Recherchen. Und Rómulo León, der vor einem Jahr verhaftet wurde, steht nur noch unter Hausarrest.
Wahrscheinlich enthalten die Festplatten der Spionagefirma BTR belastendes Material gegen weitere hochrangige RegierungsvertreterInnen. Andererseits haben etliche Regierungsmitglieder die Firma beraten oder ihre Dienste in Anspruch genommen. Zum Beispiel Mercedes Cabanillas, die Ex-Innenministerin. Oder Francis Allison, der im Juni das Ministerium für Wohnungsbau übernahm und sich ganze drei Monate im Amt hielt. Dann kam heraus, dass er bis Mitte 2008 als Berater im Dienst der BTR-Maulwürfe stand. Momentan sitzt der smarte Politiker sogar mit elektronischen Fußfesseln in Miami fest, weil er dort mit einer nicht deklarierten Summe von 50.000 US-Dollar ein Flugzeug nach Lima besteigen wollte. Den zweifellos prominentesten Kunden der Firma BTR präsentierte jedoch der Journalist Gustavo Gorriti in einem jüngst erschienenen Buch über den Audioskandal: Vor Beginn des letzten Wahlkampfs soll Alan García persönlich die Observierung Ollanta Humalas, seines schärfsten Konkurrenten im Kampf um die Präsidentschaft, in Auftrag gegeben haben.
Die politischen Realitäten in Peru sind ohne die Horrorgeschichten Felix Murgas gruselig genug. Neben den Korruptionsskandalen erinnern besonders die Zustände der Justiz und der Polizei an die 90er Jahre, als Vladimiro Montesinos, der Berater des damaligen Präsidenten Alberto Fujimori, mittels Bestechung, Erpressung und notfalls auch mit roher Gewalt beide Institutionen vollständig kontrollierte. Für die Präsidentschaftswahlen im Jahre 2011 gibt es bereits eine aussichtsreiche Kandidatin, die den Weg zurück in die 90er Jahre noch konsequenter fortsetzen könnte als Alan García: Keiko Fujimori, die Tochter des verurteilten Verbrechers und Expräsidenten Alberto Fujimori. Mit dem bislang einzigen Programmpunkt, ihren Vater gegen jedes Recht aus dem Gefängnis zu befreien, liegt sie zur Zeit in Meinungsumfragen knapp hinter Limas Bürgermeister Luís Castañeda auf Platz zwei.
Der Widerstand gegen Korruption, Polizeiwillkür und die neoliberale Politik der letzten 20 Jahre wächst allerdings auch. So schlossen sich – unter Mitwirkung von Alberto Pizango im nicaraguanischen Exil – verschiedene indigene Bewegungen zu einer Dachorganisation zusammen, die unter dem Namen Perú Plurinacional eine Kandidatur zu den Wahlen erwägt und bereits Unterschriften für die Zulassung sammelt. Zur gleichen Zeit entstand in Cajamarca unter der Führung des Priesters Marco Arana aus dem Widerstand gegen die Goldmine Yanacocha die Bewegung Tierra y Libertad (Land und Freiheit). Auch Arana organisiert zurzeit eine Unterschriftenkampagne für die Wahlregistrierung. Besonders interessant an seinem Projekt ist der Versuch, linke und ökologische Politik miteinander in Einklang zu bringen. Das ist nicht ganz einfach in Lateinamerika.

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