DREI TODE FÜR GERECHTIGKEIT

Nicht vergessen Aktivist*innen erheben ihre Stimme für Rubi und Marisela. Illustration: Vásquez, F. (2020). Instagram: @frifritura

Zunächst galten sie als „die verschwundenen“, schnell aber als „die ermordeten Frauen von Ciudad Juárez“: Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre hatte die Stadt an der US-amerikanischen Grenze den Ruf, weltweit die tödlichste Gegend für Frauen zu sein. Auch der Begriff „Feminicidio“ wurde in diesem Kontext geprägt. Noch heute ist Ciudad Juárez vor Tijuana und Monterrey die gefährlichste Stadt in ganz Mexiko – und das unabhängig davon, welche Regierungspartei an der Macht oder wer Gouverneur des Bundestaats Chihuahua ist, welche neuen Gesetze verabschiedet oder welche auf die Sicherheit von Mädchen und Frauen spezialisierten Institutionen ins Leben gerufen werden.

Im ganzen Land werden im Durchschnitt jeden Tag zehn Frauen ermordet, davon werden nur drei Fälle offiziell als Feminizid gezählt (seit 2012 Strafbestand in Mexiko). Es sind ungeheuerliche Zahlen. Hinter dieser kalten Statistik verbergen sich tausende Schicksale. Eines dieser Schicksale macht nun die von Vice und Scorpio produzierte und auf den Ermittlungen der Journalistin Karla Casillas Bermúdez basierende Dokumentation „Die drei Tode der Marisela Escobedo“ sichtbar, die auf Netflix gestreamt wird.

„Die drei Tode der Marisela Escobedo“ erzählt von der gleichnamigen Aktivistin aus Ciudad Juárez: 2008 wird deren 16-jährige Tochter Rubí Marisol Fraire Escobedo von Rubís Lebensgefährten und Vater ihrer Tochter ermordet – Mariselas erster Tod. Vor Gericht wird der mutmaßliche Mörder trotz erdrückender Beweislast freigesprochen – der zweite Tod. Der dritte ist, am 16. Dezember 2010 der Mord an Marisela Escobedo Ortiz selbst, mutmaßlich durch die Hand des Bruders des Mannes, der ihre Tochter umgebracht hatte.

„Ich habe keine Angst mehr“, sagt die Aktivistin zu Beginn der Dokumentation auf einer alten Videoaufnahme. „Nicht vor dem Tod, und der ist das Schlimmste, was mir passieren kann. Ich habe mich mit den Behörden und dem Gouverneur angelegt, mit allem und jedem.“ Marisela, das ist klar, hatte sich keine Illusionen gemacht: Sie wusste, wohin sie ihr Kampf für ein bisschen mehr Gerechtigkeit in einem Land wie Mexiko bringen würde.

Ihren Anfang nimmt die tragische Geschichte der Familie Escobedo, als sich im Jahr 2005 die damals 13-jährige Rubí in einen acht Jahre älteren Mann verliebt, der sie gekonnt von der Familie isoliert und mit dem sie später ein Kind hat. 2008 ist Rubí wie vom Erdboden verschluckt. Ihr Freund behauptet, sie habe ihn für einen anderen verlassen, doch Rubís Mutter Marisela und ihre Geschwister glauben nicht daran. Zu Recht: Ein Jahr später werden nach der Aussage eines Zeugens die verbrannten Überreste von Rubí auf einer Mülldeponie am Rande von Ciudad Juárez gefunden.

Ihr Mörder aber wird vor Gericht freigesprochen und taucht unter. Marisela Escobedo setzt alles daran zu verhindern, dass ihre Tochter mehr als nur eine weitere Zahl in der Statistik wird. Sie will Gerechtigkeit für sie und dafür sorgen, dass andere Mädchen und Frauen nicht das gleiche Schicksal ereilt. Marisela organisiert Demonstrationen und Protestmärsche durch das halbe Land. Ihr gelingt es, überregional große Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu ziehen. Viele solidarisieren sich mit ihr. Und dann fordert sie die Mächtigsten heraus, bemüht sich um ein Gespräch mit dem damaligen Präsidenten Felipe Calderón und kampiert vor dem Regierungspalast ihres Bundesstaates, wo Javier Duarte, von 2010 bis 2016 Gouverneur von Chihuahua (und heute wegen Korruption, Geldwäsche und Beteiligung an einer kriminellen Organisation hinter Gittern), gerade sein Amt aufgenommen hat.

Wahrscheinlich ihr Todesurteil, wie Mariselas Sohn, Juan in der Doku sagt. „Wenn man die Fehler der Regierung und des Systems aufdeckt und die Verbindung zwischen der Regierung und den Kartellen, ist man in Lebensgefahr.“ Auch Gabino Gómez, ein Anwalt der Familie Escobedo, ist davon überzeugt: „Marisela unterschieb ihr eigenes Todesurteil, als sie die Aussage im Büro des leitenden Staatsanwaltes machte. Ich glaube, das war der Moment, als man entschied, sie auszuschalten und ihr Wissen mit ihr zu begraben.“

Auch wenn „Die drei Tode der Marisela Escobedo“ auf dem momentanen Höhepunkt des True-Crime-Fiebers veröffentlicht wurde, folgt die Doku, unaufgeregt und aus der Perspektive der Angehörigen erzählt, einem anderen Muster. Zwar steht ebenfalls ein Mord – beziehungsweise zwei – im Mittelpunkt. „Marisela Escobedo“ dient aber nicht der Unterhaltung der Zuschauer*innen, die sich sicher zu Hause einkuscheln und schaurig-schön mit echten Kriminalfällen berieseln lassen, sondern bewirkt gleich zweierlei: Die Dokumentation gibt dem Schicksal einer Familie ein Gesicht, das dem Schicksal so vieler anderer Familien in ganz Mexiko ähnelt. Dabei transportiert der Film eine weitere Botschaft: „Die drei Tode der Marisela Escobedo“ zeigt die strukturelle Gewalt, die hinter den Morden an Rubí und Marisela steht, das Zusammenspiel von Feminiziden, Kartellen und Politiker*innen, die wegschauen, für Straflosigkeit sorgen oder im schlimmsten Fall sogar selbst involviert sind.

Zehn Jahre nach dem Mord an Marisela hat sich in Mexiko nichts verbessert. Über 97 Prozent der Feminizide bleiben ohne Strafe, auch die Fälle von Rubí und Marisela sind ad acta gelegt. Öffentlich auf dieses Thema aufmerksam zu machen, ist also nach wie vor von enormer Bedeutung (siehe LN-Dossier 18 ¡Vivas nos queremos!). Denn, wie die Doku weiß: „Es gibt noch immer viele Mädchen wie Rubí überall im Land.“ Mädchen und Frauen, die Tag für Tag spurlos verschwinden oder ermordet werden. Alles verloren also? Nein. Am Schluss macht die Dokumentation ein wenig Hoffnung dank der „vielen Mariselas, die jeden Tag für Gerechtigkeit auf die Straße gehen“. Auch wenn Marisela Escobedo für ihren Aktivismus mit dem Leben bezahlen musste, ist sie einer der Funken, der andere Frauen dazu bewegt, sich laut und mutig zu engagieren.

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