„Jeden Morgen bin ich erleichtert, dass er noch da ist!“

Über den Dächern von Ciudad Bolívar Der Eukalyptusbaum als Hoffnungssymbol (Foto: Ingolf Bruckner)

Don Héctor, Leiter der Gemeindebibliothek Senderos de Progreso, nennt ihn nuestro abuelo sabedor („unseren weisen Großvater“), Andere bezeichnen ihn als „Baum des Gehenkten“ oder auch als „Lebensbaum“. Wieder Andere behaupten, es gäbe keinen geeigneteren Ort auf der Welt, um fliegende Untertassen zu beobachten; auch würden hier Hexen und Zauberer ihr Unwesen treiben.

Der Cerro Seco ist ein kahler, narbiger Hügelrücken voll blonden Grases, geschwürartiger Kiesgruben und Steinbrüche. Man sagt dem Taxifahrer im Stadtzentrum von Bogotá, man wolle zu den Canchas Dobles im Barrio Potosí. Der Taxifahrer wird dort nicht gern warten oder sein Fahrzeug zumindest zwischen den Mauern der niedrigen, selbst gezimmerten Behausungen verbergen wollen, damit es keine Aufmerksamkeit erregt. Das Viertel liegt im fernen Süden der Neun-Millionen-Metropole Bogotá, in der Zone der riesigen, zum großen Teil ungeplant errichteten, Ciudad Bolívar, die von Opfern des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts in Kolumbien besiedelt wird. Paramilitärs, korrupte Unternehmen und Banden halten hier viele der Entrechteten und Geflohenen in einem Würgegriff aus Angst, ökonomischer Abhängigkeit und sozialer Isolation wie in der Schlinge eines Galgens. Die Menschen aber haben nie aufgegeben. Sie haben in der Schlinge gestrampelt und sich herausgekämpft: Im Dezember 2023 konnten sie mit der Ernennung zum Kulturerbe durch das IDPC einen wichtigen Schritt auf dem Weg ins Licht der Öffentlichkeit feiern.

Im Umkreis von Kilometern scheint es in diesem Teil der Stadt nur einen einzigen Baum zu geben: Jenen alten Eukalyptusbaum mit charakteristischer, dreieckiger Silhouette vor einem wolkenzerfetzten Himmelszelt, welches sich unglaublich weit zu spannen scheint, von blauer Ferne links in blaue Ferne rechts, hier, mehr als 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Keine*r der entwurzelten Bewohner*innen unterhalb seiner Äste hat je einen Tag im Leben verbracht, ohne dass es diesen Baum gab. Keine*r einen Tag, ohne ihn bewusst oder unbewusst gesehen zu haben, versichert mir Lorena Montes, die gerade mit anderen Sozialarbeiter*innen in der Nachbarschafts­hilfe im Barrio Potosí ein Dach neu errichtet hat. Als Fixpunkt ist der Baum „allgegenwärtig wie der Geist von Großeltern. Er mahnt und erdet, als wolle er in Erinnerung rufen, dass alles aus der Natur kommt und dahin strebt”, erklärt Lorena. Nachdenklich fügt sie hinzu: „Jeden Morgen, wenn ich aufwache, geht mein Blick als erstes zu ihm und ich bin erleichtert, wenn er noch da ist – das war zuletzt keine Selbstverständlichkeit!“ Diese unmittelbare Zuneigung zu dem Baum, so als sei er ein Mitmensch, mag Uneingeweihte zunächst verwundern. Denn die Geschichten, die über den gespenstisch hageren, schwarzbelaubten Baum auf dem Cerro Seco kursieren, sind oft düster, geheimnisvoll, schrecklich.

Der wohl mindestens hundertjährige Baum mit dem Namen Palo del Ahorcado soll seit 1938 Pilgerstätte von Selbstmörder*innen, Verzweifelten, vom Teufel Besessenen und Verfolgten gewesen sein. „Höllenhunde“ – in Wahrheit dürften es ganz gewöhnliche streunende Hunde gewesen sein, die nachts aufgeschreckt wurden – kündigten etwa den Tod des exkommunizierten Ehebrechers Pablo an und einige Zeit später baumelte seine Geliebte Ernestina leblos an einem Ast. Mit der Ausdehnung der Stadt folgten weitere Todesfälle. Zuletzt, im Februar 2023, fand man nahebei die zerstückelte Leiche eines Jugendlichen namens Brayner Stiven Asprilla.

Das „Trotzdem“ vereint

Als Lorenas Mutter Blanca Luz Rosas de Montes in den 1980ern, vertrieben aus dem gewaltgeschüttelten Departamento Caquetá nach Ciudad Bolívar kam, war sie wie so viele Andere auf der Suche nach einem Leben in Frieden. Viele der Anwohner*innen kamen zu dem Baum, um Drachen steigen zu lassen oder einfach frische Luft zu atmen.

Mit der Zeit entwickelte sich der Brauch einer Karfreitagsprozession, die jährlich anwachsend und inzwischen viele Tausend Menschen zählend, hinaufführt zum Eukalyptus. Es ist der Glaube, es ist auch ein „Trotzdem“, dass die Pilgernden auf ihrem Weg vereint. Direkt am Fuße des Baumes legen sie Kreuze, Rosenkränze, Amulette, Bittgesuche ab, beten und errichten unweit ein großes Holzkreuz. Man spricht miteinander, plant die Zukunft und es entsteht eine Gemeinschaft, in der sich gegenseitig hilft, wer kurz zuvor noch fremd war.

Zerzaust, angegriffen und hager Der Eukalyptusbaum Palo del Ahorcado blickt vom Cerro Seco aus über Ciudad Bolívar (Foto: Ingolf Bruckner)

Ein Baum aber, der sein dämonisches Image verliert und stattdessen Menschen in ihrer Hoffnung und ihren Zielen vereint, ist ein Stachel. Ein Stachel für Immobilien-, Sand- und Kiesgruben­-unternehmen, die den Cerro Seco jahrzehntelang ausgebeutet haben und unter Ausschluss der Öffentlichkeit ohne Rücksicht auf die Natur illegal weiter ausbeuten möchten; für Politiker*innen, die die Nöte der unterprivilegierten Stadtviertel und deren Bedarf an Infrastruktur und Daseinsvorsorge ignorieren, und für Drogenbanden, denen das Vergessen, das Schweigen und die Unter- und Fehlentwicklung in die Hand spielt.

„Unsere Gegner denken, mit dem Symbol würde auch unsere *Solidarität enden“


Lorena erklärt, man habe versucht, den Baum zu verbrennen, abzusägen, umzuhauen und zuletzt sogar, ihn zu vergiften. Sie zeigt auf die Wurzeln des Baumes – eine musste sogar entfernt werden, um ihn zu retten. „Unsere Gegner denken, wenn dieses Symbol der Gemeinschaft, des Umweltschutzes und des Widerstandes erst weg wäre, dann würde auch unsere Solidarität enden, dann könnten sie weiter das Ökosystem, die natürlichen Wasserläufe, die Orchideen und anderen Pflanzen zerstören, mühsam gebaute Wege und Straßen mit ihren volquetas (Schwertransportern) zerfurchen und unser letztes Erholungsgebiet zunichtemachen.“

Sie berichtet von Kämpfen und Erfolgen. 2015 etwa kam es zum offenen Konflikt, weil Sicherheitsleute der Kiesgrubenfirma die Karfreitagsprozession nicht durchlassen wollten. Als eine volqueta die Nachbarin Doña Yineth, eine mehrfache Mutter, überfuhr, errichteten Anwohner*innen Blockaden an den Zufahrtswegen der Sand- und Kiesunternehmen. Waren Bittgesuche an die Politik zunächst ungehört geblieben, schwoll die Stimme der Menschen aus dem Viertel immer mehr an und schließlich stieß man den Prozess an, den Cerro Seco mit dem Palo del Ahorcado zum Kulturerbe der Stadt Bogotá zu erklären.

Im Dezember 2023 kam schließlich der Durchbruch! Mit dem frisch errungenen Status des kulturellen Erbes ist der Weg zum Schutz des Symbols der Gemeinschaft und der Umwelt gestärkt. Das Erbe von Lorenas Mutter und anderen Aktivist*innen aus der Nachbarschaft, die längst nicht mehr leben, ist gesichert.

Lorena zeigt Mappen mit Fotos aus vier Jahrzehnten. Vergilbte und neue. Schwierige Anfänge. Gemeinsame Arbeit. Gemeinsame Proteste. Gemeinsame Feste. Organisationen wie die Fundación Blanca Luz, die nach Lorenas Mutter benannt ist, widmen sich der Verbesserung der Gemeindeinstitutionen. Heute gibt es Kindergärten, eine Volkshochschule, in der Erwachsene Lesen und Schreiben lernen können, einen Abendabiturkurs, eine Schneiderei, eine Tanzschule, die von Don Héctor betreute Gemeindebibliothek, eine Schule für Gründerinnen von Kleinunternehmen, Lehrgänge zur Selbstfürsorge und Selbsthilfe, Stadtgärten zur Selbstversorgung mit Gemüse und ein Kollektiv für humane Stadtentwicklung, Zivilschutz und Schutz des Cerro Seco. Aus seinem dürren Boden sprießen Ideen und Projekte wie frische Blumen. Keine Erosion mehr. Und keine Illusion. Die Wurzeln des Palo del Ahorcado halten fest.

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