Editorial | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

Argentinien – Die Hoffnung kommt von oben

Argentinien überraschte in seiner Geschichte ein ums andere Mal mit abrupten Kehrtwendungen im Plot. Vor einem Jahr riefen die DemonstrantInnen noch: „Alle sollen abhauen“. Heute wird der neue Präsident Néstor Kirchner wie ein Deus ex Machina gefeiert, als. Noch vor kurzem glaubten wir, Argentiniens Hoffnung komme von unten. Nun sieht es so aus, als käme sie von oben: „Hurrikan K“ räumt auf. In Argentinien kann sich keiner erinnern, wann zum letzten Mal – wie jetzt – die einzige Kritik der Medien an einem Präsidenten darin bestand, dass er zu viele Probleme auf einmal anginge.

Ein wenig Skepsis war freilich zunächst angebracht. Die positive Entwicklung der Wirtschaft in den letzten Monaten begünstigte Kirchner, ohne dass er viel dazu beigetragen hat. Seine Maßnahmen gegen die Korruption erweckten manches Mal den Eindruck, als seien sie vor allem dazu da, gegen einige allzu eklatante Skandale vorzugehen. Damit sicherte er sich schnell die Unterstützung des Volkes. Denn die hat Kirchner nötig, fehlt ihm doch der politische und wirtschaftliche Machtapparat, auf den sich argentinische Präsidenten gewohnheitsmäßig stützten. Zudem ging es allen Berichten zufolge unter Kirchner als Gouverneur in Santa Cruz nicht weniger korrupt zu. So mochte man hinter seinem Handeln nicht immer nur edle Motive vermuten.

Doch die Überzeugungskraft solcher Einwände verblasst im Lichte zweier Ereignisse des vergangenen Monats: Beide Kammern des Kongresses erklärten beide Gesetze für verfassungswidrig, die die Straffreiheit der Verbrecher der letzten Militärdiktatur besiegelten. Außerdem wurde ein Dekret widerrufen, das die Auslieferung argentinischer Staatsbürger für in Argentinien begangene Straftaten verbot. Kirchners Verdienst an dieser Entwicklung ist unumstritten. Auch wenn es sich in beiden Fällen nicht um Entscheidungen aus dem Präsidentenpalast handelte – ohne Kirchners stetigen Druck von oben wären sie undenkbar gewesen. Jahrelang hatte man in Argentinien gegen die Gesetze gekämpft, die die Verbrecher der Diktatur schützte. Zunächst mag es deshalb so aussehen, als sei die neuerliche Kehrtwende ein Verdienst aller Argentinier, der nur zufällig mit Kirchners Präsidentschaft zusammenfällt.

Das stimmt aber so nicht. Denn Kirchner bereitete die Änderungen sorgfältig vor: Kaum im Amt wechselte er die Militärspitze aus. Auch sein Vorgehen gegen jene Mitglieder des Obersten Gerichtshofes, die dem Militär wohl gesonnen waren, erscheint nun in neuem Licht.

Die Abschaffung des Auslieferungsverbotes ist dagegen sehr wohl umstritten. Vor allem, weil die Gesetzesänderung ganz offensichtlich im Zusammenhang mit einem Auslieferungsgesuch des spanischen Richters Baltasar Garzón für 46 argentinische Militärs steht. Gerade hier bietet Kirchner der zersplitterten Opposition die Chance, sich unter dem stets Erfolg verheißenden Banner der nationalen Souveränität zu sammeln. Von Opportunismus kann also eigentlich keine Rede sein. Kirchners starke Hand gegen das Militär scheint dennoch ein populär genialer Schachzug zu sein. Kann er damit doch – besser als mit jeder ökonomischen Schnellschussmaßnahme – die Glaubwürdigkeit der Politik und die Loyalität der Bevölkerung gegenüber der argentinischen Regierung wieder herstellen und festigen. Auch wenn die argentinische Geschichte Skepsis mit Präsidenten gelehrt hat, Kirchner hat innerhalb kürzester Zeit das Vertrauen der meisten Argentinier gewonnen – eine Tatsache, die wahrscheinlich niemand für möglich gehalten hätte.

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