Nummer 345 - März 2003 | Uruguay

Zwischen Visionären und Funktionären

nterview mit dem Senator José “Pepe” Mujica

José “Pepe” Mujica, Senator im uruguayischen Parlament für das Encuentro Progresista – Frente Amplio (Fortschrittsbündnis – Breite Front), das Parteienbündnis der Linken in Uruguay, ist Mitglied des MPP, des Movimiento de Participación Popular, der Partei der ehemaligen Tupamaros, der Stadtguerilla in Uruguay, die in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts für ein fortschrittliches Uruguay kämpfte. Der 68-jährige war während der Militärdiktatur von 1973 bis 1984 einer der so genannten “Geiseln des Staates” und verbrachte zwölf Jahre unter menschenunwürdigen Bedingungen in Einzelhaft. Seit sieben Jahren ist er im uruguayischen Parlament vertreten. Seine Gruppierung erreichte bei den letzten Nationalwahlen im Dezember 1999 die meisten Stimmen innerhalb des Linksbündnisses. “Pepe” Mujica ist in Uruguay einer der beliebtesten und einflussreichsten Politiker der Linken. Er versteht es wie kein anderer Politiker, die “Sprache des Volkes” zu sprechen. Alleindurch seine Biografie und seine Haltung steht er für absolute Glaubwürdigkeit. Das Interview mit José Mujica wurde am 5. Februar 2003 in Montevideo geführt, dem 32. Gründungstag der Frente Amplio.

Stefan Thimmel

Argentinien und Uruguay durchleben momentan eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise. Über Argentinien erfährt man einiges in Deutschland, über Uruguay hört man sehr wenig. Wie ist die aktuelle Situation heute in Uruguay, in einer Zeit der Krise des Neoliberalismus in Lateinamerika?

Jemand, der die Situation dort verstehen will, muss damit anfangen, sich den Einfluss der Krise in Argentinien zu vergegenwärtigen. Die Situation im Nachbarland hat hier in Uruguay ihren Widerhall gefunden. In Uruguay wurde schon vor circa 30 Jahren damit begonnen, ein Finanzsystem ähnlich dem in Luxemburg aufzubauen. Das Land wurde immer als eine Art Trampolin benutzt für das Kapital, das aus Argentinien und auch aus Brasilien flüchtete. Man setzte viel auf dieses Finanzierungssystem und das strikte Bankgeheimnis. Hier gab es riesige Bankguthaben, völlig überhöht in Bezug auf das kleine Land. Das Modell funktionierte und wenn eine Bank in eine Krise stürzte, übernahm der Staat alle Garantien. Also, es hatte sich in der Region herumgesprochen, dass Uruguay ein ernst zu nehmender Finanzstandort ist. Und das hat funktioniert bis das Debakel in Argentinien alles weggeschwemmt hat.
Eine argentinische Bank mit einer Filiale in Uruguay, in der 98 Prozent der Einlagen argentinische Gelder waren, brach zusammen und darauf folgte ein Domino-Effekt, durch den fast die Hälfte der Reserven in wenigen Tagen verloren ging. Das war ein Schlag, den noch nicht einmal die staatlichen Banken auffangen konnten, auch die Bank der Republik nicht, die in Uruguay 40 Prozent der Bankgeschäfte betreibt. Von diesem Tag an verlor Uruguay, das gerade eine ernste Krise seines Produktionssektors durchlebte, die Wettbewerbsfähigkeit mit dem Rest der Welt.
Auch dass Brasilien 1999 sein Wechselkurssystem korrigiert hatte, schlug in Uruguay wie eine Bombe ein. Und mit dem De-facto-Wirtschaftszusammenbruch in Argentinien im letzten Jahr stehen wir heute an der Schwelle eines Kollapses, eines “Default”, wie man hier sagt, mit unbezahlten Schulden etwa so hoch wie das Bruttoinlandsprodukt eines ganzen Jahres. Es gibt kein Vertrauen in das System mehr und der Internationale Währungsfonds diktiert immer härtere Bedingungen für weitere Kredite. Das hat eine Serie von Kürzungen in den Staatsausgaben hervorgerufen, um das Staatsdefizit zu verringern.
Der uruguayische Peso hat im letzten Jahr die Hälfte seines Wertes eingebüßt. Ein Desaster für alle, die sich in US-Dollar verschuldet haben. Es gibt wohl eine halbe Million Menschen in Uruguay, die in US-Dollar verschuldet sind, und das in einem Land, in dem drei Millionen Menschen leben. Wegen der Kredit-Krise haben alle ausländischen Banken ihr Geld zurückgezogen und ihren Filialen im Land verboten, Kredite in Dollars auszugeben. Der Staat befindet sich in einem Teufelskreis. Das Bruttoinlandsprodukt betrug 1998 6200 Dollar pro Einwohner, heute wird es bei 3000 Dollar liegen. Dazu gibt es eine offizielle Arbeitslosigkeit von 20 Prozent. Mit diesen Zahlen wird sichtbar, dass Uruguay sich in einer brutalen Krise befindet.

Die Regierung ist ebenfalls in einer großen Krise. Ende 2004 wird in Uruguay gewählt. Wie ist die Sicht der uruguayischen Linken in Bezug auf die Wahlen?

Zwei Jahre ist diese Regierung jetzt an der Macht und sie hat enorm an Glaubwürdigkeit verloren. Die große Frage ist, ob diese Regierung durchhalten wird. Für ein Misstrauensvotum sind 66 Prozent der Stimmen im Parlament notwendig. Das ist nicht wahrscheinlich, da dafür auch einige Mitglieder der Regierungsparteien gebraucht würden. Ich glaube, ideal wäre, wenn die nächsten Wahlen vorgezogen würden. Aber dafür bräuchte man auch ein parlamentarisches Einverständnis. Aber auch das ist unwahrscheinlich. Die Linke ist sich bewusst, dass man in dieser Situation nichts provozieren oder allzu kühne Schritte wagen darf. Das würde nur der extremen Rechten nützen und nicht der Linken. Zumindest denkt das die Mehrheit in der Frente Amplio.

Aber alle Umfragen und die Stimmung im Land gehen von einem Wahlsieg der Linken Ende 2004 aus.

Gut, die Umfragen sagen, dass die Frente die Mehrheit in der ersten Runde der Wahlen erreichen wird. Aber zwei Jahre sind noch viel Zeit. Tatsache ist, dass wir heute nichts voraussagen können. Was gerade passiert hat eine bequeme Logik. Aber die Geschichte ist manches Mal unbequem. Niemand weiß, was in zwei Jahren passieren wird.
Darüber hinaus gibt es einen Umstand, den man im Ausland schlecht einschätzen kann. Hierbei geht es nicht um die Frage der politischen Parteien, sondern um ein Klassenverständnis. Die Klassen, die seit vielen, vielen Jahren das Land regieren, halten alle Privilegien in ihren Händen, stellen die Verwaltung und besetzen alle Posten –seit Jahrzehnten. Es geht also nicht nur um die Frage, welche Partei gewinnt, sondern eben auch um die Frage der Strukturen des Regierens. Diese herrschende Klasse wird sich weigern, ihren Platz zu räumen, sie werden Widerstand leisten und auch bei einem Wahlsieg der Linken die Verwaltung des Landes in ihren Händen halten wollen.

Aber wie sieht die Strategie der Linken aus?

Es ist nicht einfach, die Regierungsstrategie der Linken vorwegzunehmen. Die herrschende Klasse ist sehr einflussreich und sie wird die Realisierung der Projekte der Linken behindern und immer Widerstand leisten. Das ruft bei einigen in der Linken offene Tendenzen hervor, selbst Funktionäre zu werden.
Mir scheint, dass dieses Dilemma in Deutschland, in Brasilien, in Uruguay, überall präsent ist. Auf der einen Seite neigt man dazu eine leicht “verrückte” Linke zu fordern, die Phantasien und Visionen entwickelt. Auf der anderen Seite fordert man eine Linke, die sich bequem mit dem System arrangiert. Und die dann aufhört, links zu sein. Das ist das große Dilemma, von dem ich nicht weiß, wie man es lösen kann. Viele gehen davon aus, dass man nicht mit utopischen Forderungen die Realität herausfordern sollte, da das die Rechten fördern würde. Aber wenn man sie jetzt nicht an den Rand drängt, wo sie kurz vor dem K.O. stehen, dann kommen sie morgen wieder und drängen uns wiederum in die Ecke.

Ist nicht der Wahlsieg Lula da Silvas in Brasilien auch ein Hoffnungssignal für Uruguay?

Nein, ich glaube nicht dass der Einfluss von Lula der Punkt ist. Wichtig ist der Einfluss, den Brasilien hat. Es geht um die Vielfalt des ganzen Ereignisses. Die Realität, in der Lula sich bewegt, wird einen positiven oder einen negativen Einfluss auf uns haben. Es wird zu seinen Gunsten ausgehen, wenn es ihm gelingt, ein wirklich großes Projekt voranzubringen, ein Projekt, dass wirklich große Probleme angeht. Wir werden dann mitgerissen werden. Das Programm “Fome Zero” (Null Hunger) von Lula ist ein Programm innerhalb Brasiliens, das für den Markt 40 Millionen Menschen, die heute marginalisiert sind, zu neuen Konsumenten machen wird. Das ist phänomenal, wenn er das erreicht. Und es sieht so aus, als ob Lula den Mercosur (der gemeinsame Markt von Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay) wieder zum Leben erwecken will. Auch Lulas Ziel: Er will eine eigene politische Kraft entwickeln und sich den Herausforderungen stellen, die aus der von den USA geplanten Freihandelszone ALCA (von Alaska bis Feuerland; mit Ausnahme Kubas)resultieren. Wir brauchen ein unabhängiges Brasilien – das wird großen Einfluss auf Uruguay haben.
Aber klar, wenn sich die Entwicklung Brasiliens mit Lula in ein Debakel verwandelt, wird sie ebenfalls großen Einfluss auf Uruguay haben. Wir haben 600 Kilometer Landgrenze mit Brasilien. Es ist unmöglich, auf mittlere Sicht in Uruguay eine Politik zu planen, ohne die Entwicklung in Brasilien mit zu bedenken.

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