Zwischen Traum und Albtraum
Der peruanische Präsident zeigt in einer desolaten Lage ungebrochenes Selbstvertrauen
Alejandro Toledo hält sich für einen erfolgreichen Staatschef. Während der Feierlichkeiten zum peruanischen Nationalfeiertag zog der peruanische Präsident Ende Juli eine äußerst positive Bilanz seiner bisherigen Arbeit. Zum dritten Mal jährte sich jener Tag, an dem Toledo in einer Phase wirtschaftlicher Stagnation das Erbe des durch und durch korrupten, diktatorischen Fujimori-Regimes übernommen hatte. Seitdem wächst die Wirtschaft ununterbrochen. Mehr noch: Ein triumphierender Präsident konnte verkünden, dass im Jahre 2004 erstmals seit langem die Anzahl der Armen im Land nicht weiter gestiegen, sondern um 420.000 Personen gesunken sei. Toledo predigte Transparenz und präsentierte sich als ein Mann mit blütenweißer Wäsche, der keine Korruption in seiner Umgebung duldet. Entsprechend ermächtigte er die Staatsanwaltschaft, seine persönlichen Bankkonten zu überprüfen, eine Maßnahme, die noch keiner seiner Vorgänger je gewagt hatte. Die Demokratisierung der Gesellschaft sah Toledo nach zehn Jahren Diktatur auf dem richtigen Weg.
Die Worte des Präsidenten klangen, als hätte er zwei Jahre vor Ablauf seiner Amtsperiode bereits seine wichtigsten Ziele erreicht. Aber Toledo ist sich bewusst, dass es da einen kleinen Widerspruch gibt. Denn die Bevölkerung teilt seine Sicht der Dinge nicht. Toledo weiß, dass er der unbeliebteste Präsident seit Beginn der Meinungsumfragen ist und selbst gegen den korrupten Ex-Diktator Alberto Fujimori haushoch verlieren würde, wenn beide bei künftigen Wahlen antreten dürften.
Die Gründe dafür meint der Staatschef gut zu kennen: eine schlechte Kommunikation mit der Bevölkerung, Irrtümer seiner Regierungen und die Verspätung, mit der die Bevölkerung die positiven Auswirkungen des Wirtschaftswachstums spürt. Für die Zukunft wünscht sich der Präsident nun, dass seine Arbeit endlich anerkannt wird. Deshalb plant er, mehrere Millionen Dollar locker zu machen, um die Kommunikation, sprich die Propaganda, der Regierung zu verbessern.
Streik, Aufruhr, Widerstand
Der Präsident sollte die Millionen lieber für andere Projekte sparen. Denn selbst wenn er den gesamten Haushalt für Propaganda ausgäbe, würden ihn die PeruanerInnen vermutlich lieber heute als morgen loswerden wollen. Es brodelt im ganzen Land. In fast allen großen privaten Betrieben wie den Minen, bei Coca-Cola oder dem Bierkonzern Backus wurde zuletzt gestreikt.
Mal sind es miserable Arbeitsbedingungen, die ArbeiterInnen auf die Straße treiben, mal sind Beschäftigte nicht damit einverstanden, dass die Bruttolöhne seit Toledos Amtsübernahme nur um fünf Prozent gestiegen sind, während die Gewinne der an der Börse notierten Unternehmen sich in den letzten anderthalb Jahren mehr als verdoppelten.
Staatliche Angestellte legen immer wieder den Betrieb von Krankenhäusern, Schulen oder Justizbehörden lahm, weil ihre Gehälter nicht zum Leben reichen. Streiks von LehrerInnen in der Andenregion endeten in gewaltsamen Ausschreitungen. Transportarbeiter, unzufriedene Fischer oder Kokabauern blockieren in regelmäßigen Abständen wichtige Verkehrswege. In der Provinz wurden mehrfach Behörden gestürmt und korrupte Politiker, Richter oder Staatsanwälte entführt, abgesetzt oder davongejagt. Nach einer langen Zeit der Friedhofsruhe während des Fujimori-Regimes sind sogar die staatlichen Universitäten wieder zu neuem Leben erwacht: Akademische Einrichtungen im ganzen Land wurden in den vergangenen Monaten von Studierenden besetzt, weil die Studienbedingungen weiterhin auf einem armseligen Niveau stagnieren.
Mitte Juli kulminierte die Unruhe im Land in einem Generalstreik, zu dem Bauernverbände und nahezu alle Gewerkschaften nach Lima riefen. Zehntausende demonstrierten eindrucksvoll ihre Unzufriedenheit mit der Regierung und lösten das Verkehrschaos der Hauptstadt für einen Tag auf ihre Weise.
Und seit Ende Juli der Oppositionskandidat Antero Flores zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt wurde, steht fest, dass Toledo nicht einmal mehr im Kongress eine Mehrheit besitzt. Die parlamentarische Opposition könnte, wenn sie wollte, die Präsident-schaft Toledos von einem Tag auf den anderen beenden. Doch die gegnerischen politischen Parteien haben andere Ziele.
Deren Führer wollen sich für die Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren in eine günstige Startposition bringen. Dabei wissen sie, dass Toledo und seine Partei Perú Posible nach Ablauf der Wahlperiode wahrscheinlich auch ohne ihr Zutun von der politischen Bildfläche verschwinden werden. Je schwächer die Regierung agiert, um so besser können sich potenzielle Oppositionskandidaten jetzt in Szene setzen.
Angesichts der Stimmung im Lande staunen selbst die PolitikerInnen und JournalistInnen, die Toledo nahestehen, wie wenig selbstkritisch ihr Präsident in der Öffentlichkeit auftritt. Dabei ließen Toledos diverse Regierungen nicht nur systematisch das staatliche Bildungs- und Gesundheitssystem weiter verrotten, sie versagten selbst dort, wo der Präsident bei seinem Amtsantritt Akzente setzen wollte.
Probleme mit dem Dreisatz
Denn entgegen aller Beteuerungen in seiner Rede zum Amtsjubiläum ist Toledo weder bei der Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit vorangekommen, noch konnte er mit der Korruption aufräumen. Anfängliche Reformbemühungen in staatlichen Institutionen wurden im Keim erstickt, von einer Demokratisierung des Landes kann keine Rede sein. Die Grundfesten des politischen und wirtschaftlichen Systems aus der Zeit Fujimoris stehen noch.
Besonders nahtlos wird die neoliberale Wirtschaftspolitik des Fujimori-Regimes fortgesetzt, die in erster Linie die Ansiedlung von internationalem Kapital und den Export von Rohstoffen fördert. Eine Steuerreform, die transnationale Konzerne im Minen- und Energiesektor ihren teilweise traumhaften Gewinnen in Ansätzen entsprechend belastet, ist bisher ausgeblieben. Und obwohl der Exportsektor wächst, werden dort wenig Arbeitsplätze geschaffen. Für die mittleren, kleinen und Mikrounternehmen im Lande, die immerhin 45 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beitragen und 75 Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung mit Arbeit versorgen, wird verhältnismäßig wenig getan. Deshalb ist trotz eines wirtschaftlichen Wachstums von vier Prozent im Jahr die Arbeitslosigkeit seit Toledos Amtsantritt nicht gesunken.
Für Toledos Behauptung, in diesem Jahr gebe es 420.000 Arme weniger, finden Experten nur folgende Erklärung: Toledos Redenschreiber hatte offenbar aus dem Zahlenmaterial des Nationalen Statistischen Instituts in einem saisonal günstigen Moment einen relativen Rückgang errechnet und anschließend den Dreisatz falsch angewendet. Eine tatsächliche Reduktion der Armutsquote wird von fast allen WirtschaftswissenschaftlerInnen bestritten.
Brüder, Schwester, Vetter, Basen
Zum Thema Korruption lässt sich Folgendes sagen: Staatschef Toledo verschwieg in seiner Rede, warum er seine Konten von der Staatsanwaltschaft überprüfen lässt. Ganz davon abgesehen, dass niemand weiß, ob der Präsident nicht noch über weitere, unbekannte Konten verfügt, war diese Maßnahme für Toledo ein erfolgreicher Versuch, sich zumindest vorübergehend von einem dringenden Korruptionsverdacht zu befreien. César Almeyda, ein früherer Berater des Präsidenten, sitzt wegen diverser Korruptionsfälle bereits im Gefängnis. Unter anderem wird er beschuldigt, als Regierungsvertreter fünf Millionen Dollar Bestechungsgelder vom kolumbianischen Bierkonzern Bavaria angenommen zu haben, mit der dieser die Übernahme des peruanischen Biermonopolisten Backus sicherstellen wollte.
Der Präsident selbst hatte den Chef der Firma Bavaria zu einem persönlichen Gespräch empfangen. Und gegen Eliane Karp, die Präsidentengattin, läuft derzeit ein Ermittlungsverfahren, weil sie von der Privatbank Wiese, der Hausbank des Fujimori-Regimes, im Jahre 2001 hohe Beträge für angebliche Beratungstätigkeiten erhielt. Die Gelder flossen auf das Konto einer panamesischen Briefkastenfirma. Der Mann, der das Konto eingerichtet hatte, hieß César Almeyda.
Natürlich wäre selbst in dem Fall, dass Toledo oder seine Gattin tatsächlich Bestechungsgelder angenommen hätten, das Korruptionsniveau des Fujimori-Regimes noch längst nicht erreicht. Aber immerhin mussten allein in diesem Jahr schon mehr als ein halbes Dutzend Kabinettsmitglieder ihren Schreibtisch wegen Korruptionsfällen räumen. Brüder, Schwestern, Vettern und Basen des Präsidenten schieben sich und ihrer Verwandtschaft immer wieder attraktive Posten und fette Aufträge zu.
Kein Geld für Reformen und Reförmchen
Unter Anleitung einer Schwester Toledos wurden bei der letzten Wahl sogar massenweise Unterschriften gefälscht, um der jetzigen Regierungspartei Perú Posible den Eintrag ins Wahlregister zu ermöglichen. Bisher waren solche Methoden nur von Fujimori und seiner rechten Hand Vladimiro Montesinos bekannt. Besonders korrupt ist nach wie vor die Justiz. Skandalöse Freisprüche von Mitgliedern der Fujimori-Montesinos-Mafia belegen die Parteilichkeit von unzähligen Richtern und Staatsanwälten.
Immerhin wurde eine Kommission gegründet, die umfangreiche Vorschläge für eine Justizreform vorlegte. Doch angeblich fehlt das Geld für deren Umsetzung. Eine Reform der Streitkräfte und der Polizei scheiterte ebenso wie die Umsetzung der Empfehlungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission, die vor einem Jahr ihren Abschlussbericht über ein dunkles Kapitel in der peruanischen Geschichte vorlegte, den Bürgerkrieg von 1980 bis 1992. Während die zweijährige Arbeit der Untersuchungs-Kommission immerhin Summen in Millionenhöhe verschlang, fehlte plötzlich das Geld für die Zahlung von Entschädigungen und Reparationen an die Opfer. Dass die Armee selbst zehntausende ZivilistInnen ermordete und tausende von Frauen vergewaltigte, scheint zweitrangig zu sein. Die Massenmörder in Uniform dürfen sich weiterhin in Sicherheit wiegen.
Während es für all die Reformen und Reförmchen kein Geld gibt, darf sich die peruanische Armee über den Kauf neuer Fregatten für die Marine und einen Sonderfonds von hundert Millionen zusätzlichen Dollars freuen. Das ist der Weg zur Demokratie, den die Regierung Toledos beschreitet.
Alptraum Realität
Alejandro Toledo sagte in seiner Rede am Nationalfeiertag, er wolle in den kommenden zwei Jahren seine Träume in die Realität umsetzen. Indem er vom Schuhputzer zum Präsidenten aufstieg, schaffte er das schon einmal. In der gegenwärtigen Situation bleibt nur zu hoffen, dass ihm keine Wiederholung gelingt. Denn wenn der Präsident nicht unter Realitätsverlust leidet, müsste er eigentlich von heftigen Albträumen geplagt werden.