Editorial | Nummer 285 - März 1998

Cineastische Welten – zwischen Realität und Fiktion

Endlich einmal hat unsere Redaktion Gelegenheit zur Gratulation. Fast 25 Jahre sind wir in jeden lateinamerikanischen Film auf der Berlinale gerannt, bis endlich einmal ein Südamerikaner einen „Goldenen Bären“ gewinnt. Nun also: Herzlichen Glückwunsch, Walter Salles! Der brasilianische Regisseur erhielt die Auszeichnung für seinen Film „Central do Brasil“, der von der Verlorenheit und Heimatlosigkeit im urbanen Brasilien und von der Suche nach den eigenen Wurzeln handelt. Die Vergabe des Edelmetalltiers an einen Film aus der „Dritten Welt“ konterkariert förmlich das Bemühen der Festivalleitung, die Berlinale zu einer reinen Promotions-Veranstaltung für Leinwandproduktionen der reichen Länder und vor allem der USA verkommen zu lassen. Mittlerweile bedanken sich die Global players der Filmbranche beim Berliner Publikum immer weniger durch die Anwesenheit internationaler Stars oder Sternchen. Zu sicher sind sie sich ihrer Kinoerfolge, die meist schon in der Berlinale-Woche in deutschen Kinos anlaufen.

Bei der Preisverleihung freute sich Bärengewinner Salles vor allem darüber, daß er sich mit seiner vergleichsweise billigen Produktion gegen die millionenschwere Konkurrenz aus Kalifornien durchsetzen konnte. „Brasilien schlägt Hollywood“ titelte denn auch der Berliner „Tagesspiegel“. Daß ein Stadtteil von Los Angeles mit dem größten Land Lateinamerikas auf eine Stufe gestellt wird, ist etwas arrogant. Schlimmer ist jedoch, daß die Wirklichkeit dieser Wertung zunehmend entspricht. Das Schicksal der globalisierten Welt wird von immer weniger Leuten an immer weniger Orten bestimmt. Und die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Politik und Manipulation verfließen.

Auf diesen schlüpfrigen Boden hat sich auch die letzte Berlinale gewagt – und Erstaunliches zutage gefördert. Wer dachte, die jüngste „Sex-Affaire“ von Oberyankee Clinton diente nur zur Rechtfertigung eines erneuten Feldzuges der zivilisierten Welt gegen den „Satan“ Hussein, setzt sich spätestens seit der Vorführung der Hollywood-Produktion „Wag the Dog“ dem Vorwurf der Naivität aus. Ist Monica Lewinski nicht bloß ein geschickter Werbecoup der PR-Abteilung des Concorde-Filmverleihs? Diese Frau gibt es vermutlich ebenso wenig wie die genialen Treffer der amerikanischen High-Tech-Kriegsmaschinerie im Irak. Das ist die Botschaft von „Wag the Dog“. Das Reality-TV gehört der Vergangenheit an. Die virtuelle hat die reale Wirklichkeit abgelöst, ja sie eilt ihr bisweilen voraus.

Bei der Berlinale fiel auf, daß außer argentinischen und brasilianischen Filmen keine lateinamerikanischen Produktionen Eingang in den Kreis der insgesamt 800 Streifen fanden. Dafür machten sich mehrere Regisseure aus dem Norden auf, etwas über Mexiko und Kuba zu erzählen. Dabei können gerade diese Länder auf eine lange und erfolgreiche cineastische Geschichte zurückblicken. Darf in Zeiten knapper Kassen der fremde Blick die eigene Wirklichkeit ersetzen? Bei allen gutgemeinten Absichten und allem respektvollen Herangehen an den Zapatistenaufstand oder an die kubanische „Sonderperiode“ – es bleibt ein Blick aus den Metropolen auf die Peripherie. Der Goldene Bär ist eine – beachtenswerte – Ausnahme.

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