Editorial Ausgabe 245 – November 1994
Jean Bertrand Aristide hat wieder haitianischen Boden unter den Füßen. Unter dem Jubel der Bevölkerung ist er drei Jahre nach seinem Sturz wieder in den Präsidentenpalast von Port-au-Prince eingezogen. Die Putschisten um den Juntachef Raoul Cédras haben das Land unter dem Druck der US-Streitkräfte und der Bevölkerung verlassen. Ihre Zeit war abgelaufen. Daran haben auch die Terroraktionen der Junta-Schergen nach der Invasion nichts mehr ändern können. Das anfangs untätige Danebenstehen der US-Soldaten schien ihnen recht zu geben. Angst, Verzweiflung und ein paar tote US-Amerikaner, so das von Somalia abgeguckte Kalkül der Mörderbanden, und in den USA sähe sich Clinton einer schäumenden Öffentlichkeit gegenüber, die nach sofortigem Rückzug schreit. Aber Haiti ist nicht Somalia. Dort hatten die Clans wenigsten noch partiell die Unterstützung der Bevölkerung. Nicht so in Haiti.
Die USA sahen sich schon nach zwei Tagen in eine Rolle gedrängt, die sie nicht haben wollten. Hatte das von Ex-Präsident Carter ausgehandelte Abkommen gerade noch gesichert, daß man kampflos einmarschieren konnte, so konnte man die zunächst verkündete “herzliche Zusammenarbeit mit den haitianischen Sicherheitskräften” schon nach den ersten Bildern von totgeprügelten DemonstrantInnen nicht mehr aufrechterhalten.
So lief alles anders als gedacht: Im Unterschied zu vielen Prognosen vorher hat auch die haitianische Bevölkerung nicht massenhaft gelyncht, nicht im großen Stil Jagd auf ihre ehemaligen Knechter gemacht. Das Problem für die nun Ordnungsfunktionen ausübenden US-Truppen waren die Anhänger der Diktatur, nicht die des gewählten Präsidenten. Ob das so bleibt, hängt sicher wesentlich davon ab, ob Aristide seiner Funktion als versöhnungsstiftende Integrationsfigur gerecht werden kann – und ob die USA ihn lassen. Denn über eine bewaffnete Hausmacht verfügt der Präsident nicht, die Durchsetzung der Regierungsgewalt obliegt den US-Einheiten. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie der Frust über eine eventuelle Amnestie in Haß gegen die alten Schergen umschlägt – und die Sympathie der Weltöffentlichkeit für Aristide sich in Ablehnung und Mißtrauen verwandelt.
Dann könnte wieder die Stunde der starken Männer schlagen. Cédras und Co. sind außer Landes, aber die Hydra hat viele Köpfe, und auch die ökonomische Elite, die den Putsch herbeiwünschte, ist noch dieselbe. Das Militär als Institution lebt, und nichts deutet darauf hin, daß sich dies bald ändern könnte. Zumal die USA in den drei Jahren der Krise alles taten, um das einst von ihnen geschaffene Militär als Institution zu retten.
Dennoch: Die triumphale Rückkehr von Aristide ist das Symbol für vier Wochen, die anders verliefen als gedacht: Kurz nach der Invasion sprachen alle nur noch davon, wann Aristide seinen Rücktritt einreichen würde: Noch in Washington oder erst bei der Ankunft auf Haiti. Angekommen ist er, und auf dem Präsidentenstuhl sitzt er auch. Aber der haitianische Boden ist trocken und brüchig; Lavalas, die Bewegung die Aristide nach oben schwemmte, ist zur Zeit nur ein Rinnsal. Und bei wirklichen Veränderungen im Sozialgefüge und in der Wirtschaft könnten die USA ihm den Stuhl ohne viel Aufhebens wieder unter dem Hintern wegziehen. “Nur weil einer schöne Zähne hat, ist er noch lange nicht Dein Freund”, lautet ein haitianisches Sprichwort.