Literatur | Nummer 297 - März 1999

Zwischen Diktatur und Demokratie

Soziale Bewegungen in der Klassengesellschaft

Mit seinem neuen Buch Soziale Bewegungen in Lateinamerika unternimmt Dieter Boris den Versuch, die sozialen Bewegungen in ihrer ganzen Breite ins Auge zu fassen und gleichzeitig die großen Linien ihrer Entwicklung differenziert nachzuvollziehen. Dabei rückt er von allen Klischees ab, die das Thema umgeben. Er zeigt mit einer Fülle von Material, daß die sozialen Bewegungen in Lateinamerika, die während der Militärdiktaturen in den frühen 80er Jahren als Vorboten einer neuen Zeit gefeiert wurden, mit den Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozessen seither keineswegs so bedeutungslos geworden sind, wie das bisweilen angenommen wird.

Urs Müller-Plantenberg

Unter denen, die sich im Be-
reich der Sozialwissenschaften mit Lateinamerika beschäftigen, gehört Dieter Boris zu den eher wenigen, die sich den Blick für das Ganze bewahrt haben, weil sie mit Recht meinen, nur so könne die Dimension und Bedeutung einzelner Erscheinungen sinnvoll eingeschätzt werden. Dieser Blick des Generalisten bewahrt ihn auch vor der Gefahr, den wechselnden wissenschaftlichen Modetrends hinterherzulaufen. Das geschieht zunächst in der sehr lesenswerten Einleitung. Hier wird deutlich gemacht, daß die sozialen Bewegungen in Lateinamerika nicht allesamt neu sind, denn Aufstände der indigenen Bevölkerung, Rebellion der Bauern und Bäuerinnen, später die ArbeiterInnenbewegung und regionale StudentInnenbewegungen hat es schon lange vor der „Hochkonjunktur“ der „neuen sozialen Bewegungen“ in den achtziger Jahren gegeben. Auch stellen nicht alle Bewegungen eine lateinamerikanische Besonderheit dar, denn die Frauenbewegung und die Umweltbewegung beispielsweise nahmen in Lateinamerika etwa zur gleichen Zeit an Bedeutung und Stärke zu wie in Europa oder Nordamerika. Die während der siebziger und achtziger Jahre in den meisten Ländern Lateinamerikas etablierten Militärdiktaturen haben allerdings mit der Unterdrückung der normalen Möglichkeiten politischer Artikulation durch Parteien einerseits und der Schaffung von dramatischen Notsituationen durch politische Verfolgung und soziale Gefühllosigkeit andererseits den Boden für eine Reihe von Bewegungen bereitet, die unter „normalen“ Umständen wahrscheinlich nie entstanden wären. Dazu gehören vor allem die Menschenrechtsbewegungen, die sich um die verschwundenen politischen Gefangenen gekümmert haben und noch kümmern, die solidarischen Organisationen einer Art Volksökonomie, die Stadtteilbewegungen und andere mehr.
Lesenswert ist die Einleitung auch besonders, weil Dieter Boris hier die seither unternommenen Versuche zur Bildung von Theorien über soziale Bewegungen einer kritischen Revision unterzieht und sich gegen die Ansicht zur Wehr setzt, die „veraltete“ Klassenanalyse sei in Zukunft durch die Analyse sozialer Bewegungen zu ersetzen (statt zu ergänzen). Natürlich könnten, so argumentiert er, die sozialen Bewegungen nicht auf ein Klassenphänomen reduziert werden. Das schließe aber nicht aus, daß sie in der Klassengesellschaft „verortet“ seien. Fast nebenbei vermittelt Dieter Boris an dieser Stelle auch, daß der modische und sehr unscharfe Begriff der „Zivilgesellschaft“ in Lateinamerika eher vernebelnde als aufklärerisch-erkenntniserweiternde Funktionen gehabt hat.

Analyse im Vergleich
und am Beispiel
Nach einem kurzen Ausblick auf neuere Tendenzen der Entwicklung der Sozialstruktur in den Ländern Lateinamerikas unternimmt Dieter Boris den Versuch, die Konsequenzen der Demokratisierungsprozesse für die Weiterentwicklung der sozialen Bewegungen zu kennzeichnen. Nach seinem Urteil sind diese Bewegungen in Ländern wie Chile und Uruguay mit dem Wiederaufkommen der politischen Parteien sehr geschwächt worden, während sie ihren Einfluß etwa in Bolivien und Paraguay halten und in Brasilien oder Ecuador sogar ausbauen konnten. Diese Typenbildung ist nicht ganz unproblematisch; richtig ist aber sicherlich, daß die Veränderungen in den Ländern unterschiedlich waren und sind. Dabei erstaunt, daß Dieter Boris eine ganze Reihe von Faktoren anführt, die diese Unterschiede bewirkt haben könnten, aber nicht auf das Ausmaß eingeht, in dem eine neoliberale Gesellschaftspolitik es geschafft hat, mit „Modernisierungsreformen“ entsolidarisierende Wirkungen zu entfalten. Das war eben in Chile und Uruguay weitaus mehr der Fall als etwa in Brasilien.
Der größte Teil des Buches ist der Analyse der einzelnen Bewegungen gewidmet. Dabei geht Dieter Boris jeweils von einer Schilderung der Strukturprobleme aus, die die Entstehung oder das Wiederaufblühen einer sozialen Bewegung bewirkt haben, also: der Mangel an Land für die Bewegung der Bauern und Bäuerinnen, die kulturelle Benachteiligung für die indigenen Bewegungen, die Wirkungen der Öffnung zum Weltmarkt für die ArbeiterInnenbewegung, Mord, Folter und Unterdrückung für die Menschenrechtsbewegungen, Machismus und männliche Vorherrschaft für die Frauenbewegung, die steigende Belastung der Umwelt für die Umweltbewegung usw. Daran knüpft jeweils eine sehr nützliche differenzierende Übersicht über die Entwicklung der jeweiligen Bewegungen in ganz Lateinamerika an, die schließlich in eine detailreiche Darstellung am Beispiel eines einzelnen Landes mündet.
Daß Brasilien im Unterschied zu allen anderen Ländern gleich dreimal erscheint, hat nicht nur mit der Größe dieses Landes zu tun, welches – nach geographischer Größe und Bevölkerung – fast die Hälfte Lateinamerikas ausmacht, sondern auch mit der größeren Bedeutung, die die sozialen Bewegungen hier eingenommen haben. Die neue Gewerkschaftsbewegung mit ihrer engen Beziehung zur Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores), die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) und die kirchlichen Basisbewegungen innerhalb des größten katholischen Landes der Welt konnten in solch einem Buch einfach nicht fehlen.

Soziale Bewegungen
und Neoliberalismus?
Daß Dieter Boris im allgemeinen die eher erfolgreicheren nationalen Bewegungen als Beispiele für seine Einzeldarstellungen ausgesucht hat, wird man kaum kritisieren können, zumal ja die Einschätzung der Situation in ganz Lateinamerika diesen immer vorausgeht. Das einzige Kapitel, bei dem eine andere Auswahl sicher besser gewesen wäre, ist das Kapitel über die Guerilla, in dem Nicaragua im Mittelpunkt steht. Selbst wenn man zugesteht, daß es sich bei den Guerillas um soziale Bewegungen handeln kann – und in Nicaragua wurden sie 1979 zum Kristallisationspunkt sehr breiter Bewegungen –, läßt sich fragen, ob der Sieg der Sandinisten damals nicht eine untypische Ausnahme darstellt, die ganz besonderen Bedingungen zu verdanken war und ob nicht etwa Kolumbien besser als Beispiel gedient hätte, um die Vielfalt der Probleme zu beleuchten. Wichtig wäre in diesem Kapitel auch gewesen, etwas stärker zu differenzieren. Jedenfalls kann die bündnisunfähige und auch gegenüber der übrigen Linken zum Terror entschlossene peruanische Guerilla Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) ebenso wenig mit den anderen (maoistischen, trotzkistischen, castristischen) Guerillas in einem Atemzug genannt werden wie die zapatistische Guerilla in Chiapas (Mexiko), die sich vom Kampf um die politische Macht offiziell verabschiedet hat und mit den modernsten Methoden weltweiter Kommunikation arbeitet.
Die Menschenrechtsbewegungen in Argentinien um die „Mütter der Plaza de Mayo“, die Avantgarde der lateinamerikanischen Frauenbewegung in Chile, die Bewegungen von ElendsviertelbewohnerInnen in Lima, die erfolgreich agierende indigene Bewegung in Ecuador und die ökologische Bewegung in Mexiko-Stadt, der größten Metropole der Welt mit entsprechend großen Umweltproblemen bieten dagegen gute Gelegenheit, die allgemeinen Probleme der jeweiligen Bewegungen vertiefend zu analysieren.
Wer sich in der deutschsprachigen Welt mit zentralen gesellschaftlichen und politischen Problemen Lateinamerikas beschäftigen will, wird auf die Lektüre dieses wichtigen Buches – auch wegen seines sehr ausführlichen Literaturverzeichnisses – kaum verzichten können.

Dieter Boris: Soziale Bewegungen in Lateinamerika. VSA-Verlag, Hamburg 1998, 254 Seiten.

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