Editorial Ausgabe 275 – Mai 1997
Ana García Rodriguez lebt seit sechs Jahren in San Fernando Valley nahe Los Angeles. Sie ist 36 Jahre alt, Mutter von drei Kindern und hat einen mexikanischen Paß. Die zwei Söhne sind in Kalifornien geboren, die Tochter in Mexiko. Der Vater der drei hat sich vor längerer Zeit aus dem Staub gemacht. Ana arbeitet als Haushälterin. Morgen müssen sie und ihre Tochter die USA verlassen, die beiden werden “rückgeführt”.
Ana ist Fiktion, die “Rückführung” bald Realität. In den USA sind am 1. April neue, verschärfte Asyl- und Einwanderungsgesetze in Kraft getreten. Sie betreffen sowohl die bereits in den USA lebenden “Illegalen” als auch die, die erst noch ins Land gelangen wollen.
Zwei Beispiele: Konnten “Illegale” bislang eine Abschiebung umgehen, wenn sie nachwiesen, daß sie bereits sieben Jahre oder länger in den USA lebten und eine Deportation sie in eine Notlage bringen würde, hat sich diese Regelung mit dem 1. April extrem verschärft. Jetzt müssen es zehn Jahre sein und die Notlage wird vom direkt Betroffenen auf dessen Verwandte verlagert. Im Klartext: Sollten die Söhne Anas durch eine Abschiebung von Mutter und Schwester in eine existentielle Notlage und Härte geraten, ist von der Deportation abzusehen. Ein wachsweiches Gesetz, zugeschnitten auf das Ermessen des jeweiligen Richters.
Auch für Asylsuchende hat sich die Situation deutlich verschlechtert. Mußte bislang allen das Recht auf eine Anhörung gewährt werden, liegt die Beweislast nun von Beginn an beim Asylsuchenden. Er oder sie muß die Offiziere der amerikanischen Einwanderungsbehörde INS bereits beim Grenzübertritt von der Dringlichkeit und Seriösität des Asylwunsches überzeugen. Glaubt ihnen der Offizier nicht, werden sie sofort abgeschoben.
Angst und Wut wegen des neuen Gesetzes hat sich vor allem unter US-Latinos und -Latinas breitgemacht. Sie sind die Hauptbetroffenen des neuen Gesetzes, denn weit über die Hälfte der schätzungsweise rund fünf Milionen “Illegalen” in den USA stammen aus Lateinamerika; zweieinhalb Millionen von ihnen haben die mexikanische Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen leben seit Jahren in den USA. Ihre Aufenthaltsgenehmigungen oder Touristenvisa sind längst abgelaufen. Lange war das kein Problem, die Gefahr als “IllegaleR” aufzufliegen gering. Sie waren geduldet und als billige Arbeitskräfte sogar gewünscht. Mit der Rezession in den 80ern keimte aber auch die Fremdenfeindlichkeit wieder auf. An dem für die USA so typischen Gemisch aus Verteilungskampf und ethnischen Konflikten war die Lunte gelegt.
Die Beratungsstellen kamen in den letzten Monaten kaum mehr zum Durchatmen, so stark war die Nachfrage nach Information und Hilfe. Viele Latinos und Latinas standen vor der Frage, ob sie sich selbst anzeigen sollten, in der Hoffnung anschließend mittels eines Prüfverfahrens innerhalb der bis April 1998 festgeschriebenen Übergangsphase ihren Status legalisieren zu können. Ein Patentrezept gab und gibt es nicht. Das apokalyptische Szenario einer Zwangsdeportation zehntausender Latinos ist sicher übertrieben, mit Massenabschiebungen ist nicht zu rechnen. Das haben auch die ersten zwei Wochen nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes gezeigt.
Die Regierungen südlich des Rio Grande protestierten energisch und lautstark gegen die rassistische Gesetzgebung des Nachbarn im Norden. Ein zweifelhafter Pathos, denn der Grund für die geharnischten Töne ist wohl eher in der Angst zu suchen, den Abgeschobenen keine Perspektive bieten zu können, als wahre Anteilnahme an ihrem Schicksal. Tatsächlich wäre es für die angeschlagenen, vom Neoliberalismus gebeutelten Volkswirtschaften Mexikos und Zentralamerikas ein herber Schlag, würden Zehn- oder gar Hunderttausende aus den USA in ihre Ursprungsländer abgeschoben.
Jenseits der persönlichen Dramen haben die Gesetze eine weiter negative Qualität: Die USA sind qua Geschichte und Selbstverständnis ein Einwanderungsland. Anders als Deutschland gilt hier nicht das ius sanguinis, das von der Abstammung hergeleitete Staatsbürgerrecht, sondern das ius soli, das vom Ort der Geburt hergeleitete. Wer in den USA geboren ist, ist US-BürgerIn. Das bedeutete aber nie, daß Vater und Mutter deshalb automatisch ein Bleiberecht erwirkten. Diese Negation der Verwandtschaft soll in Zukunft verschärft kontrolliert und erfüllt werden. Ana García Rodriguez und ihre Tochter müssen gehen, wenn die Behörden es wollen.