Editorial | Nummer 353 - November 2003

Die Hartnäckigkeit des Südens

Etwas Unerhörtes ist geschehen. Eine Gruppe von Entwicklungs- und Schwellenländern hat sich zusammengefunden – und sich in den fünftägigen Verhandlungen der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) im September in Cancún nicht weichklopfen lassen. Bis zuletzt hat sich die in Cancún von Brasilien angeführte „G21“ geweigert, die Verhandlungsagenda von USA und Europäischer Union zu akzeptieren. Waren es 1999 in Seattle noch die Widersprüche zwischen Washington und Brüssel, so scheiterte die WTO-Konferenz diesmal an den tief greifenden Interessenunterschieden zwischen Nord und Süd.

Die Arroganz des Nordens bescherte den vor einigen Monaten als „Gruppe der 16“ gestarteten Ländern in Cancún sogar weiteren Zulauf. Selbst mit einer von der US-Delegation angekündigten „Nacht der langen Messer“ konnten die Delegationen aus dem Süden in nächtlichen „Beichtstuhlgesprächen“ nicht gefügig gemacht werden. Nur das kleine El Salvador scherte aus. Das nimmt nicht Wunder, hat das Land doch eine den USA willfährige Regierung und zudem nach der gesetzlich verfügten Dollarisierung vor zwei Jahren ohnehin fast keine wirtschaftspolitische Selbständigkeit mehr.
Erstmals haben die Länder des Südens in der WTO deutlich ihre Stimme erhoben und – wichtiger noch – damit auch Erfolg gehabt. Die G21, der auch China, Indien oder Südafrika angehören, vertritt immerhin rund 60 Prozent der Weltbevölkerung und steht damit für riesige Märkte, die von den Industrieländern nicht ohne weiteres übergangen werden können.

Für die zahlreichen lateinamerikanischen Mitglieder der G21 währte die Freude aber nur kurz. Der US-Handelsbeauftragte Zoellick drohte den renitenten Ländern bei Abschluss der Konferenz unverhohlen mit Konsequenzen. Mit ihren zahlreichen handels- und wirtschaftspolitischen Druckmitteln benötigten die USA denn auch nur wenige Wochen, um Peru, Kolumbien und Costa Rica zum Austritt aus der G21 zu drängen.

Die Zeit drängt für die USA. Bereits Ende November treffen sich die Regierungschefs der 34 Länder des Kontinents (nur Kuba ist nicht dabei) in Miami, um über die Gesamtamerikanische Freihandelszone (ALCA) weiterzuverhandeln. Aber die Zeichen für ALCA stehen nicht gut. Bislang wurden auf Druck der USA die Agrarfragen aus den Verhandlungen ausgenommen. Mit dem Verweis, dass diese ja Thema der WTO seien. Doch Brasilien, das als Sprecher der G21 in Cancún eine deutliche internationale Aufwertung erfahren hat, gibt nun selbstbewusst vor, dass der Abbau der Handelshemmnisse im Agrarsektor ein unverzichtbares Element der ALCA-Verhandlungen sei. Unterstützung erfährt Brasilien von Argentinien und von Venezuela – das unter Präsident Chávez ohnehin im Clinch mit den USA liegt –, auch wenn das Agrarthema dort keine so große Bedeutung hat. Falls diese Länder sich dem Diktat aus Washington nicht beugen, wird es mit dem geplanten Start des mit 800 Millionen Menschen und einer Wirtschaftsleistung von rund 13 Billionen US-Dollar größten Wirtschaftsraumes der Welt bis 2005 nichts werden. Vor allem Brasilien und Argentinien setzen zurzeit eher auf eine Vertiefung des MERCOSUR und eine stärkere Anbindung an die EU.

Das Scheitern der Verhandlungen von Cancún bedeutet nicht das Ende der WTO, und auch ein Ende der wirtschaftlichen Hegemonie der USA über Lateinamerika ist noch längst nicht in Sicht. Und ein größerer Einfluss der EU in der Region kommt keineswegs automatisch der verarmten Bevölkerungsmehrheit der lateinamerikanischen Länder zugute sowenig wie offene Agrarmärkte den südamerikanischen Kleinbauern. Trotzdem sind diese Entwicklungen Grund zur Genugtuung. Ganz so einfach beugen sich die Länder des Südens nicht mehr den Vorgaben aus dem Norden.

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