Aktuell | Brasilien | Nummer 534 - Dezember 2018

ZWANGSVERSCHREIBUNG VIA BAYER

In Brasilien soll Mädchen aus prekären sozialen Verhältnissen die für Minderjährige verbotene Hormon-Spirale Mirena implantiert werden

In Brasilien hat die Hormon-Spirale der deutschen Firma Bayer keine Zulassung für Frauen unter 18 Jahren. Bei 100 in Fürsorge-Einrichtungen untergebrachten Minderjährigen macht der Staat jedoch nun eine Ausnahme. Das stößt auf Kritik. Den Gerichten liegt mittlerweile sogar eine Klage gegen das Projekt vor.

Von Jan Pehrke, Coordination gegen Bayer-Gefahren

Medikamente von Bayer: Eine fragwürdige Angelegenheit (Foto: Bodhi Peace/Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

„Ich habe Mädchen im Alter von zwölf oder 13 Jahren gesehen, die schwanger waren oder bereits Mütter, und wir wissen, welche Probleme das bereiten kann“, erklärt die Staatsanwältin Dr. Cinara Vianna Dutra Braga, um gleich ihre Schlussfolgerung hinterher zu schieben: „Für diejenigen von ihnen, die in staatlichen Einrichtungen leben, ist es noch schlimmer, da sie sich in einer Situation extremer Verletzlichkeit befinden. Diese Partnerschaft gewährt ihnen jetzt sieben Jahre lang Schutz, sodass sie ihre Zukunft ohne das Risiko einer frühen Schwangerschaft planen können“. Cinara Vianna Dutra Braga ist Staatsanwältin im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Und sie hatte im Juli dieses Jahres über den Antrag auf teilweise Freigabe der in Brasilien für Minderjährige eigentlich verbotenen Hormon-Spirale Mirena aus dem Hause Bayer zu entscheiden. Sie entschied sich für die Zulassung der Spirale auch für Minderjährige, sofern diese unter Obhut des Staates stehen.

Cinara Vianna Dutra Braga begrüßte den Plan, hundert Minderjährigen, die in Porto Alegre in Fürsorge-Einrichtungen leben, Bayers Hormon-Spirale Mirena zu implantieren. In Brasilien wird das Bayer-Produkt unter dem Namen SIU-LNG vertrieben. Eine entsprechende Kooperationsvereinbarung hatte der Leverkusener Multi mit der Staatsanwaltschaft, der Landeshauptstadt Porto Alegre und zwei Kliniken der Stadt geschlossen.

Damit setzten sich die Beteiligten einfach über die Verordnungsvorschriften für Arzneien hinweg. Das Medizin-Produkt zur Langzeit-Verhütung – im Fachjargon auch Intrauterin-Pessar (IUP) oder Intrauterin-System (IUS) genannt – hat in Brasilien nämlich gar keine Zulassung für diese Altersgruppe. Die zuständige Kommission Conitec hatte sich im Jahr 2016 eindeutig gegen eine Genehmigung für 15- bis 19-Jährige ausgesprochen. „Wir sind der Ansicht, dass die vorgelegten wissenschaftlichen Nachweise nicht ausreichen, um die Überlegenheit der vorgeschlagenen Technologie gegenüber den schon vorhandenen Technologien zu demonstrieren“, hieß es in dem entsprechenden Bericht.

Die Maßnahme erinnert an die alte eugenische Politik der ‚Geburten- Kontrolle’

Auf entsprechend große Kritik stieß das Vorhaben. Einhellig protestierten der Landesrat für die Rechte von Kindern CEDICA, der Landesrat für Sozialunterstützung CEAS und Professor*innen der Universität des Bundesstaates Rio Grande do Sul (UFRGS) gegen die Maßnahme. „Zusammenfassend handelt es sich um eine weitere Strategie der Pharma-Industrie und ihrer Netzwerke, dem staatlichen Gesundheitssystem ihr hormonales IUP/IUS anzudienen“, so die Medizinerin Gabriela Godoy gegenüber Medien.

Gemeinsam mit ihren Kolleg*innen von der UFRGS hatte sie in einer Petition ethische, technische und wirtschaftliche Einwände gegen den Vorstoß formuliert. Die Hochschul-Lehrer*innen bezeichneten es darin als moralisch bedenklich, das Medizin-Produkt gerade bei Minderjährigen aus prekären sozialen Verhältnissen einzusetzen, die unter staatlicher Vormundschaft stehen. Diese Praxis erinnere an die Bevölkerungspolitik unter der Militärdiktatur, die mit derartigen Methoden versuchte, die gefährlichen Klassen möglichst kleinzuhalten. Das „geht auf die alte eugenische Politik der ‚Geburten-Kontrolle’ zurück, die in den 1960er und 1970er Jahren existierte“, konstatierten die Wissenschaftler*innen.

Nicht genug damit, dass die Verantwortlichen den Beschluss der Conitec ignorierten. Sie unterließen es zudem, die jungen Frauen über Risiken und Nebenwirkungen der Mirena und über Alternativen zu informieren, monierten die Professor*innen. Sie kritisierten zudem den hohen Preis der Spirale. Die staatlichen Stellen haben sich zum Werkzeug der Vermarktungsstrategie des Leverkusener Multis machen lassen, so ihr Fazit.

Brustkrebs, Bauchkrämpfe, psychische Krankheiten, Seh-Störungen, Migräne und Kopfschmerzen – Mirena

Der Gemeinderat von Porto Alegre, diverse Gewerkschaften und andere Organisationen formulierten ihre Einwände in einem offenen Brief. Sie warfen Bayer & Co. vor, ihre Kooperationsvereinbarung unter Umgehung der kommunalen politischen Gremien geschlossen zu haben. Darüber hinaus lasteten die Verfasser*innen des Schreibens dem Verbund an, die jungen Frauen zu Objekten zu degradieren und sie ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung zu berauben. Wie die Professor*innen von der UFRGS machten auch sie in der Sozialauswahl der Mirena-Kandidat*innen ein bevölkerungspolitisches Element aus und erinnerten an ein ähnliches Projekt in der Stadt mit Jugendlichen aus einem Armen-Viertel, das nach massiven Protesten eingestellt werden musste.

Bayer wirkt an einer solchen Bevölkerungspolitik sonst vornehmlich auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe mit. Nach der vom früheren US-Präsidenten Lyndon B. Johnson formulierten Devise „Fünf gegen das Wachstum der Bevölkerung investierte Dollar sind wirksamer als hundert für das Wirtschaftswachstum investierte Dollar“ bringt er etwa – mit freundlicher Unterstützung der „Bill & Melinda Gates Foundation“ – Millionen Einheiten seines Langzeit-Kontrazeptivums Jadelle an die afrikanische Frau. Aus Sicht der Institutionen besitzt es die gleichen Vorteile wie Mirena. Es ist „provider controlled“, also von den Nutzerinnen nicht selbstbestimmt ein- bzw. abzusetzen, und service-freundlich, weil es jahrelang wirkt und so Kontrollen erspart.

Auch in Sachen „Nebenwirkungen“ geben sich die beiden Medizin-Produkte nicht viel, denn mit Levonorgestrel haben sie den gleichen Wirkstoff. Mirena etwa kann Brustkrebs, Bauchkrämpfe, psychische Krankheiten, Seh-Störungen, Migräne und Kopfschmerzen auslösen. Ob das den jungen Brasilianer*innen aus Porto Alegre erspart bleibt, entscheiden jetzt die Gerichte. Die Initiative Themis hat nämlich Klage gegen die Zwangsverschreibung des Kontrazeptivums eingereicht.

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