Grenzenlose Kunst

Sie hält eine wehende Flagge in ihren Händen. Die dunkelhaarige Frau mit Cowboyhut steht auf sandigem Boden und streckt ihren Körper einem rostigen Zaun entgegen, der sie um mehrere Meter überragt. Die Fahne ist aus der mexikanischen und US-amerikanischen Nationalflagge zusammengenäht und der Blick der Frau scheint über den Grenzzaun hinwegzusehen, der Mexiko und die USA trennt und verbindet. Dies ist das Cover-Foto des Bildbandes „La Frontera“ von dem deutschen Fotografen Stefan Falke. Darin finden sich Portraits von Künstler_innen, für die er seit 2008 an der Grenze zwischen Mexiko und USA unterwegs gewesen ist. Das Langzeitprojekt wurde bereits in Washington DC, Tijuana, Südkalifornien und Frankfurt am Main ausgestellt und wird von Falke weiter fortgesetzt.
Der Bildband gleicht einer Reise durch verschiedene Ausstellungen, Ateliers und Performances. Künstler_innen aus den verschiedensten Genres wie der Malerei, der Musik oder auch dem Tanz und der Fotografie werden zusammen mit ihrer Kunst fotografisch dargestellt. Da dieser Bezug zwischen Künstler_in und Kunstwerk immer sehr deutlich ist, wirken die Bilder oft dokumentarisch und wie Pressefotos. Vielleicht fehlte ihm bei der Portraitierung hunderter Künstler_innen schlichtweg die Zeit für die einzelne Person oder aber er wollte sie genau auf diese Weise darstellen; nüchtern und ohne viel seiner eigenen Note. Leider überzeugen die meisten Fotografien von Falke daher nicht als eigenständige Kunstwerke, sondern wirken wie eine reine fotografische Bestandsaufnahme.
In jedem Fall ist das Projekt, das er vorstellt, spannend. Falkes Arbeitsweise wird zu Anfang des Buches in einer Reportage von Claudia Steinberg beschrieben, die ihn eine Zeit begleitete und wird von einem Portrait Falkes von Claudia Bodin ergänzt. Hier wird deutlich, welches Motiv Falke hat: Er will ein hoffnungsvolles, lebendiges Mexiko zeigen und nicht das gefährliche und kriminelle Bild unterstützen, das in den Medien vorrangig präsent ist. Trotzdem setzt er sich gezwungenermaßen in seinen Fotografien mit beiden Gesichtern Mexikos auseinander, denn bei vielen mexikanischen Künstler_innen ist genau diese Zwiespältigkeit ein Leitmotiv ihrer Kunst.
Begleitet werden die Bilder von literarischen und essayistischen Texten der mexikanischen Autor_innen Orfa Alarcón, Rogelio Guedea, Yuri Herrera, David Toscana und Dolores Dorantes auf Deutsch und Spanisch. Sie behandeln das Thema der Grenze auf sehr unterschiedliche Weise. Einige sind sehr verstörend, während andere informativ und mit Humor geschrieben wurden. Ein seltsamen Beigeschmack hinterlässt die Geschichte „Bruder und Schwester/ Hermanos“ von Orfa Alarcón in der es um einen Jungen und ein Mädchen geht, die als Geschwister aufwachsen. Während sie glaubt, dass sie leibliche Geschwister sind, weiß er bereits, dass es nicht so ist. Einvernehmlich schlafen sie auf dem Weg von Mexiko in die USA miteinander.
In dem geradezu philosophische Essay „Rege Grenzen/ Fronteras movedizas“ von David Toscana wird zum einen aufgezeigt, wie oft und unter welchen Umständen sich die Grenze zwischen Mexiko und den USA immer wieder verschoben hat. Zum anderen geht es darum, wie unterschiedlich Grenzen auf der Welt sind und mit welcher Willkür der Mensch Grenzen zieht.
Einen Vergleich zu anderen Grenzen zieht auch Michele Sciurba in dem Vorwort „3144 Kilometer Grenze/ 3144 kilómetros de frontera“ ganz zu Anfang des Buches. Der Text stellt Bezug her zu dem immer konfliktreicheren Thema Grenzen im globalen Sinne und sollte nicht überlesen werden. So geht es auch um den Mauerfall zwischen DDR und BRD, der dieses Jahr 25-jähriges Jubiläum feiert, sowie die Abschottung der Grenzen der EU, durch die Hunderttausende in den letzten Jahren gestorben sind.
Wer vor allem Fotografien an der Grenze zu Mexiko erwartet und dabei eine künstlerische Umsetzung wünscht, wird wohl eher enttäuscht werden. Doch ist dieser Bildband durchaus empfehlenswert, da in den Fotografien viele verschiedene Künstler_innen vorgestellt werden und Mexiko-Liebhaber_innen vielleicht den einen oder anderen Künstler bzw. Künstlerin bereits kennen. Zudem sind die Texte rund um das Thema Grenze(n), literarisch ansprechend und arbeiten spannende neue Aspekte heraus.

Stefan Falke // La Frontera. Die mexikanisch-US-amerikanische Grenze und ihre Künstler // Edition Faust // Frankfurt am Main 2014 // 38,00 Euro // www.editionfaust.de

Die Magie des Candomblé

Ein ethnographischer Film ist ein Film, in dem ein Huhn geschlachtet wird,“ heißt es. Gilt gleiches auch für die Fotografie? In Mario Cravo Netos Bilderserie „TRANCE_TERRITORIES“ über den Candomblé in Bahia häufen sich die Bilder von Federn sowie von toten und lebendigen Hühnern. Oder sind es doch eher Ziegen als Hühner? Und wenn es nicht die Federn selbst sind, ist es das rotschimmernde Kleid des sich herumwirbelnden Tänzers, das eine solche Assoziation weckt.
Der brasilianische Fotograf Mario Cravo Neto zeigt in seinem Bildband Nahaufnahmen aus der Welt des Candomblé, von rituellen Gegenständen und Handlungen, von Tänzern und Tänzerinnen in Trance, fotografisch ausgedrückt durch eine spannungsvolle Unschärfe. Es sind sehr dynamische Bilder von Wirbeln und Bewegung. Bewegte und bewegende Momente erscheinen eingefroren und fixiert in der Fotografie Cravos. „Einem Magier gleich verwandelt er die schlichte Realität durch einen alchimistischen Prozess in Magie,“ schreibt der Candomblé-Meister Ildásio Tavares über den Fotografen. Cravo Neto ist selbst seit vielen Jahren ein Initiierter des Candomblé. Er versucht in seinen Bildern, „neue Dimensionen des Lebens zu entdecken, die wir mit unseren an den Alltag gewöhnten Augen nicht sehen“, so Ildásio Tavares. Cravo Neto selbst bezeichnet TRANCE_TERRITORIES als das vorläufige Resultat einer langjährigen inneren Erfahrung und poetischen Interpretation seiner Religion, des Candomblé.
Typisch für die Fotos dieser Serie ist eine sehr geringe Tiefenschärfe. Oft muss das Auge des Betrachters erst einen ruhigen Punkt suchen, um zu erkennen, was es sieht. Doch manche Bilder wollen auch nach längerem Betrachten nicht gegenständlich werden.
Cravo Neto liebt die Durchgänge und Durchblicke, die den Blick ins Weite oder auf Details eröffnen, ein Blick durch etwas hindurch oder hinter etwas hervor. Immer wieder leben die (meist farbigen) Bilder von Licht und Schatten, vom warmen Licht des Kerzenscheins auf den Altären und seinen Schatten auf der Wand. Die übernatürlichen und sinnlichen Erfahrungen des Kultes zeigen sich eindringlich in den 88 Fotos.
Der Bildband erschien anlässlich der Ausstellung „Schwarze Götter im Exil. Fotografien von Pierre Verger und Mario Cravo Neto“, die 2004 im Ethnologischen Museum in Berlin zu sehen war. Cravo Neto setzt mit seiner Bilderserie das Werk seines 1996 verstorbenen Freundes Pierre Verger fort. Wie kein anderer Fotograf des 20. Jahrhunderts hat der französische Ethnologe, Reporter und Fotograf Pierre Verger die kulturelle Verbindung zwischen den drei Kontinenten Afrika, Amerika und Europa erforscht und dokumentiert und gilt als einer der Wegbereiter der visuellen Anthropologie. Er betonte bereits in den vierziger Jahren die identitätsstiftende Bedeutung von Alltagsriten wie dem Candomblé. Verger lebte von 1946 bis zu seinem Tod in Salvador de Bahia.
Susanne Schmitz

Alle Bilder sind auch auf der Seite http://www.schwarze-goetter-im-exil.de/deu/cravo-neto/fotos/img-20.html einsehbar.
Cravo Neto, Mario (2004): „Trance_Territories“. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn
Ausstellung „Schwarze Götter im Exil“: Frankfurt am Main, Museum der Weltkulturen, 16. Februar – 5. Juni 2005; Stuttgart, Linden-Museum, 25. Juni – 18. September 2005; München, Staatliches Museum für Völkerkunde, 13. Oktober 2005 – Ende Januar 2006; Leipzig, Grassimuseum, 2006; Bremen, Überseemuseum, 2006.

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