“Zynismus kann viel kritischer sein als ein marxistischer Lehrsatz”
Interview mit dem Schriftsteller und Drehbuchautor Fernando Bonassi zu aktuellen Tendenzen im brasilianischen Kino
Fernando, Estação Carandiru und Cidade de Deus haben in Brasilien einen spektakulären Erfolg gehabt. Wie erklärst du dir das Phänomen des Erfolgs dieser Filme, die von Gewalt handeln, vom Leben der Marginalisierten?
Das, was zurzeit in Brasilien geschieht, ist eine Art „kulturelle Einbeziehung“, die allerdings nicht automatisch mit einer „sozialen Einbeziehung“ gleichzusetzen ist. Die wirtschaftliche Situation ist nach wie vor weitgehend die gleiche wie zuvor. Die Einkommensverteilung erfolgt nicht in der Weise, wie es uns gefällt. Gleichzeitig existiert heutzutage in Brasilien ein sehr wichtiges Phänomen, nämlich das, was ich als „kulturelle Einbeziehung“ bezeichne. Worum geht es dabei? Sowohl im Theater als auch in der Literatur und im Kino wurden die Peripherien der großen Städte nie wahrgenommen. Bis in die sechziger Jahre gab es in der brasilianischen Kultur eine Vision der Stadt als dämonischer Ort, wo der reine Mensch aus dem Landesinneren, der Arbeiter oder der Bauern zerstört wurde. In den Sechzigern und insbesondere in den Siebzigern etablierte sich eine Generation von Schriftstellern und Künstlern, die anfingen, sich den Menschen in den Peripherien der großen Städte zuzuwenden, um ihre Probleme zu verstehen. Das Gefängnis ist ein Symbol dieser Bevölkerungsgruppe, weil diese Leute häufig dort enden. Die Filme zu diesem Thema sind von großer politischer Wichtigkeit, denn so erkennen sich diese Leute im brasilianischen Kino wieder.
Allerdings möchte ich betonen, dass Carandiru und Cidade de Deus in stilistischer und erzählerischer Hinsicht sehr unterschiedlich sind. Der Film von Hector Babenco ist akademischer als der von Fernando Meirelles, welcher über eine größere stilistische Vitalität und Kühnheit verfügt. Im brasilianischen Kino gibt es derzeit mehrere sehr unterschiedliche Strömungen. Hector Babenco (gebürtiger Argentinier, Anm. d. Red.), der schon so lange Zeit in Brasilien verbracht hat, dass er fast schon Brasilianer geworden ist, spielt im hiesigen Kino seit langem eine wichtige Rolle. Im Fall von Fernando Meirelles handelt es sich bei Cidade de Deus erst um seinen zweiter Film nach Domésticas (siehe LN 341). Meirelles hat seine Ausbildung beim brasilianischen Fernsehen gemacht, in den Achtzigern war er sehr wichtig für dieses Medium auf Grund der Modernität und der künstlerischen Qualität seiner Arbeit. Später hat Meirelles dann Werbespots gedreht. Die Agilität der Werbung und des brasilianischen Fernsehens finden sich auch in seinen Filmen wieder.
In verschiedenen brasilianischen Medien wurde Meirelles’ Cidade de Deus eben diese Einflüsse zum Vorwurf gemacht. Es wurde polemisiert, der Film behandele die Gewalt auf unterhaltsame Weise, mit hübschen, aufpolierten Bildern.
Ich halte die Bilder des Films für nicht so hübsch. Es kommt darauf an, was man unter hübsch versteht. Der Film ist, technisch gesehen, sehr gut gemacht, insbesondere in punkto Kamera und Schnitt. Er verfügt über eine stilistische Schönheit und Agilität, die im brasilianischen Kino nicht so verbreitet sind. In Brasilien gibt es immer noch viele Filmemacher, die das Land durch eine ideologische Brille betrachten. Die brasilianische Gesellschaft ist jedoch nicht so ideologisch, und war es nie.
Dagegen hatte der Teil der Linken, die von den kommunistischen Parteien geprägt war, immer eine ideologische Vision der Gesellschaft. In den Sechzigern verstanden die Künstler und die Filmemacher die Gesellschaft als eine Art soziologisches Lehrgebilde. Heute ist dies nicht mehr möglich. Ich, der ich 40 Jahre alt bin, gehöre einer Generation von Künstlern an, die durch das Fernsehen geprägt ist. Meine Art, die brasilianische Gesellschaft zu sehen, stimmt nicht mit dem Bedeutungskanon der besagten Traditionslinken überein, die nach wie vor eine starke Präsenz in der brasilianischen Kultur haben. Ich glaube, die Behandlung, die Cidade de Deus von dieser Seite erfahren hat, war von Neid geprägt, weil es dem Film gelang, mit der Bevölkerung in einen Dialog zu treten. Es handelte sich um ein Massenphänomen.
Klar, der Film hatte auch eine gute Produktionsfirma und einen guten Vertrieb, aber es war die Jugend der Peripherien der großen Städte, die dem Film zu seinem Erfolg verhalfen.
Manche anderen jungen Filmemacher, wie etwa José Henrique Fonseca, Mitbegründer der ziemlich erfolgreichen Produktionsfirma Conspiração Filmes, nehmen sich das Kino von Quentin Tarantino zum Vorbild. Das heißt, sie behandeln die Gewalt in „Pop“-Manier. Das klingt ziemlich zynisch.
Ich denke, der Zynismus ist in der Gesellschaft selbst enthalten. Ich halte Zynismus nicht per se für schlecht. Im Gegenteil: Zynismus kann manchmal viel kritischer sein als ein marxistischer Lehrsatz. Es kommt ganz auf die Umstände an. Ich halte das Kino von Tarantino vom dramaturgischen und erzählerischen Gesichtspunkt aus für innovativ. Diese Agilität und die stilistische Ungehemmtheit ist meines Wissens das, was den Leuten von Conspiração Filmes am Kino von Tarantino gefällt. Allerdings sehe ich durchaus auch die Gefahr, ein schönes und zynisches Kino zu machen. Es gibt viele Filme, insbesondere von Conspiração Filmes, die diese schlechte Eigenschaft haben. Filme, die zu schön sind, und bei denen der Stil im Vordergrund steht, während das Thema sekundär ist. Das halte ich für schlecht. Ich freue mich allerdings auch, sagen zu können, dass diese Filme eine Resonanz in der Bevölkerung haben, weil sie gut gemacht sind.
Zudem erfüllt diese Art von Kino auch eine gesellschaftskritische Rolle.
Wie meinst Du das, dass Zynismus auch kritisch sein kann?
Manche europäischen, lateinamerikanischen und brasilianischen Linken haben eine konservative Haltung in dieser Hinsicht, weil sie glauben, Filme könnten die Probleme einer Gesellschaft lösen. Das ist aber nicht möglich. Ein Kunstwerk kann gesellschaftlich nichts ändern, es markiert höchstens den Beginn einer sozialen Transformation.
Es geht vom filmerischen Standpunkt her nicht mehr um eine marxistische Version wie die, von der das „Cinema Novo“ geprägt war. Dem „Cinema Novo“ gelang nie der Kontakt mit der Bevölkerung, es war ein Kino ohne Zuschauer. Stilistisch und erzählerisch war es äußerst komplex und ausgefeilt, man denke nur an die Filme von Glauber Rocha. Allerdings waren die Filme damals in produktionstechnischer Hinsicht weniger glamourös.
Die stilistische Raffinesse eines Films ist nicht das, was mich besorgt macht. Was mich aktuell besorgt, ist vielmehr die Tatsache, dass die Filme in Brasilien anfangen, ausschließlich von besagten Gewaltthemen zu handeln, während viele andere gesellschaftliche Themen überhaupt nicht vorkommen.
Welche zum Beispiel?
Die Veränderungen auf dem Lande, die Liebesbeziehungen, die Verhältnisse innerhalb der Familien. Oder Themen aus der jüngeren Vergangenheit, die Geschichte der Repression, die Verflechtungen innerhalb der Kulturindustrie, das Fernsehen, die Presse, die Art und Weise, wie in Brasilien Journalismus gemacht wird. Es gibt eine Reihe von Themen, die nicht behandelt werden. Heutzutage findest du, falls du einen Film über die Peripherie der großen Städte machst, auf jeden Fall ein Publikum. Das Risiko ist, das wir uns zu Sklaven des Publikumsgeschmackes machen, auch wenn dieser Geschmack mittlerweile wesentlich besser und kritischer ist als dies früher der Fall war.
Besagte Filme reflektieren die Transformation Brasiliens in ein Land, wo nur die Geschehnisse in den großen Städten öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Ich persönlich bin es leid, immer wieder den gleichen Film zu machen, der sich um die Peripherien der großen Städte dreht und um Gewalt. Dieser Überdruss bezieht sich auf die ganze brasilianische Kultur, nicht nur auf das Kino. Daher versuche ich, mehr Theater zu machen, mehr Literatur, weil man dort nicht so wirtschaftlich unter Druck steht. Heutzutage ist es in Brasilien leichter, eine Finanzierung für einen Film über Gewalt zu bekommen, als für einen Film über ein herkömmliches Thema, weil die Gesellschaft diese Filme sehen will. Ich als Künstler sehe mich aber in einer Gegenposition zur Gesellschaft. Meine Art, Brasilien zu lieben, ist der Dialog, ist, dem Land seine Probleme aufzuzeigen. Die Gewalt ist eines dieser Probleme, ich denke allerdings, dass es zurzeit eine Inflation davon gibt.
Dies und die relative Entpolitisierung des brasilianischen Kinos sind allerdings für mich zweitrangige Probleme. Wichtig ist, das wir noch nie so viele Zuschauer hatten. Beto Brant ist zum Beispiel jemand, der mit sehr wenig Geld sehr schöne und technisch gute Filme macht. Ein Film wie O Invasor, der ungefähr 800.000 Zuschauer gehabt hat, hat nur eine Million Dollar gekostet, was äußerst wenig Geld ist. Die Filme von Beto Brant stehen heute dafür, wie man mit wenig Geld ein großes Publikum erreicht. Regisseure wie er und Fernando Meirelles sind keine Linken. Es sind Leute, die einen bürgerlichen Hintergrund haben. Gleichzeitig machen sie in Brasilien ein Kino, das sehr viel Sozialkritik enthält.
Du selbst bist allerdings durchaus ein Linker, nämlich Mitglied der PT. Wie siehst du denn deine Rolle? Andere progressive Künstler beteiligen sich aktiv an Lulas Regierungsprojekt, allen voran Gilberto Gil als Kulturminister.
Mein Engagement ist das eines Bürgers, der Mitglied der PT ist. Ich versuche Druck auszuüben, damit sich Dinge ändern, die ich für ungerecht halte. Ich engagiere mich in São Paulo in einer Gruppe, die sich „Kunst gegen die Barbarei“ nennt, und die sich dafür einsetzt, dass alle Kunstwerke, auch Theater beispielsweise, mit Steuereinnahmen unterstützt werden. Was Gilberto Gil angeht, so muss er beispielsweise das Gesetz über die Audiovisuellen Medien ändern.
Das von Fernando Henrique Cardoso eingeführte Gesetz über die Audiovisuellen Medien erlaubt es Privatunternehmen, das Geld, das sie in Filme investieren, von der Steuer abzusetzen. Mitte der Neunziger half es der brasilianischen Filmindustrie, sich von dem finanziellen Kahlschlag der Ära Collor de Mello zu erholen. Hältst du dieses Gesetz mittlerweile für überholt?
Die derzeitige Gesetzgebung verwandelt die Künstler in Dienstleister der Unternehmer. Bestimmte Themen kommen im brasilianischen Kino nicht vor, weil die Unternehmer nicht bereit sind, diese Art Filme zu finanzieren. Das Geld, was sie in die Filme stecken, ist allerdings nicht ihres, sondern es handelt sich, da es von der Steuer abgesetzt wird, um öffentliches Geld. Und wenn dem so ist, solltest du als Unternehmer nicht bestimmen dürfen, welcher Film damit gemacht wird. Du müsstest dieses Geld in einem öffentlichen Fonds deponieren, der von Vertretern der Gesellschaft verwaltet wird, so dass diese bestimmen können, welche Filme produziert werden.
Das derzeitige Modell der Filmfinanzierung bewirkt, dass sich das Geld auf die großen Filmprojekte konzentriert. Den jungen Filmemachern gelingt es nicht, sich zu etablieren und ihren ersten langen Spielfilm zu produzieren. Daher gibt es im Moment keine Erneuerung im brasilianischen Kino, weder in personeller noch in thematischer Hinsicht. Heutzutage gibt es ein enormes Interesse daran, Kino zu finanzieren. Die Verteilungsmechanismen innerhalb der Kultur müssen allerdings demokratisiert werden.
Dies alles erzähle ich in dem Zusammenhang, das Carandiru und Cidade de Deus zusammen zehn Millionen Zuschauer erreicht haben. Das ist wunderbar. Ich spreche von einem Ort, von einem Augenblick, der sehr kreativ und produktiv ist. Mein Ziel als Künstler ist es, nichtsdestotrotz kritisch zu sein, und zwar nicht nur in Zeiten der Widrigkeiten, sondern auch in den Zeiten der Prosperität, die wir gerade durchleben.